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Produktdetails
  • Balázs, Béla, Ausgewählte literarische Werke in Einzelausgaben 1
  • Verlag: Das Arsenal
  • Seitenzahl: 376
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm x 125mm
  • Gewicht: 440g
  • ISBN-13: 9783931109196
  • ISBN-10: 3931109194
  • Artikelnr.: 10061623
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2001

Lichtspiele ohne Leinwand
Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs erzählt seine Jugend · Von Felicitas von Lovenberg

Warum setzt sich ein 1884 geborener Ungar im Alter von sechsundfünfzig Jahren, also 1940, hin und schreibt die Geschichte seiner Jugend auf? Tut er dies etwa, weil er sich gerade im Moskauer Exil befindet, der Krieg also nicht weit ist und er sich beim Schreiben zurückkatapultieren möchte in jene heile, ferne Welt der Kindheit, oder weil er Jude ist und Sohn einer deutschen Mutter, auf der Suche nach einem Ideal und einer Identität erst Kommunist und dann Filmtheoretiker wurde und sich doch als Junge nichts sehnlicher gewünscht hatte, als in Gedichten der ungarischen Volksseele zu huldigen? Hält er seine Kindheit für außerordentlich sprechend, exemplarisch gar für eine längst vergangene Ära? Will er ein geschichtliches Lehrstück schreiben oder einfach nur der Verlockung nachgeben, der Vergangenheit nachträglich einen inzwischen gefundenen Sinn überzustülpen? Die Antwort ist einfacher, das Vorhaben aber komplizierter. Béla Balázs jedenfalls begründet seine Niederschrift der "Jugend eines Träumers" mit der Erschütterung über seine Biographie, die viel zu lange ohne Biographen verlief: "Man lebt vor sich hin und merkt plötzlich, daß das Ganze ein deutliches und sinnvolles Gebilde werden will, wie eine Melodie. Dann hält man inne und sieht sich nach dem Anfang um. Und längst Vergessenes steigt aus dem Nebel . . ."

So eröffnet Balázs ein Panorama des ungarischen Teils der österreichischen Doppelmonarchie aus der Sicht eines Heranwachsenden in der Provinz. Lötsche, heute Levoca in der Slowakei, um 1890: Das neunzehnte Jahrhundert, das erst 1914 zu Ende gehen wird, steht in voller Blüte. Der gerade Sechsjährige weiß nichts von umstürzlerischen Gedanken oder Aktionen, nichts von politischen oder sozialen Konflikten des Vielvölkerstaats. Alles dreht sich um Erlebnisse in der Schule, um Freundschaften, die wachsen und zerbrechen, Eifersüchteleien, um erste, versteckte Liebe, um die bewunderten älteren Schüler und Studenten, um sportliche Ertüchtigung. In dem, was das Kind als unzusammenhängend und zufällig erlebte, erkennt der erwachsene Mann später einen klaren Weg zum Wort.

Dabei erlebt er erst Jahre später, als er erste Erfolge mit Gedichten hat und einige im "Szegeder Boten" abgedruckt werden sollen, seine eigentliche Geburtsstunde. Herbert Bauer - so ein deutscher Name paßt nicht zu einem ungarischen Dichter. Ratlosigkeit. "Ich war einverstanden, konnte aber keinen Namen vorschlagen. ,Béla Balázs', sagte gähnend der junge Mann auf der Bank. ,Gut. Ist noch dazu eine Alliteration und steht ziemlich weit vorne im Alphabet. Hat auch seine Vorteile.'"

Diese erste deutsche Ausgabe von Balázs' "Jugend eines Träumers" seit der Erstveröffentlichung in Wien 1947 bildet den Auftakt zu einer fünfbändigen Werkausgabe, die nicht den Filmtheoretiker, sondern den Literaten Balázs entdecken will. Eine reizvolle Aussicht - wenn auch gleich gesagt werden muß, daß Balázs' Welt eine vollkommen andere ist als jene Sándor Márais', der letzten ungarischen "Wiederentdeckung" aus jener Epoche.

Dem ungarisch-deutschen Juden und späteren romantischen Kommunisten war seine Laufbahn zwar nicht an der Wiege gesungen, doch ein Ohrwurm bereits in der frühen Schulzeit. In Lötsche fällt es ihm, dem ältesten Sohn des angesehenen Akademikers Simon Bauer, leicht, aus der Klasse hervorzustechen. Als der Vater 1897 stirbt, zieht die Mutter mit ihren drei Kindern zurück nach Szeged, jener südungarischen Stadt am Rand der Puszta, in der Herbert geboren wurde. Prompt hat der nur mehr Verachtung für den einst so geliebten Ort übrig. "Ich wollte nichts mehr von Lötsche sehen, von der toten Stadt . . . Mich rief meine Heimat, die weite ungarische Tiefebene, das Alföld, die Puszta, die ich noch nie gesehen hatte und die ich doch so gut kannte in meinem Herzen: die Landschaft der Petöfi-Gedichte." Hier ist er zu spüren, jener ungarische Furor, der fortan in den Beschreibungen immer mehr an Kraft und Raum gewinnt.

