Produktdetails
  • fachsprachen 2
  • Verlag: Engeler
  • Deutsch
  • Gewicht: 170g
  • ISBN-13: 9783905591477
  • ISBN-10: 3905591472
  • Artikelnr.: 11179611
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2003

Artikel des täglichen Sagebedarfs
Erfülltes Begriffsleben: Ulf Stolterfoht läßt Fachsprachen dichten

Worte sind Dinge, und trotzdem stimmt kein Satz wirklich. Aus diesem Paradox kann man, wie Ulf Stolterfohts "fachsprachen" beweisen, wirksame Gedichte machen, denn es ist das Grundgeschäft der Lyrik, die Wörter für real zu nehmen. Freilich nicht so wie Jäger, Seeleute und Automechaniker, die sich ohne Reflexion eines Jargons bedienen, bei dem Wort und Sache identisch erscheinen. Denn seit Ludwig Wittgenstein wissen wir, daß selbst die elementare Verständigung zweier Bauarbeiter das Einüben einer Kultur durch Interaktion voraussetzt; unsere Sätze ähneln eingeübten Gesten, deren Bedeutung immer nur indirekt erschlossen werden kann.

Ulf Stolterfohts "fachsprachen X - XVIII" (der erste Band erschien 1998) machen diesen Abgrund produktiv. Seine Lyrik poetisiert nicht die gefühlte Welt - "dieses urgemütliche drüsenidyll" -, sondern erforscht die Weltförmigkeit der Sprache. Dies aktualisiert die poetische Kehrseite Wittgensteins, der die Sprache als Koordinatensystem der Welt zurechnete. Mit der Sprache als einem Stückchen Welt orientieren wir uns in der Welt - mit der heiklen Konsequenz, daß Wörter eben Dinge unter Dingen sind und besonderer Sorgfalt bedürfen, um auf Dinge zu verweisen.

Unter diesem materialen Gesichtspunkt werden von Stolterfoht Ausschnitte aus Vokabularen leicht rhythmisiert in etwa elf bis vierzehn Silben lange Zeilen gefügt und dabei verschiedenen poetischen Verfahren der Wortverknüpfung unterzogen: Neben basaler Syntax regeln Klangähnlichkeiten, Assoziationen, Wiederholungen den Sprachfluß. Sinn wird so als Sonderfall von Sprachverwendung erfahrbar, dessen Automatismus stillgestellt werden muß, um an das wirklich wirksame Sprachgeschehen heranzukommen. Was auch Lyrikern nicht leichtfällt: "das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben".

Stolterfohts Kunst ist eine zutiefst menschliche, da sie die avancierteste Sprachreflexion zugleich gegen sich selbst richtet. Wenn in einem Zyklus, der psychiatrische Fachsprache durchspielt, "wörtliche epiphanien von leib- / haftigkeitscharakter" auftauchen, so ist unentscheidbar, ob es sich dabei um die Erfüllung lyrischer Utopie oder um ein gefährliches Symptom handelt. Gleiches gilt von jenem "freiheitsgrad / den ein erfülltes begriffsleben zu bieten hat", denn "dort löst sich / das wort allmählich vom ding und deutet jedesmal aufs neue". Der Doppelsinn, jedesmal etwas anderes oder jedesmal das Neue zu bedeuten, schließt psychische Störung und sprachliche Entdeckungskraft kunstvoll kurz.

Mit unglaublichem Erfindungsgeist und halsbrecherischer Kühnheit verwandelt Stolterfoht in diesem Band Deutsch in Tschechisch oder Schwedisch, plündert Manuale der Stimmbildung und Annoncen für Viehschlächter oder kontrastiert Rotwelsch und Neurowissenschaften. Zugleich betreibt Stolterfoht immer auch kritische Poetik über "ding- / wahrnehmung und sagebedarf", um immer wieder in den absurden Kern der Dichtung vorzustoßen: ",ich bin ein gedicht' - sicher einer der verzwacktesten sätze der deutschsprachigen lyrik".

Wer denkt und spricht eigentlich in Stolterfohts Texten, die die Zitathaftigkeit allen Sprechens so souverän belegen? Man ist versucht, mit Karl Kraus' Wort über Nestroy zu sagen: Die Sprache mache sich in ihm Gedanken über die Dinge. Aber nach der linguistischen Wende der Philosophie ist es unendlich schwierig geworden, den Geist zu berufen, der die Buchstaben belebt und die dinghaften Wörter zu sprechenden Worten macht.

Denn es "bleibt schließlich die frage was / man sich unter einer semantik ohne welt vorzu- / stellen hat? wohl höchstwahrscheinlich die welt". Diese Tautologie kann man als Kapitulation der Dichtung lesen oder als deren Triumph. Mit Ulf Stolterfohts Augen gesehen, ist ein Gedicht ebensosehr eine Welt wie die Welt ein Gedicht. Und Größeres kann man von einem Lyriker weder verlangen noch sagen.

THOMAS POISS

Ulf Stolterfoht: "fachsprachen X - XVIII". Urs Engeler Editor, Basel, Weil am Rhein und Wien 2002. 121 S., br., 14,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

"Der Rezensent Nicolai Kobus ist berührt von diesem dritten Gedichtband des Berliner Lyrikers Ulf Stolterfoht. Zum einen beeindrucken ihn Inhalt und Umsetzung der sich das Lyrische über die Semantik, nicht über die Metrik erarbeitenden Zeilen: "Das ist mehr denn je beeindruckend in der Kunstfertigkeit technischer Beherrschung, kurzweilig in der Originalität der Montagen, im gleichermaßen abgehobenen wie geerdeten Humor, inspirierend über den stofflichen Reichtum." Zum anderen lässt den Rezensenten das leicht zynische Abwinken des Dichters, das er in der am Ende des Buches versammelten lyrischen Resterampe verortet, leicht melancholisch und besorgt zurück. Auch sorgt ihn, dass Stolterfoht das "schneidend Absurde eines heutigen Dichterdaseins zwischen Schreibtischisolation und den punktuellen Exponiertheiten von Stipendien und Preisgaben" in seiner neuen Arbeit stärker denn je hervorhebt und hofft vor diesem Hintergrund, dass diese Arbeit nicht sein letztes Wort war.

© Perlentaucher Medien GmbH"