Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170546
  • ISBN-10: 3932170547
  • Artikelnr.: 10637153
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2003

Metakünstler
Thomas Raab experimentiert
mit Pawlowschen Kojotinnen
„Ich kenne so viele Künstler, weißt du, sagt A, und die haben nicht die geringste Ahnung, was machen. Sie stümpern also herum, quasi, sagt A zum Kollegen Y. Und das unterscheidet sie letztlich von uns, sagt A, denn würden sie wissen, was sie tun, was also Kreativität ist, hätten sie sich selbst geheilt und wären also Ärzte so wie wir.” Der hier sprechende Psychiater A sieht sich als „Metakünstler” und arbeitet heimlich an literarischen Texten, die er in einer Schublade versteckt. Thomas Raabs Debüt „Verhalten” beschreibt nicht nur die Unschärfen, die zwischen Psychiatrie, Wahnsinn und Literatur auftreten – der Roman ist selbst eine literarische Versuchsanordnung mit verblüffenden formalen Ergebnissen.
Ausgangspunkt ist ein Ereignis, das tatsächlich vor einigen Jahren in Wien stattgefunden hat: Eine Frau, verheiratet mit einem bekannten Psychiater, wirft ihre beiden Kinder aus dem vierten Stock. Anstatt die Figuren zu individualisieren, verwandelt der 1968 geborene Kognitionsforscher und Schriftsteller Thomas Raab seine Protagonisten in Prototypen, deren Trennung einen unendlichen Sermon freisetzt. Die Rituale der gescheiterten Ehe, die der Psychiater A und seine Frau O in bühnenreifen Dialogen inszenieren, bringen die Ausweglosigkeit ihrer Situation auf den Punkt. Nachdem O die Kinder mitgenommen hat, die Kreditkarte gesperrt und das Entmündigungsverfahren angelaufen ist, schnappt die Falle zu. Nach ihrer Tat – „weibliche Rollenprobleme in hochtechnisierten Gesellschaften, Kinder als weiblicher Fetisch” leiert der Stationsarzt herunter – wird sie in die Anstalt Gugging gebracht und stirbt dort.
Kleine Hamsterin im Rad
Dieses „erste Hauptstück” des Romans stapelt, ähnlich wie die legospielenden Kinder von A und O, Zitatbausteine aufeinander, um den soziokulturellen Käfig der Protagonisten zu rekonstruieren. Neben den nüchternen und oft sogar komischen Einblicken in As und Os Alltag stößt man auf einen „Brief vom Vater”, Popsongs und einen Fragebogen für den aufmerksamen Leser. Urs Widmers Roman „Die Forschungsreise” und Oswald Wieners Automatenüberlegungen sind allgegenwärtig, und die medizinische Verweiskette reicht von Freud bis zum „Fall Schreber”, dem Paranoiker, dessen Entwürfe den Theorien des Meisters gefährlich nahe kamen.
Doch im zweiten Teil von „Verhalten” wechselt die Tonlage, und ein beinahe lyrisches Ich scheint eine Innenansicht auf die Gefühle Os freizugeben: „Wenn die Liebe nicht ist, werde ich verloren gewesen sein, eine kleine Hamsterin im Rad. Wenn die Liebe nicht ist, werde ich ausgespielt worden sein wie eine Karte.” Immer wieder taucht das Bild einer Kojotin auf, die sich im Kreis dreht und sich selbst zerfleischt. Das Ich kämpft um eine Form des Beschreibens, die dem Elend der Begriffe entgehen könnte. Die Denkfiguren der klassischen Moderne – „Herr Test” geistert durch die Monologe und erinnert an Paul Valérys „Monsieur Teste” – formulieren noch einmal das Unbehagen am Messen, Klassifizieren und Interpretieren.
Aber was nach authentischem Ringen um die eigene Sprache klingt, hat einen entscheidenden Haken: Das zweite Hauptstück von Thomas Raabs Roman ist mit einer Herausgeberfiktion versehen, die den Psychiater A zum Autor von Os intimen Wortwelten erklärt. Liest man also die Hobbyprosa des blasierten Metakünstlers? Die literarische Version seiner wahnsinnigen Frau, wie der Gatte und Arzt sie sich vorstellt? Darauf gibt es keine Antwort, denn „Verhalten” ist die trickreiche Beschreibung eines Kampfes, der nicht entschieden werden kann. Ob Literatur oder Psychiatrie, A oder O, Mord oder Totschlag – alles, auch der scheinbare Determinismus des Verhaltens, erweist sich als eine Frage der Perspektive.
JUTTA PERSON
THOMAS RAAB: Verhalten. Roman. Tropen Verlag, Köln 2002. 192 Seiten, 17, 80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2002

