Produktdetails
  • Verlag: Kowalke
  • ISBN-13: 9783932191084
  • ISBN-10: 3932191080
  • Artikelnr.: 24151594
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Siegfried Stadlers Rezension beginnt mit einem Rückblick auf Ulrich Plenzdorfs "Die Leiden des jungen W.", den er als berühmtesten Aussteiger der DDR-Literatur bezeichnet. Dann lernen wir Wiesinger kennen, auch Aussteiger, DDR-Dissident und etwas schrulliger Friedhofsarbeiter. Stadler berichtet allerlei Details aus Wiesingers Leben, dass irgendwo in der Grauzone zwischen Fakt und Fiktion verläuft. Die DDR Geschichte spult sich leicht schematisch und klischeehaft noch einmal vor unseren Augen ab. Wir treffen sogar ein paar alte Bekannte wie Robert Havemann oder Stephan Krawczyk. Der Rezensent moniert noch den betulichen Ton des Autors. Dann hat er das Buch schon wieder zur Seite gelegt.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2000

Im Untergrund der Urnen
Wie man aus der DDR ausstieg: Jens Wonnebergers "Wiesinger"

Der bekannteste Aussteiger der DDR-Literatur hieß Edgar Wibeau, der kurz nach Honeckers Machtantritt die Lehre hinschmiss und sich in eine Gartenlaube zurückzog. Dort sang er eine Hymne auf die Jeans, die es in der DDR nicht gab, verliebte sich wie Goethes Werther unglücklich und kam beim Basteln an einem Neuerervorschlag (Sprühdose) auf tragische Weise (Stromschlag) ums Leben. Das war 1973, als Ulrich Plenzdorf mit den "Neuen Leiden des jungen W." einen Bestseller landete. Damals ging Wiesinger, ein anderer Aussteiger, an den jetzt der Dresdner Autor Jens Wonneberger erinnert, noch zur Schule, wo er einer der Besten war. Nichts stand seinem Wunsch, einmal Medizin zu studieren, im Wege.

Allerdings begab sich im Sommer dreiundsiebzig eine Episode, die in eine andere Richtung deutete. Wiesinger hatte seinen Schulfreund zu nächtlicher Stunde auf den Friedhof geführt, um ihn mit einem Schädel zu erschrecken, den er aus einer Gruft holte. Nicht dieser Streich war das Bemerkenswerte, sondern die Tatsache, dass sich der Musterschüler auf dem Friedhof gut auskannte. Er sollte zu seinem Arbeitsplatz werden. Denn jählings ging Wiesingers Medizinstudium zu Ende, als er sich, wie alle wehrdiensttauglichen Studenten der Honecker-Zeit, dazu verpflichten musste, der Nationalen Volksarmee als Reserveoffizier zur Verfügung zu stehen. Andere unterschrieben diesen Bekenntnispakt. Nicht so Wiesinger, für den daraufhin nach dem vierten Semester Schluss war. Zurückgekehrt ins heimatliche Plottnitz, wie die fiktive sächsische Kleinstadt im Roman heißt, entschied der exmatrikulierte Student, dass sein Platz im Leben künftig bei den Toten sei. Ganz Plottnitz spottete über den gefallenen Sohn des örtlichen Apothekers. "Sieh an, der Herr Jesus selbst hebt die Grube aus", sagte man vom neuen Totengräber mit den langen Haaren und dem "verwilderten Vollbart". Es gibt noch eine andere Ähnlichkeit: die mit dem Autor, der auf einem Porträtfoto des Verlages mit einem Rauschebart und langen Haaren abgelichtet ist.

Wiesinger schrieb ohne Aussicht auf Veröffentlichung. In seinem Friedhofskontor bewahrte er in Urnen Untergrundzeitungen wie "Grenzfall" oder die "Umweltblätter" auf. Aus seinem Vornamen Boris bildete er das Pseudonym Sir Bo. Einige seiner Werke trug er bei einer Gedenknacht in der Friedhofskapelle vor, mit der er sich der Friedensbewegung anzuschließen gedachte. Am Havemann-Begräbnis in Berlin nahm er als Dienstreisender teil, angeblich, um das Bestattungswesen in der Hauptstadt zu erkunden. Zu einem Höhepunkt der vom Friedhof ausgehenden Plottnitzer Oppositionsbewegung wurde die Unterschriftensammlung für den inhaftierten Liedermacher Stephan Krawczyk, die ein niederschmetterndes Ergebnis zeitigte, aber zu den eindrucksvollsten Episoden des Buches gehört, das Zeitgeschichte aus der Perspektive ihrer "Laufburschen" erinnert.

Als die friedliche Revolution Plottnitz erreichte, gingen alle auf die Straße, aber Wiesinger nicht. Am Revers seiner Arbeitsjacke trug der Kauz, für den ihn die Plottnitzer immer gehalten hatten, eines der Porzellanschildchen mit der Aufschrift "Verfallen", wie sie zur Kennzeichnung bestimmter Gräber dienen. "Er ist dabei, sein Leben wegzuschmeißen", hatte Wiesingers Vater schon zu DDR-Zeiten über seinen Sohn gesagt. Diese Prophezeiung erfüllte sich nach der Wende, denn die einzige Qualifikation, über die Wiesinger verfügte, war die des Aussteigers. Er stellte seine alte Schreibmaschine weg. Mit einer Mercedes könne man vielleicht gegen eine Diktatur bestehen, "aber gegen einen echten Mercedes bist du machtlos", gab er seinem alten Schulfreund mit auf den Weg, ehe er entschwand. Und: Man müsste das alles mal aufschreiben.

Dieser Pflicht hat sich der Freund mit dem vorliegenden Buch entledigt. Der Freund des Außenseiters frönt freilich einer altväterlichen Sprache. "Es ist an der Zeit, von einer Episode zu berichten", liest man, oder: "nachzufragen wäre noch". Man vermutet eine stilistische Maskerade, doch wird dahinter kein zweites oder das wahre Gesicht des Freundes kenntlich, der sich als getreulicher Chronist und einfühlsamer Nachrufschreiber erweist. Aber leider auch als betulicher Erzähler.

SIEGFRIED STADLER

Jens Wonneberger: "Wiesinger". Roman. Kowalke & Co. Verlag, Berlin 1999. 249 S., geb., 39,- DM.

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