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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2002

Chom, lueg, blib da
Auch 1945 schön erhaben: Jean Paulhan besucht die Schweiz
Ein Maler, ein Schriftsteller, ein Architekt. Sie besichtigen ein Land und sind entzückt: „Ach, Seht mal diese hübschen Kinder! Und diese Heiterkeit! Was für Auslagen! Und da ein Schuhhändler! Eine Metzgerei! Ach! Und diese einzigartigen Automaten!”
Beim Schreiben hat sich das Entzücken des Schriftstellers in Spott verkehrt: Jean Paulhan, der, kaum maskiert, als Ich-Erzähler auftritt, amüsiert sich über die unversehrte Schweiz, dieses „Reservat für Lebensmittel und notwendige Dinge”, das er im Herbst 1945 zusammen mit seinen Kollegen Limérique und Auxionnax wie einen fremden Kontinent besuchen darf - wofür er dankbar ist, was ihn beschämt, weshalb er frech werden muss: „Das besagte Land ist besonders stolz auf seine Landschaften, und so wurde von uns erwartet, diese aufrichtig zu bewundern.” Paulhan tut es, erwähnt brav Seen und Bergspitzen und beschließt, „wenn ich die Gelegenheit hätte, zwischen Seen und Bergspitzen irgendeiner Feuersbrunst beizuwohnen, mir diese nicht entgehen zu lassen.”
Der Franzose will nicht trauern
Paulhan, dessen „Leitfaden einer kleinen Reise durch die Schweiz” zuerst 1947 erschien, ist ein ausgezeichneter Stilist, doch in Deutschland allenfalls als Literatur-Organisator bekannt. Was nicht ganz falsch ist. Auch als solcher war er wichtig: von 1920 bis 1940 und von 1953 bis 1958 leitete er die Nouvelle Revue Francaise, die durch ihre Publikationspolitik Autoren machte und sterben ließ. Auch die Klassiker- Ausgabe „Pléiade” stand lange unter seiner Leitung.
Paulhans Schweiz-Reise ist ein quasi- ethnologisches Unternehmen, als Reise in den Luxus der Normalität allerdings eines mit ungewöhnlichen Vorzeichen: Wofür die Wurzelbürste mit langem Stil im Zürcher Luxushotel „Baur au Lac” zu verwenden sei, für den Rücken oder die Wanne?, fragt sich der zivilisationsentwöhnte französische Nachkriegs-Barbar. Und er antwortet sich mit Taten: „Ich gebrauchte sie nacheinander für beides mit gleichem Erfolg, und meine Verlegenheit blieb mir erhalten.”
Beim Betrachten fremder Länder konnte sich Paulhan auf Erfahrungen stützen. Wenig bekannt ist, dass er, 1884 geboren, schon 1905 als Gymnasiallehrer nach Madagaskar ging. Dort blieb er länger als vorgesehen, zuerst als Goldsucher, dann auf einer Plantage, aber auch als Literatur- und Brauchtumsforscher. Paulhan lernt die Eingeborenen-Sprache und veröffentlicht 1913 in Paris die erste zweisprachige Auswahl mit haintenay, Gedichten, Sprüchen über die Liebe und mehr. Paulhan wurde Dozent für Madegassisch (malgache), dann Soldat, dann gemäßigter Surrealist.
Spätestens seit Montesquieus „Lettres persannes” verlangt der Blick auf fremde Länder auch den auf „das Eigene”. Paulhan sinniert über die damalige französische Depression. Psychiater meinten, das habe mit Sadomasochismus zu tun, erzählt Paulhan. Aber jedes Kind wüsste, dass „das Leben, das wir während der Besatzung führten, den alten, seit jeher existierenden Traum von einem heimlichen und freien Leben erfüllte, mit allen Risiken der Folter und des Todes, falschen Identitätskarten, Fluchten über die Dächer, Kellerverstecken, vorgebenen Berufstätigkeiten; kurz: von einem Leben als Banditen, die das gute Gewissen auf ihrer Seite hatten.”
Von 1941 an gab Paulhan die Zeitschrift Lettres francaises heraus, betätigte sich in der „Résistance”. Doch weil die Nouvelle Revue ein Ort der „reinen Literatur” gewesen war, hatte er sich schon vorher Feinde gemacht. Der surrealistische Ex-Kollege Louis Aragon griff ihn, aus kommunistischer Perspektive, böse als den eigenwilligen Konservativen an, der er war.
HANS-PETER KUNISCH
JEAN PAULHAN: Leitfaden einer kleinen Reise durch die Schweiz. Mit 12 Fotografien von Günther Förg. Aus dem Französischen von Constance Lotz. Verlag Gachnang & Springer, Bern und Berlin 2001. 76 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans-Peter Kunisch bespricht das Buch des in Deutschland vor allem als "Literatur-Organisator" bekannten Jean Paulhan, der leicht erkennbar als Ich-Erzähler in seinem Roman auftritt. Er berichte zugleich entzückt und spöttisch über seine "Reise in den Luxus der Normalität" (das Buch war erstmals 1947 erschienen), stellt der Rezensent fest. Diese Reise sei als "quasi-ethnologisches Unternehmen" zu verstehen, bei der der Autor seinen Blick nicht nur auf das fremde Land richte sondern gleichzeitig auch auf Frankreich, wodurch das Buch einen Einblick in die Schweiz und das Frankreich der Nachkriegszeit und auch in die Gedankenwelt des Autors ermögliche.

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