Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 7,00 €
  • Gebundenes Buch

'Über die Blindgänger war noch nicht entschieden. Die Zünder rosteten. Dies war einmal die Innenstadt von Köln gewesen. Das Leben begann.' Kurz nach dem Krieg stand Gerd Fuchs als Studienanfänger in der zerbombten Großstadt, am Anfang seiner Journalisten- und Schriftstellerkarriere. Jahrzehnte später blickt er zurück und gräbt im Erinnerungsschutt nach Glutnestern. Ob er über seine Zeit in Köln als 'möblierter Herr' schreibt, der mit seiner Zimmerwirtin Spekulatius isst, über seine Kindheit im idyllischen Hunsrück, die bald durch Bombergeschwader zerstört wird, oder sich mit seinem nie ganz…mehr

Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktbeschreibung
'Über die Blindgänger war noch nicht entschieden. Die Zünder rosteten. Dies war einmal die Innenstadt von Köln gewesen. Das Leben begann.' Kurz nach dem Krieg stand Gerd Fuchs als Studienanfänger in der zerbombten Großstadt, am Anfang seiner Journalisten- und Schriftstellerkarriere. Jahrzehnte später blickt er zurück und gräbt im Erinnerungsschutt nach Glutnestern. Ob er über seine Zeit in Köln als 'möblierter Herr' schreibt, der mit seiner Zimmerwirtin Spekulatius isst, über seine Kindheit im idyllischen Hunsrück, die bald durch Bombergeschwader zerstört wird, oder sich mit seinem nie ganz fassbaren Vater auseinandersetzt, immer legt er den glühenden Kern frei. Zu lesen, wie sich der angehende Autor auf einer Lesung der Gruppe 47 einfindet, ständig mit Günter Grass' Frau tanzt, ohne zu wissen, mit wem er die Ehre hat, und schließlich auf dem Foltersessel seinen Text vorliest, ist eine Bereicherung der Literaturgeschichtsschreibung. Und so entsteht aus Momentaufnahmen und Reflexionen eine Autobiografie in Schlaglichtern.
Autorenporträt
Gerd Fuchs, geboren 1932 in Nonnweiler (Saar), arbeitete als freiberuflicher Publizist, als Feuilleton-Redakteur bei der Welt, als Kultur-Redakteur beim Spiegel, und ist seit 1968 freiberuflicher Schriftsteller. Er wurde ausgezeichnet mit dem Förderpreis des Lessing-Preises der Stadt Hamburg, dem Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg und dem Kunstpreis der Stadt Saarbrücken und ist Preisträger des Italo-Svevo-Preises 2007. Er ist Mitglied des PEN und lebt in Hamburg. Bei Edition Nautilus sind lieferbar die Romane Die Auswanderer (2003), Schinderhannes (2003) und Stunde Null (2005), der Erzählungsband Zikaden - Sommergeschichten (2004) sowie Eckermanns Traum - Fünfzehn Szenen aus dem klassischen Weimar (2006).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2010

Finger weg von Frau Grass

Jagdfliegerangriff auf den Honigtopf: Gerd Fuchs erinnert sich in seinen autobiographischen "Heimwegen" an Krieg und Nachkrieg und die Gruppe 47.

Im zerbombten Nachkriegs-Köln steht ein junger Mann, neu in der Stadt und ziemlich desorientiert. Was er denkt, verblüfft einigermaßen angesichts der Häuserreste und Schuttflächen um ihn herum - er fragt sich, welchen Filmgrößen er in seinem neuen Wintermantel gleichen könnte: Erst sieht er sich als Jean Gabin, dann beschwingt laufend wie Cary Grant oder stürmisch schreitend wie Orson Welles. Unsicher, wohin es mit ihm gehen soll, probiert er in den folgenden Jahren die Haltungen aus wie die Studienfächer, bis er sich schließlich das Schreiben zum Beruf macht.

Gerd Fuchs' autobiographische "Heimwege" führen in kurzen Episoden zurück zu dem Menschen, der der Autor und Journalist einmal war: von der kriegsgeschüttelten Kindheit im Hunsrück über die Studienjahre in möblierten Kölner Studentenzimmern bis hin zum Ende der Gruppe 47, das er als junger Schriftsteller miterlebt. Persönlich und mit großer Aufmerksamkeit für Details beschreibt der 1932 Geborene darin die überraschenden Selbstverständlichkeiten vergangener Dekaden: Die Sonntage der vierziger Jahre, die in ihrer absoluten Stille "hörbar" waren, oder die Einsamkeit eines Studenten in den Fünfzigern, als man sich an der Universität noch siezte und daher kaum einen Kommilitonen mit Vornamen kannte.

Nicht umsonst sind die ersten Namen, die in "Heimwege" fallen, die von Filmschauspielern. Immer wieder stellt Fuchs erinnerte Filmszenen in ganz ähnlicher Detailfülle zwischen seine persönlichen Erinnerungen. Neben den Szenen auf Zelluloid erscheinen auch die eigenen Lebenserinnerungen von Fuchs wie durch die Kamera gesehen. Manche Bilder dieser Kriegskindheit stehen still wie Fotografien: ein "Muskelberg" von Pferd, auf dem der Junge während eines Ausflugs sitzt, reiht sich neben einen Schnappschuss der badenden Eltern. Andere fügen sich zu Szenen, zu Episoden, zu kleinen Filmausschnitten - allerdings durchaus nicht in Schwarzweiß, wie die Filme der Zeit, sondern in brillanter Farbigkeit und hoher Auflösung: Der Sommertag etwa, an dem er als Zwölfjähriger mit seiner Schwester ins Nachbardorf geschickt wird, um vom imkernden Onkel einen Topf Honig zu holen, ist mit dem gesteigerten Detailreichtum fragmentarischer Erinnerungen beschrieben. Da leuchten Himbeeren und Schattenmorellen im Garten der Verwandtschaft, und man meint die glitschig bemoosten Steine im Bach unter den Füßen zu spüren, über die "gedankenschnell" Forellen schießen.