Zwangsjacke wie Hose
Vermischtes: Thomas Raabs Debüt erforscht das A und O der Seele

Der Weg in die Moderne kennt eine Abkürzung. Wenn Franz Kafka im "Schloß" seinen Landvermesser nur "K." nennt - sein Prozeßangeklagter hatte immerhin noch einen Vornamen -, ist damit ein Grad von Verallgemeinerung erreicht, der dieses absurde Schicksal zur Sache des modernen Menschen überhaupt macht. Das Verfahren der Anonymisierung stammt ursprünglich nicht aus der Literatur, sondern aus dem Journalismus. Eine Meldung im "Vermischten" war denn auch der authentische Fall wert, den Thomas Raab seinem Debütroman "Verhalten" zugrunde legt. Eine O genannte Frau wirft nach der Trennung von ihrem Mann A, einem bekannten Wiener Psychiater, ihre beiden Kinder aus dem Küchenfenster im vierten Stock und begeht anschließend Selbstmord. "Für eine Reportage in einem Wochenblatt wird's nicht gereicht haben." Für einen Roman dagegen schon.

Raab wurde 1968 in Graz geboren, er lebt als Kognitionsforscher, Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Mit diesen Orten ist zugleich das Koordinatensystem bezeichnet, in dem sich "Verhalten" bewegt. Urszenen, wohin man blickt: Graz, das ist die Wiege der österreichischen experimentellen Literatur, Wien die Bühne, auf der das Drama moderner Seelenforschung erstaufgeführt und seitdem immer wieder aufgenommen worden ist. Nach Raabs Buch handelt es sich dabei um eine Tragödie, in der Individualität und ein Allgemeines, Menschen und Theorien aufeinanderprallen. Wer da unter die Räder kommt, ist klar.

"Es ist ein Tag im Herbst oder im Oktober in einer Stadt, die genau jetzt Wien genannt wird": Man kann den ersten Teil des Romans, in dem die Wochen nach der Trennung von A und O erzählt werden, als eine Parodie auf die Sprache der experimentellen Psychologie und Verhaltensforschung lesen, in der Säuglingssterblichkeit, Gesamtfruchtbarkeitsrate oder die Luftfeuchtigkeit die Experimentalanordnung definieren, in der das fatale Scheitern einer Beziehung in wissenschaftlicher Kühle beschrieben wird. Vorgeführt wird eine konsequente Außensicht, eine Beschränkung auf das Beobachtbare nach dem Muster des Behaviourismus. Interessant ist der ständige Wechsel der Beschreibungsdichte, bildtechnisch gesprochen: der Auflösung, etwa so, als würde man bei einem Objektiv ständig die Brennweite ändern.

So liest man abwechselnd von Dingen, die bis zur Banalität allgemein oder sinnlos spezifiziert sind. Ein klärendes Gespräch zwischen den Ehepartnern etwa bleibt reine Phrasendrescherei, in die Raab konsequenterweise als Kaffeehausmusik Popsongs montiert: "Es haben halt alle Gefühle, sagt O, da kann man nichts machen. Davon lebe ich, sagt A, daß man da nichts machen kann. Oh, sagt O, oh." Andererseits erfährt man, daß A, der sich eigentlich als Künstler versteht, für seinen Kugelschreiber "im Papiergeschäft auf dem Fleischmarkt" 149 Schilling bezahlt hat und im Büro während seiner schriftstellerischen Versuche "Scotch der Marke Johnny Walker, Produktspezifikation Black Label" trinkt.

Raab beweist einige Virtuosität darin, trotz des durchgängigen Konzeptualismus seine Figuren plastisch werden zu lassen. Die Einbildungskraft des Lesers stellt nun einmal unweigerlich Individuen vor Augen, deren Biographien Raab beiläufig erzählt: etwa die von Os Vater Franz, der die Entmündigung seiner vermeintlich aus der Art geschlagenen Tochter (und damit die Wegnahme der Kinder) betreibt: A sei, so der Vater, "von Berufs wegen geeignet, sich wohlausgewogene Urteile zu gestatten". Zugleich legt Raab ein dichtes Netz aus literarischen Verweisen, neben Kafkas "Schloß" und dem "Brief an den Vater", Bachmanns "Malina" vor allem Urs Widmers Roman "Forschungsreise", den jede Figur zumindest gelesen, wenn nicht gar (wie O) literaturwissenschaftlich bearbeitet hat.

