Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 11,50 €
  • Gebundenes Buch

Ketty Kristina Bang-Hansen, Ruth Iversen, Kirsten Ulldum, Povl Hestlund - das sind nicht einmal eine Handvoll von den über hundert Namen und Figuren, aus dessen Lebensläufen dieses gewaltige Buch komponiert ist. Sie alle leben in Viborg in Dänemark oder sie haben dort gelebt, so wie der Autor, der hier seine entscheidenden Jugendjahre verbracht hat. Aber nichts Autobiografisches hat dieser Roman, denn der Erzähler ist gleichsam die Stadt selbst. Und was da über ihre Einwohner berichtet, ausgeplaudert, aufgedeckt oder einfach geschildert wird, zeigt nichts als von Menschen gelebtes Leben, das,…mehr

Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktbeschreibung
Ketty Kristina Bang-Hansen, Ruth Iversen, Kirsten Ulldum, Povl Hestlund - das sind nicht einmal eine Handvoll von den über hundert Namen und Figuren, aus dessen Lebensläufen dieses gewaltige Buch komponiert ist. Sie alle leben in Viborg in Dänemark oder sie haben dort gelebt, so wie der Autor, der hier seine entscheidenden Jugendjahre verbracht hat. Aber nichts Autobiografisches hat dieser Roman, denn der Erzähler ist gleichsam die Stadt selbst. Und was da über ihre Einwohner berichtet, ausgeplaudert, aufgedeckt oder einfach geschildert wird, zeigt nichts als von Menschen gelebtes Leben, das, was man normal nennt und doch, wenn es erzählt wird, so erzählt wie hier, den ganzen Eigensinn, die Wünsche, Vergeblichkeiten und manchmal auch Triumphe jedes einzelnen vorführt. So liest sich dieses Buch auch, als habe jemand Balzacs gesamte Comédie humaine in ein Buch komprimiert. Mit seinem frühen Roman "Eines Nachts" hatte Peer Hultberg sich letzthin auf beeindruckende Weise wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gebracht. "Die Stadt und die Welt" ist ohne Frage sein Hauptwerk, was in dieser neuen Übersetzung auf glanzvolle Weise sichtbar wird. Ein großer europäischer Autor ist immer noch zu entdecken.
Autorenporträt
Peer Hultberg, geboren 1935 in Kopenhagen, Dänemark, lebt und arbeitet in Hamburg. Er promovierte über Vaclav Berendt in London, wo er auch Dozent für polnische Literatur war. 1993 erhielt er den Nordischen Literaturpreis, 2001 den Hubert-Fichte-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2009

Ein gespenstischer Tanz der lebenden Toten

Ungereimtheiten sind nicht dem Autor, sondern dem Leben anzulasten: Peer Hultbergs Roman "Die Stadt und die Welt" ist das Buch eines großen Menschenkenners.

Dieses Buch steht im Verdacht, ein Jahrhundertwerk zu sein. Soll man auch weniger erwarten von einem Roman, von dem behauptet wird, er lese sich, "als habe jemand Balzacs gesamte Comédie humaine in ein Buch komprimiert"? Die Komödie findet in Viborg statt, einer Kleinstadt im dänischen Jütland, Sitz von Verwaltung und Gerichtsbarkeit - und überschaubar genug, um einen sozialen Wahrnehmungskosmos zu bilden. Niemand wird hier übersehen, jeder ist dem öffentlichen Blick ausgeliefert, jeder muss sich der kollektiven Urteilskraft des Klatsches stellen.

Der Autor Peer Hultberg, 1935 in Kopenhagen geboren und 2007 gestorben in Hamburg, war ein großer Sammler und Arrangeur von Stimmen. Auf nicht weniger als 537 bringt es sein Roman "Requiem", mit dem er 1985 bekannt wurde; jeder ein kleines Kapitel gewidmet. "Die Stadt und die Welt" wirkt dagegen fast zurückhaltend: "Roman in hundert Texten" lautet der Untertitel. Das 1992 erschienene Buch, das als Hauptwerk der neueren dänischen Literatur gilt, schlägt in jeder dieser zwei bis zwölf Seiten umfassenden Episoden eine andere Viborger Biographie auf, mit mehr oder weniger spektakulären Schlüsselmomenten; wichtig dabei immer die sozialen Verflechtungen dieses einen Menschen in der Stadt.

