Produktdetails
  • Verlag: Jung und Jung
  • Seitenzahl: 153
  • Deutsch
  • Abmessung: 16mm x 121mm x 190mm
  • Gewicht: 226g
  • ISBN-13: 9783902144614
  • ISBN-10: 3902144610
  • Artikelnr.: 11824365
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2003

Wie es kommt
Eiertänze um die Schuld: Elfriede Kerns Erzählband „Tabula rasa”
Als 2001 die Erzählung „Schwarze Lämmer” der 1950 geborenen Linzerin Elfriede Kern erschien, war das eine schöne Überraschung: Ein sehr eigenwilliges, konsequentes und souverän geschriebenes Buch, das den Mut hatte, ein modernes Märchen zu erzählen. Der neue Erzählband „Tabula rasa” lässt sich stilistisch und auch grob thematisch vom Vorgänger kaum unterscheiden. Es entsteht der Thomas-Bernhard-Effekt: das Eigenwillige muss ohne den Bonus der Neuheit auskommen.
Wieder erzählen Ich-Erzähler im Perfekt, sie reden naiv, vielleicht aber auch verschlagen, daneben gibt es kaum wörtliche Rede, es fehlt eine Fokussierung auf Erzählphasen, die darauf hinweisen könnte, was wichtig ist, es gibt keine Absätze. Ein bisschen zu sehr – nämlich noch mehr als die bereits sehr radikale Erzählung von 2001 – wirken die Geschichten wie symbolschwangere psychoanalytische Eiertänze um einen Terminus, der auf den Punkt bringen würde, worum es geht, aber nicht ausgesprochen werden kann. Schuld, Unterdrückung, sexuelle Gewalt, enttäuschtes Vertrauen – in diesem Umkreis könnte er zu finden sein. Die aufgeführten erzählerischen Maßnahmen Kerns dienen sämtlich dem Zweck, das Herauslesen zu erschweren. Nicht ohne Grund spielen in Kerns Geschichten unleserliche Schriften eine zentrale Rolle, die Verstehen gleichzeitig provozieren und durchkreuzen.
Die längste der vier Erzählungen, „Ruth schläft”, orientiert sich in ihrer Ausgangssituation deutlich an D. H. Lawrences Erzählung „Der Fuchs”. Zwei Frauen – hier sind es Ruth und Blanka – leben zusammen auf dem Land in einem abgeschiedenen Haus, das regelmäßig von einem wilden Tier heimgesucht wird. Die beiden Frauen sind ein besonderes Paar: Ruth trainiert „aufs Härteste” die Artistin Blanka, die unter plötzlichen Schlafattacken leidet, für ein „glanzvolles Comeback”, das ihr Zirkusdirektor geplant hat. Der ausgeübten Logik von Beherrschung und Unterwerfung drohen schließlich beide Frauen zum Opfer zu fallen, als Männer aus dem Dorf ihre Einsamkeit stören. Während immer deutlicher wird, dass andere Gewalt über sie ausüben, finden sie sich einfach damit ab.
Dass Kerns Figuren letztlich alles nehmen, wie es kommt, zeigt sie unter einer Decke mit Gregor Samsa, ja überhaupt mit Kafkas Opfern. Anstatt das Unverständliche als rational erklärbar zu entlarven wie in der Detektivgeschichte, wird es als Wirklichkeit akzeptiert, die sich den Gesetzen der Kausalität entzieht. Das ungefragte Einwilligen ins verkehrte Schicksal ist der eigentliche Grund für das Unheimliche, das von diesen Geschichten ausgeht.
Leider reicht die Umsetzung dieses Programms nicht an „Schwarze Lämmer” heran, besonders in den drei kurzen Erzählungen. Gerade das Unheimliche wirkt oft nur bizarr, weil den Geschichten zu wenig Vertrautes als Kontrastmittel zum Absonderlichen beigegeben ist. Der Lebensgehalt ist ausgedünnt, es gibt kein Heim, das unheimlich werden könnte. Für die längste Geschichte gilt das noch am wenigsten. Was wieder beeindruckt, ist die Einheitlichkeit und Rundheit der Texte, wenn sie auch unter zu vielen Tippfehlern leiden. Sie sind zwar befremdlich, aber befremdlich wie Meteorstücke. Irgendwo, lässt ihre ausgeklügelte Struktur vermuten, kommt dieser Stein häufig vor, auch er ist natürlich. Er hat Vor- und Nachteile gegenüber den unseren. Es lässt sich mit ihm bauen.
KAI MARTIN WIEGANDT
ELFRIEDE KERN: Tabula rasa. Vier Erzählungen. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2003. 155 S., 19 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Vor allem im Vergleich mit ihrem Erstling "Schwarze Lämmer", befindet der Rezensent Kai Martin Wiegandt, sei dieser neue, zweite Band der Autorin eine leise Enttäuschung. Wenig habe sich verändert, stilistisch und auch thematisch. Mehr als zuvor erweisen sich die Geschichten ohne den Reiz des Neuen nun als "symbolschwangere psychoanalytische Eiertänze" um unausgesprochene Sachverhalte der Sorte "Schuld, Unterdrückung, sexuelle Gewalt". In der längsten der vier Erzählungen, "Ruth schläft", die sich auf D.H. Lawrences "Der Fuchs" bezieht, hat das für Wiegandt durchaus noch seine Faszination, er fühlt sich an Kafka erinnert, in den drei kürzeren Erzählungen aber zeige sich, dass das Konzept auf Dauer an Kraft einbüßt.

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