Der zweite Teil wechselt in die Innenperspektive Os nach ihrer Einlieferung in die Anstalt und damit zugleich in einen ganz anderen, poetisierenden Tonfall, der ihre Wahnwelt bis in die tödliche Flucht in die eiskalte Nacht abzubilden versucht: "Das mußte so kommen, sagen sie in den Kitteln, den lachhaften Panzern aus Sprache und Stoff. Und die Hüften, sie spüren die Hände jetzt kreisen, die andere Seite des verstümmelten Fischs. Der Schnee, er schmilzt nicht. Ich hab keine Kraft hier. Dort warten die Henker und fragen nach mehr." Auf die ungeheuerliche Tat, die Tötung der eigenen Kinder, kann die Umgebung nur mit Sprachlosigkeit, die Wissenschaft nur mit ihren Erklärungsroutinen reagieren, die den Einzelfall in Begriffsschutt begraben. Im Sprachspiel der Poesie dagegen wird die Kindstötung als Konsequenz sichtbar, deren Logik keine allgemeine ist - als Tat einer "Koyotin", die in Not ihre eigenen Jungen frißt, oder einer mythischen Medea.

Sosehr man dies nun im einzelnen loben wollte - insgesamt leidet der Roman unter einem Konstruktionsfehler. Je sprachkräftiger und soghafter das Wahnsystem in irre tänzelnden Daktylen daherkommt, desto unwahrscheinlicher wird es. Denn die Aufzeichnungen der Wahnsinnigen werden mit einer merkwürdigen Herausgeberfiktion (die Oberschwester hat das Manuskript in der Schreibtischschublade As gefunden und einer Literaturzeitschrift angeboten) dem Ehemann zugeschrieben. Es ist also gar nicht Os Wahnwelt, die hier geschildert wird, sondern deren Konstruktion aus der Sicht eines schriftstellernden Psychiaters, der auch noch seinen eigenen Anteil an der Entwicklung hat. Will Raab damit einen weiteren Beweis für das feministische Klischee liefern, daß die Frau keine eigene Stimme hat? Will er gar damit seine eigene Position als Autor untergraben, der ja auch nur nachträglich ein inneres Geschehen in die Zwangsjacke seiner Sätze preßt?

Diese weitere Drehung der Reflexionsschraube läßt das strapazierte Gewinde endgültig brechen. As Entwicklung vom umschwärmten Karrieristen zum einfühlsamen Schriftsteller ist nicht nachvollziehbar, und damit geht das ganze Spiel um literarische Autor-, Vater- und Patenschaften nicht mehr restlos auf. Dieser Mangel ist um so bedauerlicher, als Raabs Debüt bezeugt, daß wissenschaftliche und literarische Stoffe unter Laborbedingungen durchaus explosiv miteinander reagieren können.

RICHARD KÄMMERLINGS.

Thomas Raab: "Verhalten". Roman. Tropen Verlag, Köln 2002. 184 S., geb., 17,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ausgangspunkt dieser "literarischen Versuchsanordnung mit verblüffenden formalen Ergebnissen", erklärt Jutta Person, sei ein authentischer Vorfall in Wien: die getrennt lebende Ehefrau eines Psychiaters warf ihre beiden Kinder aus dem vierten Stock. Der 1968 geborene Autor, im Hauptberuf Kognitionsforscher, verwandelt nun seine Protagonisten, das Ehepaar A. und O., in Prototypen, so Person, die in bühnenreifen Dialogen die Rituale einer gescheiterten Ehe exerzierten. Wie ein Legokasten voller Zitatbausteine kommt Person dieser erste Teil des Romans vor, der im zweiten brachial die Tonlage wechselt und scheinbar auf die Innenperspektive der Frau umschwenkt und ein beinahe lyrisches Ich freisetze. Allerdings ist dieser zweite Teil mit einer Herausgeberfiktion versehen, berichtet Person, die den Psychiater zum Autor dieser intimen Zeilen erklärt. Geschickt laviere der Autor damit an der Grenze zwischen Wahnsinn, Psychiatrie und Literatur; wer gerade spricht, wer aufrichtig spricht, darauf gebe es keine Antwort und könne es in der Logik dieser Versuchsanordnung auch keine geben, bescheidet die Rezensentin.

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