So lernt man in mal anrührenden, mal grotesken Geschichten einen Viborger nach dem anderen kennen: Erfolgreiche und Versager, Honoratioren und Verfemte, bigotte Bürger und Provinzgenies, Gerichtsräte und Kartoffelgroßhändler, Arbeiter und Waschfrauen. Rasch wird jeweils von der Wiege bis zur Bahre geschritten, von der Schulbank ins Altersasyl. Mit Tempo werden berufliche Karrieren absolviert, Familien gegründet. Dann entwickelt sich meist alles ganz anders als erwartet: Kränkungen und Krankheiten, Familienzerwürfnisse und enttäuschte Hoffnungen, alles läuft aufs Sterben zu, alle paar Seiten. Dieses Buch ist ein gespenstischer Tanz der lebenden Toten. Implizite Trauer scheint bereits in der Form zu liegen, die ein Menschenleben prinzipiell auf vier oder fünf Seiten zusammendampft.

Wenn sonst der Genuss eines Romans darin besteht, dass der Leser es sich gemütlich macht in einer Erzählwelt, die ihm von Seite zu Seite mitsamt dem handelnden Personal vertrauter wird, so ist dies eine Sisyphos-Lektüre, bei der alle vier Seiten der Stein zurückrollt und von neuem begonnen werden muss. Der Leser bekommt es mit etwa dreihundert Figuren zu tun - eine Herausforderung, auch wenn als Orientierungshilfe von Hultberg-Fans ein Personenverzeichnis ins Internet gestellt wurde (http://hultberg.dalager.com).

Szenisch vergegenwärtigt wird dabei wenig; die beherrschende Form ist der rasant raffende Bericht. Wörtliche Rede kommt gelegentlich vor, wird aber ohne Anführungszeichen eingeschmolzen in den Fließtext. Auch Beschreibung findet sich auf den 475 Seiten kaum. Man erfährt nur selten, wie die für ein paar Minuten auf die Bühne gestellten Menschen aussehen. Und zugegeben: nicht allzu viele hinterlassen tiefere Spuren im Gedächtnis. Dazu gehört die feine Dame, die auch ihren Mitbürgern als krankhafte Kleptomanin in Erinnerung bleibt. Es gibt einprägsame Episoden, wie die vom alkoholkranken Maurermeister Egon Schmidt, der nicht zu einer Entziehungskur zu bewegen ist. Kurzentschlossen sprengt sich die Familie mitsamt ihrem Oberhaupt in die Luft.

Der Leser arbeitet sich durch Lebenslauf um Lebenslauf und wartet gespannt auf Verflechtungstendenzen - auf dass sich das Nacheinander der Stimmen zur epischen Polyphonie fügen möge. Dies ist jedoch nur begrenzt der Fall; einen großen Spannungsbogen entwickelt "Die Stadt und die Welt" nicht. Zwar kommen einige der Figuren als Randgestalten in anderen Lebensgeschichten vor, gewisse Lehrer, Unternehmer oder Apotheker gehören eben einfach zur tonangebenden Viborger Gesellschaft; und vor allem die "Kathedralschule" erweist sich als Drehscheibe der Schicksale. Aber das verändert den Charakter der Lektüre nicht wesentlich. Man muss schon mit dem Personenverzeichnis in der Hand hin und her springen, um deutlichere Wiedererkennungseffekte zu erleben: "Aha, Herr Nielsen wieder, was hatte es mit dem vor 250 Seiten noch mal auf sich?"

Derartige Rückblicke entwickeln dann allerdings eigenen Reiz. Man steigt in Viborger Abgründe und verfängt sich in Ungereimtheiten, die nicht dem Autor, sondern dem Leben anzulasten sind. Da gibt es etwa eine gewisse Valborg Baek, die einen Ruf als "Bolschewiken-Drachen" weghat. Im zweiten Kapitel erfährt man, dass sie sich einst weigerte, "an der Beerdigung eines Trotzkisten teilzunehmen" - gemeint ist ihr eigener Sohn, der das neue Jerusalem (also die Sowjetunion) selbst kennenlernte und danach kein glühender Sozialist mehr war. Fast vierhundert Seiten später taucht diese harsche Mutter erneut auf - nun als sanfte Freundin eines geplagten Zahnarztes. Es ist eine der zärtlichsten Geschichten des Buches, und hier erfährt man am Ende, dass Frau Baek ihren Sohn in "geweihter Erde" bestattet habe und sein Grab pflegte, bis sie selbst dazugelegt wurde. Wie bitte? Hatte sie sich auf ihre alten Tage besonnen? Oder stimmt etwas an der früheren Geschichte nicht? Der Zahnarzt, der auf seine alten Tage ihr Grab zufällig entdeckt, grübelt lange darüber nach, "wie wenig wir Menschen, letzten Endes, voneinander wissen". Es sind übrigens wiederholt Zahnärzte, denen solche Einsichten zuteil werden, etwa auch Dr. Simonsen-Schmidt, der nach dem Tod seiner Frau deren Tagebuch liest und dabei entdeckt, dass sie die Muse eines bekannten dänischen Dichters war. Er verbrennt die Aufzeichnungen, im Wissen, dass es sich um erstrangiges Quellenmaterial handelt, welches die Literaturhistoriker entzücken würde.

