Produktdetails
  • Verlag: Primus
  • ISBN-13: 9783896782434
  • ISBN-10: 3896782436
  • Artikelnr.: 12786481
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2005

Unsere Welt, das Grenzgebiet
Vom Verschwinden der weißen Flecken: Ein Buch beschreibt, ein Bildband illustriert die Macht der Karten
Alexander der Große verirrte sich auf dem Weg nach Athen hoffnungslos und endete in Indien, während Kolumbus nach Indien wollte und in Amerika herauskam. Das lag vielleicht daran, dass beide recht schlichte Prototypen folgender Wegweiser hatten: Schatzkarten, Himmelskarten, mappae mundi, Atlanten, Satellitenbilder. Karten, jene zweidimensionalen Abbilder der Erde, sind Wege zum Reichtum, Mittel zu Eroberung, Beweise einer Herrschaft. Karten sind das tradierte Wissen, das die Welt beherrschbar macht – ohne sie und ihre modernen Weiterentwicklungen wie GPS, das Global Positioning System, wären heute manche Autofahrer so hilflos, dass sie nie aus Athen hinaus, geschweige denn aus Indien zurückfinden würden.
Das Kartographieren der Welt kann man sich vielleicht so vorstellen: Ein erschöpfter Seefahrer überreicht seinem Herrscher einen Lappen Papier, auf dem er den Schlüssel zur Welt dargestellt hat, den Weg zu Reichtum und Ruhm. Oder ein Mönch will einem anderen erklären, wie er ins Heilige Jerusalem reisen kann, ohne von Seeungeheuern oder perfiden Ungläubigen zerlegt zu werden.
Karten faszinieren und manipulieren bis heute, um Karten wurde gekämpft, mit Karten wurde Weltpolitik gemacht. Unzählige solche Beispiele beschreibt die Historikerin Ute Schneider in ihrem Buch „Die Macht der Karten”, und wenn ihr Stil auch manchmal und unnötig etwas spröde und wissenschaftlich bleibt, so wird das doch leicht aufgewogen durch die vielen wundersamen Details, die es aus der faszinierenden Geschichte der Kartographie zu erzählen gibt.
Als die Spanier und Portugiesen beispielsweise noch glaubten, die gerade frisch entdeckte Neue Welt allein untereinander aufteilen zu können, zogen sie jene berühmte Demarkationslinie von Tordesillas. Mit diesem Abkommen wurde die Welt in eine westliche, portugiesische, und eine östliche, spanische aufgeteilt – erst eher einmal ungefähr, weil man noch gar nicht viel wusste über den neuen Kontinent, und weil die Messung und Einteilung nach Längen- und Breitengrade überhaupt noch nicht erfunden war. Und doch – man hielt sich mehr oder weniger daran, vielleicht weil Karten eine gewisse unantastbare Wahrheit ausstrahlten, die auf Papier oder Pergament an Autorität sogar gewann – und weil das Grenzgebiet riesig genug war, dass man sich erst einmal nach Herzenslust austoben konnte unter den Eingeborenen, die reihenweise umkamen, aber das war nicht das Problem der Kartographen.
Die Welt anhand von Karten aufzuteilen, ist immer wieder versucht worden, von Ribbentrop und Stalin in Polen, von den Briten zwischen dem zukünftigen Indien und Pakistan, es endete oft in Blutvergießen, doch wer an der Macht war, konnte über das Bild der Karten bestimmen. Herrscher konnten ihre Untertanen erst richtig besteuern, nachdem sie von ihren Landvermesser unterrichtet worden waren, wo ihr Reich überhaupt begann.
Die berühmten „weißen Flecken” auf den Karten Afrikas forderten europäische Abenteurer und Forscher heraus und lockte Kolonialisten an – mit den weißen Flecken verschwand auch die Ohnmacht, und es begannen die Zeiten der hemmungslosen Ausbeutung. Und an einen endgültigen israelisch-arabischen Gesamtfrieden wird man erst glauben können, wenn alle arabische Staaten Israel als „Israel” in ihren Atlanten eingezeichnet haben.
Geschichte lesen
Karten können trügerisch sein, können Realitäten vorspiegeln, die vorher so gar nicht existierten in den Köpfen der Menschen. Bis heute: Schneider zeigt das an den Wahlkampfkarten der USA, die die politisch-moralische Spaltung der Nation in roten und blauen Staaten fixierte – und dabei trügerische Mehrheiten entstehen ließ, je nachdem, ob man das Wahlverhalten anhand von Stimmenzahlen oder von Bevölkerungsdichte interpretierte.
Und ein wesentlicher Teil amerikanischer Identität beruht auf jenem immer weiter nach Westen zurückweichenden Gebiet der so genannten „frontier”, des Grenzgebietes, das Amerikanern lange das Gefühl der endlosen Eroberung des Westens vermittelte, während sich die Nationalstaaten durch die „Abgrenzung” und unentwegte Grenzstreitigkeiten mit ihren allzu nahen Nachbarn zu definieren lernten.
Bildet Schneiders Buch das Gerüst der Kartenlehre, dann ist Kenneth Nebenzahls wunderbare Sammlung alter Karten die perfekte Detaillierung. Es sind Geschichten über Handelswege nach Asien und seinen Schätzen und über diejenigen, die diese bereisten, ausforschten und das manchmal mit dem Tod bezahlten. Blatt auf Blatt wird die Erde bekannter und damit kleiner, als ob sich durch jeden neu verzeichneten Bergrücken und Fluss etwas von der Unwissenheit des Menschen verflüchtigte, an dessen Ende schließlich der Sturz des Gottes steht, zu dessen Ehren die mappae mundi, die Weltkarten des Mittelalters einst geschaffen wurden. In Karten kann man Geschichte lesen, nicht durch sie die Wahrheit finden.
PETRA STEINBERGER
UTE SCHNEIDER: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Primus Verlag, Darmstadt 2004. 144 Seiten, 39,90 Euro.
KENNETH NEBENZAHL: Mapping the Silk Road and Beyond. 2000 Years of Exploring the East. Phaidon Verlag, London 2004. 176 Seiten, 49,95 Euro.
Weltkarte von Donnus Nicolas Germanus und Johannes Schnitzer, basierend auf Ptolemäus, gedruckt in Ulm um 1492
Abb.: Newberry Library, Chicago
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Den Rezensenten Wolfgang Müller bringt dieses Buch ins Staunen. Dass in der modernen Kartografie immer noch so viele Fehler - "verzerrte Darstellungen und Klischees" - zu finden sind, findet er jedenfalls "unglaublich". Und auch sonst freut er sich über die Aussagekraft dieses Buchs, das verschiedene Aspekte des Kartenwesens - "die ihnen innewohnende Weltsicht, ihre Bedeutungen, Absichten und Subtexte" - auf übersichtliche und verständliche Weise behandele. Man erfährt "interessante Details und wichtiges Grundwissen", so Müller, zwischendurch gibt es reichlich Beispiele und auch gelegentliche thematische Exkursionen - zum Beispiel in die Kunst. Die "sorgen für gedankliche Auflockerung". Eine nach Meinung des Rezensenten durch und durch angenehme Lektüre.

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