Bei seiner Rückkehr nach Szeged, ans Ufer der Tisza ist Herbert dreizehn Jahre, im richtigen Alter für erste Freundschaften, die als exklusiv und bindend empfunden werden, und für die erste Anbetung. Laci heißt sein grobschlächtiger, doch feinsinniger "einziger wahrer Freund"; Agathe das Mädchen, um derentwillen Herbert ein Besserer sein möchte, musischer, begabter - und der er vorlügt, Gedichte zu schreiben, die er schließlich auch einmal liefern muß. So unbeholfen kann die Berufung ihren Anfang nehmen.

Auch in der Pubertät noch hat der Junge immer das Gefühl, in einer magischen Welt voller Geheimnisse zu leben, wo Licht und Finsternis ihren steten Kampf austragen. Seine Wahnvorstellungen, denen er mit zauberischen Ritualen die Kraft zu nehmen versucht, bringen es mit sich, daß er den Menschen um so hemmungsloser vertraut - was manche Enttäuschungen mit sich bringt. Doch werden die Angstträume zusehends abgelöst von Wunschvorstellungen. "Ich war so berühmt, daß mich jeder Mensch erkannte . . . man kannte mich - und dies war das Wesentliche - als den Dichter, der die Herzen der Menschen versteht und liebt."

Das Besondere an Balázs' Jugendschilderung sind nicht die einzelnen Ereignisse, vielleicht nicht einmal ihre Stätten. Seine Beschreibungen versetzen den Leser nicht in Heiterkeit oder stimmen ihn wehmütig, sie machen auch nicht wütend oder erregt. Sie sind vielmehr so sehr Teil jener Landschaft, jenes Menschenschlags und jener Zeit, daß sie keiner Rechtfertigung oder Erklärung bedürfen. Es gibt kein Rätsel, das am Ende gelüftet würde, keine Katharsis, die der junge Held durchliefe - und dennoch versteht es Balázs mit der Fertigkeit jener, die in der deutschen Sprache nicht ganz zu Hause sind und sich darum bei der Wahl ihrer Worte äußerste Mühe geben, zum Träumen zu bringen. Zwar tun sich in seiner Erzählung immer wieder Abgründe auf, kennt sie durchaus Schwindelgefühle - und dennoch schwebt eine einzigartig sanfte Stimmung über allem. Es ist das matte, diffuse Licht Südungarns, die staubige Sonne über der Puszta, der herübergrüßende Turm der Szegeder Salamifabrik. Balázs' Geschichten und Beschreibungen atmen eine Ruhe und eine Kraft, die dem Autor selbst später abhanden kamen, als er sich immer mehr in den Widersprüchen seiner ästhetischen und politischen Ideale verhedderte. Doch der Kommunist Balázs, der 1949 in der kaukasischen Steppe von Alma Ata starb, der Freund von Béla Bartók und Gegennatur zu Georg Lukácz, der Naive, der sich so gern dem "Realismus" des Phantastischen hingeben wollte und dafür ausgelacht wurde, schuf mit seiner räumlich ausgreifenden, kraftvollen Schilderung einer ungewohnten Jugend etwas Einzigartiges: ein literarisches Cinemascope.

Béla Balázs: "Die Jugend eines Träumers". Autobiographischer Roman. Herausgegeben von Hanno Loewy. Verlag Das Arsenal, Berlin 2001. 376 S., br., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Kennern der Filmtheorie ist der 1884 in dem ungarischen Städtchen Szeged geborene und 1949 verstorbene Bela Balasz alias Herbert Bauer neben seinem Landsmann Georg Lukacs als bekennender Vertreter des Kinos, "der Volkskunst des 20. Jahrhunderts" und Verfasser des ersten umfassenden Entwurfs zur Ästhetik des Films, "Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films", erschienen 1924, ein Begriff. Seine Autobiografie "Die Jugend eines Träumers", 1947 in deutscher Sprache in Wien und Budapest erschienen, geriet hingegen in Vergessenheit, schreibt Rezensentin Veronika Rall. Der Verlag "Das Arsenal" hat sich nun vorgenommen, in einer fünfbändigen Reihe nicht nur den Filmkritiker Balasz, sondern auch den Literaten zu würdigen. Das Buch, der "programmatische Auftakt" der Reihe, verbindet, so Rall, Poesie und Kino und beschreibt das rastlose Leben eines Pendlers zwischen der ungarischen Steppe und den Weltstädten Europas, der seine Zugehörigkeit einzig in den bewegten Bildern des Kinos fand.

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