Immer wieder werden in diesem Buch eines großen Menschenkenners solche überraschenden, fixe Vorstellungen und Vorurteile durchstreichenden Lebenswendungen geschildert. Man findet bei Hultberg, der hauptberuflich als Psychotherapeut nach der Lehre C.G. Jungs praktizierte, keine psychoanalytische Bescheidwisserei. Allenfalls macht dieser Roman deutlich, warum Viborg und die Welt die Therapie nötig hätten - die aber besser hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Hultbergs Stil ist eigenwillig. Das Hörensagen und die üble Nachrede tönen immer hinein in den Stimmenchor - "böse Zungen lästern am besten", heißt es einmal. Man könnte die Sprache, scheinbar paradox, als hoch verdichtetes Gequassel bezeichnen. Aber wer spricht? Es wird in der dritten Person berichtet; die Stimme ist jedoch nicht die eines distanzierten Erzählers. Viele Sätze klingen alltagssprachlich, nach erlebter Rede, und gelegentlich findet sich ein "wir" oder "uns". Demnach wäre es eine Art gesellschaftliches Über-Ich, das die Tonlage vorgibt, eine kollektive Gemeinschaftsstimme aller Viborger, auch in ihrer Komik treffend übersetzt von Angelika Gundlach.

Immer wieder macht sich Standesdünkel bemerkbar. Viborg ist ein genau abgestufter sozialer Kosmos, wo niemand ungestraft aus seiner Spur tritt. Glücklich, wer sich "besserer Herkunft" rühmen kann, wobei es meist die kleinen Unterschiede sind, die zählen. Vor allem die Viborger Damenwelt erweist sich als Agentur des Anstands, als Wachturm der "guten Gesellschaft". So involviert die Darstellung sich gibt: Das Ganze liest sich wie ein hämisches Requiem auf eine Stadt aus dem ironischen Blickwinkel des Emigranten.

Es gibt zwar einige große Passionen in Viborg, etwa die des Anwalts Lorenz Bendixen und seiner Jugendliebe Jette Lurup. Aber im kleingeschachtelten Erzählformat ist auch die Liebe keine Befreiung. Eher ruft ihre "gnadenlose Eigenmächtigkeit" groteske Situationen hervor. So kollidieren die Liebesgeschichten nach einem Glück im Zeitraffer bald mit der unfreundlichen Lebenswirklichkeit. Vor allem macht sich gerade hier die argwöhnisch-neidische Klatsch-Perspektive geltend.

Die geschilderten Schicksale reichen vom frühen zwanzigsten Jahrhundert über die heikle Zeit der Nazi-Besatzung Dänemarks bis fast bis in die Gegenwart. Da ist vom ersten Viborger mit Aids die Rede oder vom ersten Viborger, der sich einen Anrufbeantworter anschafft. Trotzdem hat man den Eindruck einer säuerlichen, in überkommenen Moralvorstellungen fixierten Welt. Kennzeichnend, dass Ehefrauen meist als Anhängsel ihrer Gatten firmieren, was solche sprachlichen Ungetüme wie "Frau Friedhofsverwalter i. R. Carl-Hermann-Frederiksen" hervorbringt. Nur einige Kapitel fallen heraus, etwa Nummer XXXIV mit dem Eingangssatz: "Als Rigmor Fröhlich sechsundvierzig geworden war, verließ sie ihren Mann und ihre zwei Mädchen." Man horcht auf - neue Zeit, Yoga, Selbstfindung, der Versuch, andere Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, wir sind in den Siebzigern angekommen.

