Ágnes Heller engagiert sich für ein freies und solidarisches Europa. Doch Europa steht sich selbst im Weg: Einerseits durch die ungelösten Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie, andererseits, weil man nicht wahrhaben will, dass die Demokratie in Europa keineswegs so fest verankert ist, wie viele glauben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2019Ach, Europa
Ágnes Heller wird 90 und seziert
das Dilemma des Nationalstaats
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller ist 1929 in Budapest geboren. Als Kind einer jüdischen Familie überlebte sie die Judenverfolgung, als Schülerin und Assistentin von Georg Lukács durchquerte sie den deutschen Idealismus und das marxistische Denken. Als Bürgerin des realen Sozialismus absolvierte sie die harte Schule intellektueller Selbstbehauptung, ehe sie 1977 nach Australien ging und von dort nach New York, auf den Lehrstuhl Hannah Arendts.
Nicht nur ihr Werk, auch ihre Biografie gibt den politischen Interventionen der Philosophin Gewicht, die nun wieder vor allem in Budapest lebt. In ihrem Essay „Paradox Europa“ verbindet sie Überlegungen zu Begriff und Geschichte des europäischen Nationalstaats mit einer kritischen Genealogie der „illiberalen Demokratie“ Ungarn unter Viktor Orbán.
Europa, so die Grundthese, hat aus der Bibel und aus der griechisch-römischen Überlieferung zwei Auffassungen des Begriffs „Volk“ erlebt. Nach biblischem Verständnis gehörte ihm an, „wer dieselbe Vergangenheit (Tradition) und denselben Glauben teilte“, also alle, welche „dieselbe Sprache oder denselben Dialekt sprachen, am selben Ort wohnten, gemeinsame Geschichten, Märchen, Gebräuche Gewohnheiten hatten“. Anders der Volksbegriff in Rom: Er meinte das Gegenüber der Patrizier, die „Unterprivilegierten“. Der europäische Nationalstaat, von oben vorangetrieben, setzte sich als Vereinigung von Oberklasse und Volk durch und nahm dabei seit der Französischen Revolution einen inneren Widerspruch in sich auf, in den das biblische Erbe einging: den Widerspruch zwischen „Mensch“ und „Bürger“, universeller Tendenz der Menschenrechte und Koppelung des Nationalstaates mit einer auf Ausschlüssen beruhenden Volksidentität.
Die Philosophin zeigt, wie dieser Widerspruch in der EU fortlebt. Sie markiert die Leerstelle einer europäischen Identität und erzählt die Geschichte Ungarns nach 1989/90 als „Warnung für andere Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent“. Ágnes Heller wird am Sonntag neunzig Jahre alt.
LMUE
Ágnes Heller: Paradox Europa. Edition Konturen, Wien und Hamburg 2019. 62 Seiten, 12 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ágnes Heller wird 90 und seziert
das Dilemma des Nationalstaats
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller ist 1929 in Budapest geboren. Als Kind einer jüdischen Familie überlebte sie die Judenverfolgung, als Schülerin und Assistentin von Georg Lukács durchquerte sie den deutschen Idealismus und das marxistische Denken. Als Bürgerin des realen Sozialismus absolvierte sie die harte Schule intellektueller Selbstbehauptung, ehe sie 1977 nach Australien ging und von dort nach New York, auf den Lehrstuhl Hannah Arendts.
Nicht nur ihr Werk, auch ihre Biografie gibt den politischen Interventionen der Philosophin Gewicht, die nun wieder vor allem in Budapest lebt. In ihrem Essay „Paradox Europa“ verbindet sie Überlegungen zu Begriff und Geschichte des europäischen Nationalstaats mit einer kritischen Genealogie der „illiberalen Demokratie“ Ungarn unter Viktor Orbán.
Europa, so die Grundthese, hat aus der Bibel und aus der griechisch-römischen Überlieferung zwei Auffassungen des Begriffs „Volk“ erlebt. Nach biblischem Verständnis gehörte ihm an, „wer dieselbe Vergangenheit (Tradition) und denselben Glauben teilte“, also alle, welche „dieselbe Sprache oder denselben Dialekt sprachen, am selben Ort wohnten, gemeinsame Geschichten, Märchen, Gebräuche Gewohnheiten hatten“. Anders der Volksbegriff in Rom: Er meinte das Gegenüber der Patrizier, die „Unterprivilegierten“. Der europäische Nationalstaat, von oben vorangetrieben, setzte sich als Vereinigung von Oberklasse und Volk durch und nahm dabei seit der Französischen Revolution einen inneren Widerspruch in sich auf, in den das biblische Erbe einging: den Widerspruch zwischen „Mensch“ und „Bürger“, universeller Tendenz der Menschenrechte und Koppelung des Nationalstaates mit einer auf Ausschlüssen beruhenden Volksidentität.
Die Philosophin zeigt, wie dieser Widerspruch in der EU fortlebt. Sie markiert die Leerstelle einer europäischen Identität und erzählt die Geschichte Ungarns nach 1989/90 als „Warnung für andere Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent“. Ágnes Heller wird am Sonntag neunzig Jahre alt.
LMUE
Ágnes Heller: Paradox Europa. Edition Konturen, Wien und Hamburg 2019. 62 Seiten, 12 Euro.
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