Zwischen diesen hochrealistischen Beschreibungen aber liegen auch die Schwachpunkte der Texte verborgen. Während die Verlässlichkeit der Erinnerungen nicht ein einziges Mal in Frage gestellt wird, häufen sich die um Sinnlichkeit und poetischen Ausdruck bemühten Vergleiche - und geraten dabei nicht selten zu Klischees: Die Violine, die sich der junge Gerd Fuchs selbst zu spielen beibringt, nennt er "meine Schöne, die Diva, das Biest"; die "nackten, kleinen Füße" der Schwester erscheinen dem immerhin erst Zwölfjährigen "als der Inbegriff der Anmut", und das heimatliche Tal ist "auch heute noch die gültige und nicht mehr zu überbietende Anschauung des Paradieses".

Gerd Fuchs' paradiesisches Jugendidyll im Hunsrück aber ist bedroht. Der Zug, der ihn und seine Schwester an jenem Sommertag vom Honigholen zurück nach Hause bringen soll, wird unterwegs von einem britischen Luftgeschwader angegriffen und verfolgt. Als er endlich den heimatlichen Bahnhof erreicht, klaffen im Waggon, aus dem die Geschwister steigen, vier Einschusslöcher. Doch zum Opfer gefallen ist dem Angriff nur der Honigtopf: Vergossen über den Wagenboden, verströmt sein Inhalt einen "Duft von Wald und Tannenharz in der Mittagshitze" - von den großen Kriegstragödien bleibt seine Familie verschont.

Die Tiefenschärfe der fragmentarischen, aber gerade deshalb umso stärker funkelnden Jugenderinnerungen weicht mit voranschreitendem Lebensalter essayistischeren Episoden: Das rein Persönliche wird immer häufiger verwoben mit Reflexionen über Geschichte und Zeitgeschehen. Doch immer wieder ist es der Krieg, der Fuchs' Kindheit wie auch sein frühes Erwachsenenalter prägt. Die Wirkung der deutschen Vergangenheit, die sich in den fünfziger Jahren nach und nach entblößt, beschreibt er mit eindrücklicher Ehrlichkeit: Als Gaststudent in London sieht er eines Abends in einem Kinoschaukasten Bilder aus "Nacht und Nebel" von Alain Resnais - der sonst stets als schützend empfundene Kinosaal konfrontiert den jungen Mann nun erstmals mit der Realität der Konzentrationslager. Mit voller Wucht packt ihn die Scham über die eigene schuldbeladene Nationalität: "Zum ersten Mal traf mich die Verachtung der Welt." Erschüttert von den Erkenntnissen über Krieg und Holocaust, kann er die Gastfreundschaft der Briten ihm, einem Deutschen gegenüber, kaum mehr fassen. Als er Jahre später Auschwitz besuchen will, flieht er, noch bevor das Lager überhaupt in Sichtweite gerät, von plötzlicher panischer Angst gepackt, zurück zum Krakauer Flughafen.

Auch das sich formierende literarische Leben der Nachkriegszeit zeigt sich aus überraschender, sehr persönlicher Perspektive. Auf einem Treffen der Gruppe 47, wo er 1962 eine seiner ersten Erzählungen liest, wirken all die berühmten Autoren "wiedergängerhaft und seltsam unwirklich" auf ihn. Wieder ist die Realität von künstlichen Bildern durchwirkt: "Die Fotos von ihnen in den Zeitungen erschienen mir realer als sie selbst." Aber auch in dieser Episode bringt Fuchs das Ungeahnte und Lebendige hinter dem Bekannten zum Vorschein: Überfordert vom Leistungsdruck und der unverhohlenen Feindseligkeit, die ihm als Kulturredakteur bei Springers "Welt" auf dem Treffen entgegenschlägt, fordert Fuchs in einem trotzigen Rausch immer wieder dieselbe Frau zum Tanzen auf - bis Reinhard Lettau ihn zur Seite nimmt und fragt, ob er "nicht auch einmal mit einer anderen Dame tanzen könnte als mit Frau Grass".

KATHLEEN HILDEBRAND

Gerd Fuchs: "Heimwege". Edition Nautilus, Hamburg 2010. 256 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beeindruckt an diesen Lebenserinnerungen an eine Kriegskindheit im Hunsrück und Nachkriegserfahrungen mit der Gruppe 47 haben Kathleen Hildebrand vor allem das immer wieder im Bekannten aufblitzende Ungeahnte und Lebendige. Auch wenn der Journalist und Schriftsteller Gerd Fuchs von seinen Kölner Studienjahren erzählt, entdeckt Hildebrand nicht nur Persönliches und hochrealistisch Beschriebenes, sondern auch das Überraschende an der Vergangenheit. Eine Schwachstelle des Bandes sieht die Rezensentin allerdings in den poetischen Ausdrucksbemühungen des Autors. Das wirkt dann auf Hildebrand allzu oft bemüht und klischeehaft und nur selten bereichernd. Lieber sind ihr die von eindrücklicher Ehrlichkeit geprägten Reflexionen über deutsche Geschichte und Zeitgeschehen beim älteren Fuchs.

© Perlentaucher Medien GmbH