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Im Februar 1948, wenige Wochen nach der kommunistischen Machtübernahme, nutzte Ivan Blatný, der gefeierte Jungstar der tschechischen Literatur, einen Stipendienaufenthalt in England, um sich ins Exil abzusetzen. Nach einem Nervenzusammenbruch verbrachte er aus Angst vor Verfolgung die meiste Zeit in Nervenheilanstalten in Südengland. Hier entstanden in den Jahren von 1977 bis 1985 zwei einzigartige Gedichtbände, die die gewaltige Potenz dieses Dichters erst wirklich zeigten: "Alte Wohnsitze" und "Hilfsschule Bixley".Blatnýs letzter Band, "Hilfsschule Bixley", ist ein poetisches Tagebuch voller…mehr

Produktbeschreibung
Im Februar 1948, wenige Wochen nach der kommunistischen Machtübernahme, nutzte Ivan Blatný, der gefeierte Jungstar der tschechischen Literatur, einen Stipendienaufenthalt in England, um sich ins Exil abzusetzen. Nach einem Nervenzusammenbruch verbrachte er aus Angst vor Verfolgung die meiste Zeit in Nervenheilanstalten in Südengland. Hier entstanden in den Jahren von 1977 bis 1985 zwei einzigartige Gedichtbände, die die gewaltige Potenz dieses Dichters erst wirklich zeigten: "Alte Wohnsitze" und "Hilfsschule Bixley".Blatnýs letzter Band, "Hilfsschule Bixley", ist ein poetisches Tagebuch voller überraschender Wechsel. Der Krankenhausalltag trifft auf Erinnerungen aus den Jahren in Brünn und Prag, Fernsehnews und Königshausklatsch schließen sich mit Blatnýs reichem kulturhistorischen Wissen kurz. Über Anspielungen und Zitate bleibt er mit sich und seinen Dichterfreunden im Gespräch. Oft wechselt Blatný mitten im Satz die Sprache: von Tschechisch zu Englisch, Französisch oder Deutsch, zuweilen gar mit Reimen über die Sprachgrenzen hinweg.Blatnýs surrealistische Collagen und seine ungebändigte Sprachlust schaffen ein eindrückliches Porträt der brüchigen Existenz des durch Exil und Sanatorium doppelt isolierten Autors.
Autorenporträt
Ivan Blatný, geboren 1919 in Brünn, gilt heute als einer der größten tschechischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Er veröffentlichte zwischen 1940 und 1947 mehrere Gedichtbände und lebte ab 1948 bis zu seinem Tode 1990 in Südengland. Die deutsche Ausgabe der im Tschechischen mehrfach edierten "Pomocná Skola Bixley" bietet eine stringente Auswahl aus der bisher umfassendsten Ausgabe im Verlag Triáda, Prag 2011. In der Edition Korrespondenzen erschien der Gedichtband "Alte Wohnsitze".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2018

Der notorische
Vergeiger
Der tschechische Surrealist Ivan Blatný
erlebt eine erstaunliche Renaissance
VON INSA WILKE
Neulich erstand der russische Schriftsteller und Journalist Arkadi Babtschenko von den Toten auf. Man habe seine Ermordung in Kiew vortäuschen müssen, meldeten die ukrainischen Behörden, um ihn vor seinen zukünftigen Mördern aus Russland zu schützen. Einer der vielen problematischen Aspekte an dieser Finte: Das Spiel mit der behördlich fingierten Todesnachricht – unter umgekehrten Vorzeichen – hatte in der Sowjetunion durchaus Tradition. Man denke nur an die Geschichten aus dem Gulag und den Kerkern des NKWD, die für Angehörige erfunden wurden. Ein prominentes Beispiel sind die Lügengeschichten um den Verbleib und die Ermordung Isaak Babels, mit denen seine Familie getäuscht wurde.
Der Fall des Tschechen Ivan Blatný, dessen letzter Gedichtband gerade von Annette Simon und Jan Faktor mit der dafür nötigen und beeindruckenden Freigeistigkeit ins Deutsche übersetzt wurde, bietet eine besondere Variante dieses repressiven Spiels: In den 1940er Jahren gehörte der 1919 in Brünn geborene Dichter zu den vielversprechenden jungen Talenten der Szene, die den Avantgarden der Moderne verpflichtet war. 1947 erschien sein dritter Gedichtband mit dem Titel „Die Suche nach der gegenwärtigen Zeit“. Blatný spürte damals zumindest, was die Stunde geschlagen hatte. Als er mit einer Delegation tschechischer Autoren ein Jahr später nach London reiste, setzte er sich ab. Die Reaktion zuhause: Er wurde für tot erklärt. Blatný wiederum verstand das wohl als Drohung und ging ins ja bis heute eher unsichere britische Exil. Noch im selben Jahr ließ er sich in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Er kehrte der Welt den Rücken. Und sie vergaß ihn. Ivan Blatný war damals 29 Jahre alt.
Vermutlich erst in den Siebzigerjahren fing Blatný wieder mit dem Schreiben an, wurde aber, wie Francis Nenik es in seinem teilweise dem vergessenen Dichter gewidmeten Buch „Doppelte Biographieführung“ (Spector Books 2016) mutmaßt, von seinen Wärtern für einen gehalten, der sich für einen Dichter hält. Wundersam die Geschichte seiner Entdeckung durch eine den Tschechen verbundene Frau aus dem Ort mit dem brechtschen Namen Frances Meacham. 1979 stöberte ihn dann der Schriftsteller Jiří Kolář auf, mit dem Blatný in der „Gruppe 42“ gewesen war, und ermutigte ihn, ein dichterisches Tagebuch zu beginnen. Und 1981 besuchte ihn schließlich der Autor Jürgen Serke, der damals für den „Stern“ arbeitete, und widmete ihm den zwölften Teil seiner Serie über verbannte Dichter. Damit war Ivan Blatný wieder da, auferstanden von den Toten.
Sein Gedichtband „Alte Wohnsitze“ kursierte im Samisdat, ein Jahr später ebenfalls im tschechischen Untergrund das poetische Tagebuch unter dem Titel „Hilfsschule Bixley“, benannt nach Blatnýs dritter psychiatrischer Station in der Nähe von Ipswich, vom Dichter aber auch mit einer Anspielung auf die tschechischen Hilfstrupps versehen, die während des Krieges von den Deutschen wegen Desertionsgefahr nur im Inneren eingesetzt wurden. 1987 und 2011 erschienen erweiterte Fassungen der „Hilfsschule Bixley“ erst in Kanada, dann in Prag. Da war die Sowjetunion schon Geschichte und Ivan Blatný 21 Jahre tot.
Aus der posthumen Fassung haben Annette Simon und Jan Faktor nun Texte ausgewählt und neu übersetzt. Aus ihrem Nachwort und dem, das die Übersetzerin Christa Rothmeier für die 2005 erschienene zweisprachige Ausgabe von „Alte Wohnsitze“ geschrieben hat, erfährt man die wesentlichen Informationen über den „Dichter mit den Narrenschuhen“, wie Francis Nenik ihn nennt.
Ivan Blatnýs Schicksal ist eine dieser irren Geschichten des 20. Jahrhunderts, die im 21. Jahrhundert allein deswegen nicht möglich wären, weil England dem staatenlosen Dichter heute wohl keine Sozialhilfe und keine gesundheitliche Betreuung mehr gewähren würde. Was für Gedichte schreibt einer, der 38 Jahre in Psychiatrien verbrachte, Diagnose: paranoide (aber wohl auch ganz realistisch begründete) Schizophrenie? „niemand wird was kapieren / niemand bekommt etwas mit“, heißt es in einem auf den 21. Juni 1980 datierten Gedicht mit dem Titel „Hoffnung“. Wie ebendieser „niemand“ steht man erst einmal vor diesen merkwürdigen Texten, die zwischen Tschechisch, Englisch, manchmal deutschen oder anderssprachigen Einsprengseln hin und her switchen und auch sonst so assoziativ verfahren, dass man in der Prosa vom „Gedankenstrom“ eines ziemlich sprunghaften Bewusstseins sprechen würde.
