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Das Ende der »Schulzucht« und der grundlegende Wandel des deutschen Gymnasiums in den 60er und 70er Jahren.Das traditionelle deutsche Gymnasium war geprägt durch einen neuhumanistischen Bildungsbegriff. Ein Gymnasiast sollte durch die Orientierung an den Leitbildern Antike, Christentum und deutscher Klassik zum »homo vere humanus«, zum »wahren Menschen«, werden. Das Gymnasium verstand sich als Ort höherer Bildung im Unterschied zur Volksschule als Stätte der »Massenbildung«. Demgemäß konnten nach dem ihm eigenen Selbstverständnis nur wenige die höhere Lehranstalt besuchen, denn: »Bildung und…mehr

Produktbeschreibung
Das Ende der »Schulzucht« und der grundlegende Wandel des deutschen Gymnasiums in den 60er und 70er Jahren.Das traditionelle deutsche Gymnasium war geprägt durch einen neuhumanistischen Bildungsbegriff. Ein Gymnasiast sollte durch die Orientierung an den Leitbildern Antike, Christentum und deutscher Klassik zum »homo vere humanus«, zum »wahren Menschen«, werden. Das Gymnasium verstand sich als Ort höherer Bildung im Unterschied zur Volksschule als Stätte der »Massenbildung«. Demgemäß konnten nach dem ihm eigenen Selbstverständnis nur wenige die höhere Lehranstalt besuchen, denn: »Bildung und Masse schließen sich aus«. Auch den Mädchen war das Abitur im 19. Jahrhundert verwehrt. Danach blieben die Geschlechter im Gymnasium zumeist getrennt. Seit den späten fünfziger Jahren geriet dieses Konzept in die Krise. Der Bildungsbegriff wurde ebenso in Frage gestellt wie die Autorität der Lehrer, die Geschlechtertrennung, die Sozialstruktur der Schüler, der gymnasiale Eliteanspruch und letztlich in der Debatte um die Gesamtschule die Existenz des Gymnasiums überhaupt. Das Gymnasium überstand die Reformbestrebungen, aber es hatte sich bis zur Mitte der siebziger Jahre deutlich verändert. Torsten Gass-Bolm beschreibt diesen Prozeß, in dem sich die höhere Lehranstalt alter Prägung zu einem neuen Typ des Gymnasiums wandelte.
Autorenporträt
Torsten (Michael) Gass-Bolm, geb. 1969, studierte in Darmstadt und Freiburg Geschichte und Latein. Von 2000 bis 2003 war er wissenschaftlicher Angestellter des Historischen Seminars der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2003 ist er Studienreferendar.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2005