Auch wenn "Die Stadt und die Welt" den Leser fordert, so gelingt es Peer Hultberg mittels seiner eigenwilligen Konzeption doch, jene erzählerische "Totalität" zu verwirklichen, die gewisse Theoretiker unter den Bedingungen des modernen Romans kaum noch für möglich hielten: Die Stadt ist die Welt. Und es ist so viel verlorene Lebensmühe in diesem Buch. Welch ungeheure Vergeblichkeit offenbart sich hinter all den Plagen und Ambitionen, mit denen die Zweibeiner ihre knappen Jahre zubringen! Am besten liest man "Die Stadt und die Welt" wie eine Sammlung von Kalendergeschichten: Jeden Tag eine, und man kommt schön betrübt durch hundert Wintertage.

WOLFGANG SCHNEIDER.

Peer Hultberg: "Die Stadt und die Welt". Roman in hundert Texten. Aus dem Dänischen übersetzt von Angelika Gundlach. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2008. 477 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Trübsinn deluxe für die Winterzeit empfiehlt Wolfgang Schneider. Peer Hultbergs "sozialer Wahrnehmungskosmos" muss sich für Schneider zwar erst einmal als Roman erweisen, alles scheint ein bisschen gewöhnungsbedürftig zu sein in diesem Buch, das als Hauptwerk der neueren dänischen Literatur gilt, wie der Rezensent mitteilt, doch schließlich ergibt sich für den Rezensenten doch eine Art von Totalität der guten alten Art mit der Stadt Viborg in Jütland als topografischem Fixpunkt und mit einer Zeitspanne vom frühen 20. Jahrhundert bis knapp in die Gegenwart. Das Panorama aus etwa dreihundert Figuren aller gesellschaftlichen Schichten, jede vorgestellt in einer zwei- bis zwölfseitigen Episode, versucht Schneider zunächst als eine Art soziales Puzzle zu lesen. Aber nur wenige Figuren bleiben dem Rezensenten im Gedächtnis, und Verflechtungen untereinander werden nur begrenzt sichtbar. Schneider probiert's mit Vor- und Zurückblättern, der Wiedererkennungseffekte wegen. Und siehe da: Es ergeben sich Ungereimtheiten, die Schneider nicht dem Autor, sondern dem Leben in Viborg zurechnet. Dazu passt laut Schneider auch Hultbergs stilistische Zurücknahme, das Aufgehen des Erzählers in einer alltagssprachlichen kollektiven Stimme. So wird doch so etwas wie ein Roman daraus. Einer allerdings, den Schneider lieber als Sammlung von Kalendergeschichten lesen möchte: Jeden Tag eine.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2009