Ivan Blatný soll in einem Interview von der „Musik der Bedeutungen“ gesprochen haben, die für ihn sichtlich wichtiger war als das, was man klassischerweise in der Lyrik unter Klang und Bedeutung gewohnt ist zu analysieren. Beispiel: „Leopardi sah den Rauch von Ithaka“, beginnt das erste Gedicht ganz vernünftig, kommt dann aber auf eine Salbe gegen Furunkel, springt in den amerikanischen Westen und ins Englische, vergleicht das „cattle“ mit Statuen und bringt uns mit dem Vieh so also wieder nach Europa, spricht Zahnprobleme an, wünscht sich Frauen zum Abspritzen und wird zum Schluss darwinistisch: „of course the mosquito drinks blood“.
Ist Blatný, der sich darüber freut, „was für ein Vergnügen es ist / unverständlich zu sein“, also ein Moskito und rächt sich mit gemeiner als Surrealismus getarnter Nonsense-Lyrik an uns für sein Los?
Die Aggression ist durchaus vorhanden. Sie liegt in der Form, der Mehrsprachigkeit, der Konsequenz, mit der Blatný das surrealistische „Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle“ durchzieht, dabei das Maß in aller Höflichkeit überspannend – „wenn erlaubt, zeige ich der Welt mein Ejakulat“ – und auch gegen moralische Konventionen verstoßend, wünscht er sich doch entwaffnend direkt eine Muschi („nicht lecken, nur schauen!“) und schreibt unter dem Titel „Gerechtigkeit“ dies: „Warum sollten Sacco und Vanzetti nicht hingerichtet werden / sie waren Terroristen / auch ich möchte auf dem elektrischen Stuhle enden“.
Entstehen aus diesem „Humus unklaren Bewusstseins“ tatsächlich Kraftfelder? Ja, doch, es treiben seltsame, kostbare Blüten aus diesem Grund: „Der Glanz des Glitzerns wird der Waage anvertraut / der Strahl wirft Bilder durch Ritzen / ich hab mich schon mal getraut / Staub zu besitzen.“ Und der Blick dieses „notorischen Vergeigers“ auf die „terrible world“ und ihren Nationalismus, aber auch auf den Zustand der „terre I. Bl.“ ist eigentlich immer wieder ziemlich klar. Wer mehrfach in Variationen Gedichte euphorisch beginnt mit „I am absolutely happy“, um dann auf dem düstersten Ton „noch nie war ich so übel dran“ oder „noch nie hatte ich so viel Angst“ oder „schade am Leben zu sein, lästig und beklemmend für jedermann“ zu enden, der ist in der Lage, eine Gesellschaft unter Strom zu setzen, die dem Fetisch nachvollziehbarer Verständlichkeit folgt. Ivan Blatný schreibt, als würde er sich die weite Gegenwart in seinen engen Raum holen, immer noch auf der „Suche nach der gegenwärtigen Zeit“, als wäre er derjenige, um den die Welt kreist, der auf der Brücke kommandiert. Damit wird für alle anderen notwendig, was für ihn ein Überlebensmittel ist.
„Werdet ihr mich sehen wenn ich nicht mehr schreibe?“, fragt Ivan Blatný scheu oder nüchtern und verabschiedet sich aus diesem Band so: „bloß keine Tränensalven, für wen denn.“ Für einen, der 280 000 Verse hinterließ, die nun im Nachlass auf Extremleser warten. Für einen, der auf die „Zeit der Venus mit Milch- oder Mandelhaut“ wartete. Für einen, der zu zart war, um den Verletzungen anders als im Stillen schreibend entgegenzutreten.
Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley. Gedichte. Aus dem Tschechischen von Jan Faktor und Annette Simon. Edition Korrespondenzen, Wien 2018, 240 Seiten, 22 Euro.
Als er mit einer Delegation
tschechischer Dichter
nach London reist, setzt er sich ab
Ivan Blatný schreibt, als würde er
sich die große Gegenwart
in seinen kleinen Raum holen
Mit 29 Jahren zum ersten Mal
vergessen, heute wieder lebendig:
der Surrealist Ivan Blatný.
Foto: Getty Images/A. Cook
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