Schafft die Pädagogik ab!
Torsten Gass-Bolms Geschichte des westdeutschen Gymnasiums
Vom Tier unterscheidet den Menschen bekanntlich der aufrechte Gang. Ihn zu pflegen erfand der Deutsche das Gymnasium. „Die Haltung des Oberkörpers beim Stehen, Gehen, Sitzen sei stets aufrecht. Kopf hoch, Brust heraus, Schultern zurück und gleich hoch!”, heißt es in der Königlich bayerischen Schulordnung für die höheren Lehranstalten vom 30. Mai 1914. Dergleichen gehört freilich in die ferne Vorgeschichte des westdeutschen Gymnasiums, dessen Entwicklung in den Jahren 1945-1980 der Historiker Torsten Gass-Bolm untersucht. Er hat jene Vorgeschichte weniger ausführlich, doch nicht weniger eindringlich gezeichnet als die bundesrepublikanischen Jahre und die vorangehende Besatzungszeit.
So räumt er das in der öffentlichen Meinung herrschende Vorurteil aus, das Gymnasium des 19. Jahrhunderts sei eine Schule der Oberschicht gewesen: „Auf dem Gymnasium trafen sich der Professoren- und der Krämersohn (wobei Letztere häufiger waren)”.
Markierungspunkte in der Geschichte der „höheren Lehranstalt” waren die Einführung des Abiturs 1788 sowie 1834 seine Erhebung zur Voraussetzung dafür, zur Universität zugelassen zu werden. Die Epoche des deutschen Nationalismus, von Wilhelm II. bis zu den Nazis, stand im Zeichen des Projekts, das antike Leitbild des Gymnasiums durch das deutsche zu ersetzen. Die Weimarer Republik bedeutete in diesem Prozess keine Unterbrechung.
Aus dem Dritten Reich ging das bundesrepublikanische Gymnasium in bemerkenswerter personeller Kontinuität hervor; trotz aller Entnazifizierungsverfahren fand, so Gass-Bolm, „nach wenigen Jahren nahezu jeder Lehrer - wie belastet auch immer - wieder eine Einstellung in seinem Beruf”. Aus einem Rassekundler, der 1936 das Ende des Zuflusses „von Judenblut in den deutschen Volkskörper” propagiert hatte, konnte ohne allzu große Umstände 1955 ein geachtetes Mitglied der Fachkommission Biologie für die Gymnasien Baden-Württembergs werden.
Anpassungsleistungen wurden keineswegs nur Individuen abverlangt. Geradezu atemberaubend ist, wie die Ergebnisse der erziehungswissenschaftlichen Forschung sich über Jahrzehnte hinweg als abhängige Variablen der wechselnden politischen Moden erweisen; wer die universitäre Disziplin namens Pädagogik abschaffen wollte, weil aus ihr ohnehin nur heraustönt, was ein eher geistloser esprit du temps in sie hineinruft, fände hier reiches Material. Freilich mag gerade der genannte Grund die wesentliche Existenzbedingung des Faches sein.
Macht Verrohung freier?
Was sich in den dreieinhalb Jahrzehnten, welchen Gass-Bolms Interesse gilt, am gründlichsten wandelte, war die Funktion des Gymnasiums. Der Versuch, die höhere Schule als kleine Ausleseschule zu erhalten, scheiterte nahezu auf ganzer Linie. Von der Stätte der Elitebildung wandelte sich das Gymnasium seit Anfang der sechziger Jahre zum Ort der Qualifizierung möglichst vieler Schüler. Der Preis lag auf der Hand; ein Abschluss, den viele erlangen, ist nahezu unvermeidlich von geringerem Wert als einer, der wenigen vorbehalten bleibt.
Nicht ganz ohne Zusammenhang damit fiel in die gleichen Jahre die Entdeckung der Schüler als Opfer des Systems, als Quasi-Proletariat, als, wie es in einer Selbstcharakterisierung von Gymnasiasten 1967 hieß, „rechtlose und unterdrückte Gruppe”. Dem antwortete Anfang der siebziger Jahre, kulminierend in den hessischen Rahmenrichtlinien, was Gass-Bolm triftig als „eine neue Form der Gesinnungsdidaktik, diesmal von links” bezeichnet. Dass auch sie sich nicht durchsetzte, erscheint in Gass-Bolms Darstellung, vor dem Hintergrund der Erosion des konservativen Leitbilds des ‚Klein, aber fein’ als eine Art historischer Gerechtigkeit. Natürlich nennt ein Historiker das nicht so. Es scheint, als werde diese seither unter der stillschweigenden Prämisse verwaltet, keine Seite, links wie rechts der Mitte, möge sie allzu sehr in Frage stellen. Ob es sich so verhält, liegt freilich außerhalb des Zeitraums, den der Autor untersucht.
Torsten Gass-Bolm ist ein kluges, gescheit abwägendes Buch gelungen. Nur in einem Punkt scheint er doch dem Zeitgeist aufgesessen zu sein: Die Überzeugung, dass Verwahrlosung der Manieren und Indifferenz gegenüber qualitativen Unterschieden kultureller Hervorbringungen die Menschen freier mache, lugt mehr als einmal hervor - nicht bloß zwischen den Zeilen, sondern aus ihnen. Hielt in den 1960er Jahren die Kommerzkultur an den Gymnasien ihren Einzug, kann Gass-Bolm sich das nur damit erklären, dass die höheren Schüler und sogar manche Lehrer „ihre Ressentiments aufgaben”; erlaubten die Eleven sich in den 1970er Jahren, die Füße auf den Tisch zu legen, vermag Gass-Bolm dies nur unter dem Gegensatz demokratisch versus autoritär zu thematisieren. Was eigentlich an der Ausbreitung rüden Benehmens demokratisch ist, müsste erst noch einer nachweisen. Darf ein Historiker es voraussetzen, bloß weil der Konsens darüber schon fast ein historisches Faktum ist? Mehr als das eine Fragezeichen mag ich nicht setzen hinter dies so umsichtig geschriebene, lehrreiche Buch.
ANDREAS DORSCHEL
TORSTEN GASS-BOLM: Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 490 Seiten, 40 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein "kluges, gescheit abwägendes Buch" sieht Rezensent Andreas Dorschel in Torsten Gass-Bolms Geschichte des westdeutschen Gymnasiums. Der Autor schildere nicht nur die Entwicklung des Gymnasiums zwischen 1945 und 1980, sondern auch die Vorgeschichte, weniger ausführlich zwar, aber "nicht weniger eindringlich". So erfährt man etwa, dass es in der Epoche des deutschen Nationalismus, von Wilhelm II. bis zu den Nazis, galt, das antike Leitbild des Gymnasiums durch das deutsche zu ersetzen. Weiter berichtet Dorschel, dass das bundesrepublikanische Gymnasium aus dem Dritten Reich in bemerkenswerter personeller Kontinuität hervorging. Aus einem Rassekundler habe etwa ein geachtetes Mitglied der Fachkommission Biologie für die Gymnasien Baden-Württembergs werden können. Am gründlichsten habe sich zwischen 1945 und 1980 die Funktion des Gymnasiums gewandelt - von einer Stätte der Elitebildung zum Ort der Qualifizierung möglichst vieler Schüler.

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