Wohin der Segen nicht reicht
Virtuos: Peer Hultbergs Roman „Die Stadt und die Welt”
Der päpstliche Segen „Urbi et Orbi” markiert seit dem Mittelalter den Geltungsbereich der katholischen Kirche; die Stadt Rom und die damals bekannte Welt. Dass der Roman des großen dänischen Autors Peer Hultberg „Die Stadt und die Welt” diesen Segen im Titel trägt, zeigt weniger eine Verwandtschaft im Geiste als des weltumgreifenden Anspruchs. In der Tradition der Moderne umfasst dieser Roman, der 1993 mit dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde und nun in einer neuen Übersetzung ins Deutsche vorliegt, eine Welt, die nichts zusammenhält außer das zufällige Nebeneinander in einer Stadt.
„Die Stadt und die Welt” ist – so der Untertitel – ein „Roman in hundert Texten”, von denen jeder einzelne einen eigenen Roman füllen könnte. Auf meist nicht mehr als fünf Seiten wird im Schnelldurchlauf das Leben je eines Bewohners der dänischen Kleinstadt Viborg erzählt, jenseits aller Chronologie und überspannenden Dramaturgie. Durch alle Klassen und Schichten hindurch umfasst das Buch den Niedergang eines Bauerngeschlechts am Anfang des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie einen der ersten Aids-Toten in den achtziger Jahren.
Dabei öffnet sich ein Schattenreich menschlicher Absonderlichkeiten. Diese blühen, so hat es Freud gelehrt, am besten in der stickigen Enge der Verbote. So bereitet es auch Hultberg auf, der unter anderem als Psychoanalytiker in Frankfurt und Hamburg gearbeitet hat, bevor er dort 2007 starb. Hultbergs Viborg ist eine enge Kleinstadt, die überall Augen und Ohren hat und einen mit ihrem Gerede bis in den letzten Winkel verfolgt.
Erstaunlich ist daran vor allem, wie hier das Gerede bis in die Erzählstimme vordringt. Diese Geschichten sind der Stadt selbst abgelauscht: dem Klatsch, den Witzen, den Vorurteilen, den geheimsten Gedanken. Das ist zunächst verwirrend, denn in den oft langen Sätzen mit ihren syntaktischen Eigenheiten wechseln sich verschiedene Stimmen und Tonlagen ab, vermischen sich Bericht und Kommentar mit Gerücht und Vermutung. Im saloppen Tonfall der Unterhaltung wird beschworen („Hand aufs Herz”), sich erschreckt („du lieber Gott”), und es werden vor allem ständig Vorurteile transportiert („unter uns gesagt sah sie aus, als wäre sie Jüdin”). Wie in diesem Wechsel der Stimmen und Stimmungen der Fluss eines überpersonalen Bewusstseins entsteht, das ist meisterlich.
Hinter vorgehaltener Hand
„Man konnte direkt sagen, daß die Stadt sich an Schönheit berauschte, als die junge Frau Oberarzt Leif. T. Vestervang nach Viborg kam”. Ganz beiläufig beginnen diese Texte, ehe sie sich tastend der eigentlichen Geschichte nähern: „Wenn Frau Oberarzt Vestervang im Geschäft gewesen war, ja, dann war es, wer konnte das bestreiten, aber es war, ja, als ob, es war, als ob auf irgendeine Weise etwas fehlte”. Was diese Stimme uns hinter vorgehaltener Hand mitteilen will: Frau Oberarzt klaut. Nur traut sich keiner das auszusprechen und „so war es die kleine Ingeliese, Anne-Mettes Tochter aus Karup, die eingestellt worden war, um in Obst- und Gemüsehändler Erik Bach-Christensens Geschäft an der Reberbanen mitzuhelfen, denn Frau Bach-Christensen litt so furchtbar unter ihrer Arthrose in beiden Schultern, und man konnte ja nicht direkt verlangen, daß Elise ihre Schule in Kopenhagen abbrach, Ingelise also war es, die es beim richtigen Namen nennen sollte”. Durch viele Nebenpersonen und Nebensächlichkeiten gelangt der Tratsch zur Hauptsache. Frau Oberarzt Vestervang wird fortan geschnitten und stirbt bald, vermutlich von eigener Hand.
Hultberg erzählt die absonderlichen Wendungen, in denen etwas lange Unterdrücktes plötzlich an die Oberfläche dringt. Da gibt es den Ehemann, der seiner Frau am Tag der silbernen Hochzeit sagt, dass er sie vom ersten Tag an betrogen und außerdem nie gemocht habe, wie sie rieche. Oder die frigide Frau, die im Alter plötzlich eine kurze und heftige „zweite Jugend” erlebt, in der sie sich so ziemlich jedem anbietet; „Zeitungsträger, Kaufmannsburschen, Metzgergesellen und wer sonst noch männlichen Geschlechts Waren in die Villa lieferte” – bevor sie dann wie eine Schnittblume dahinwelkt und vergeht. So ist es hier oft; das richtige Leben wurde selten gelebt, höchstens lang genug um zu wissen, was man verpasst.
„Also kommt nur nicht und sagt, das Dasein sei nichts als Tragik” heißt es an einer Stelle. Stimmt, es gibt auch Sonnenschein und „Die Stadt und die Welt” ist vor allem eine äußerst vergnügliche und komische Lektüre. Aber die eigentliche Tragik dieses Romans ist nicht die der Einzelschicksale, sondern die des ganzen Menschengeschlechts: Es ist die Hinfälligkeit allen Strebens vor dem Tod. Wenn, wie in diesem Roman hundertfach, die großen Stationen des Lebens auf ein paar Seiten an einem vorbeirauschen, wenn Geburt und Jugend, Beruf und Familie Schlag auf Schlag folgen, bevor sie – tragisch oder nicht – in die letzte Station münden, dann ist es, als begegne einem das rastlose Walten der Geschichte in seiner ganzen Gleichgültigkeit den einzelnen Menschen gegenüber. JEAN-MICHEL BERG
PEER HULTBERG: Die Stadt und die Welt. Roman in hundert Texten. Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2008. 477 Seiten, 32 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr