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Produktdetails
  • Verlag: Verlag Antje Kunstmann
  • Originaltitel: El gaucho insufrible
  • Artikelnr. des Verlages: 97446
  • Seitenzahl: 189
  • Erscheinungstermin: 29. August 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 194mm x 130mm x 20mm
  • Gewicht: 278g
  • ISBN-13: 9783888974465
  • ISBN-10: 3888974461
  • Artikelnr.: 20845945
Autorenporträt
Roberto Bolaño, geboren 1953 in Santiago de Chile, lebte in Mexiko, kehrte 1972 nach Chile zurück, saß nach Pinochets Militärputsch für kurze Zeit im Gefängnis und ging dann ins Exil. Seit 1976 lebte er mit seiner Familie in Spanien. Für sein Werk, das in viele Sprachen übersetzt wurde und in Deutschland bei Kunstmann und Hanser erscheint, erhielt er den renommierten Rómulo-Gallegos-Preis. Er starb 2004.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2006

Unter Gauchos
Bücher lügen: Roberto Bolaño über argentinische Phantasmen

Vernunft ist nicht käuflich. Geht aber das Geld zur Neige, sieht sich auch der Verstand bedroht. Daß ihnen wieder einmal reichlich unangenehme Zeiten bevorstünden, ahnten die Argentinier um die Jahrtausendwende, als Wirtschaftskrise und Staatsbankrott sämtliche Ersparnisse zunichte machten. Die Werte schmolzen dahin, und die Bürger wußten sich nicht anders zu helfen als durch die so lautstarken wie hilflosen "caceroladas", Demonstrationen im Rhythmus kraftvoll geschlagener Blechtöpfe.

Wo aber die Zukunft nichts mehr bietet, bringt sich das Wunschdenken ins Spiel und verzerrt die Realität nach Kräften. Daß die Wirklichkeit kaum weniger fiktiv ist als noch der phantastischste Roman, diese These faszinierte den 2003 verstorbenen chilenischen Autor Roberto Bolaño wie keine andere. Glanzstück dieser Arbeit am Imaginären war sein charmantes Büchlein "Die Naziliteratur in Amerika", eine Porträtsammlung rechtslastiger Autoren aus beiden Teilen des Kontinents. Der Text hätte wissenschaftliche Standards setzen können, wiese er nicht einen kleinen Schönheitsfehler auf: Die darin porträtierten Personen sind samt und sonders erfunden. Dieses Spiel an den Rändern des Wahns setzte Bolaño in seinen weiteren Büchern fort, und auch in den Texten des Erzählbands "Der unerträgliche Gaucho" knüpft er Realität und Fiktion noch einmal auf das engste aneinander.

Die Titelgeschichte spielt zur Zeit der argentinischen Wirtschaftskrise. Auf deren Höhepunkt entschließt sich der Rechtsanwalt Manuel Pereda, vor dem Chaos in Buenos Aires auf einen alten Familiensitz in der Pampa zu fliehen. Doch die Krise hält nicht nur die Stadt, sondern auch das Land im Griff, weshalb nur der ihr entkommt, der sie nach Kräften verdrängt. So auch Pereda: Kaum am Ziel, fühlt er sich in der erstbesten Schenke schon an Borges' Kurzgeschichte "Der Süden" erinnert. Fortan gibt er sich einer Pampa-Romantik hin, die durch den in düsterem Wahn endenden Text des argentinischen Dichters nicht einmal im Ansatz gedeckt ist.

Literarische Reminiszenzen ergeben sich auch beim nächsten Kneipenbesuch: Diesmal gehen Pereda Szenen einer Erzählung Mario Di Benedettos durch den Kopf - jenes Autors, der nach dem Militärputsch 1976 von den Häschern der Macht gefoltert wurde und das Land erst dank einer internationalen Solidaritätskampagne verlassen konnte.

Doch die historische Wirklichkeit beeindruckt den sonst so peniblen Rechtsanwalt ebensowenig wie die triste Realität des argentinischen Hinterlands, symbolisiert durch die Mitarbeiter einer spanischen NGO, die der mittellosen Landbevölkerung medizinische Hilfe leisten. Nein, vom Elend der Provinz will Pereda nichts wissen. "Argentinien ist ein Roman", erklärt er einigen um ihn versammelten Gauchos, "und demnach falsch oder zumindest verlogen." Die Pampa dagegen sei "das Ewige". Doch man muß Pereda korrigieren: Weitaus beständiger als die Pampa selbst sind die ihr gewidmeten Floskeln. "Zivilisation und Barbarei", auf diese Formel hatte Domingo Faustino Sarmiento, Schriftsteller und von 1868 an argentinischer Präsident, den Unterschied zwischen Hauptstadt und Hinterland einst gebracht - und damit einen Topos geschaffen, der in seiner griffigen Prägnanz sämtliche Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts unbeschadet überstand und als geflügeltes Wort wohl weiterhin bestehenbleibt. Vielleicht sogar aus gutem Grund: Bisweilen, muß Pereda bemerken, bleiben die angekündigten Züge aus der Hauptstadt einfach aus, "als wäre dieses Stück Argentinien nicht nur von der Landkarte, sondern auch aus der Erinnerung verschwunden". Darum betreibt der Rechtsanwalt einen privaten Gedächtniskult, schafft sich eine literarische Traumwelt, wie sie auch der 1949 geborene Autor César Aira in seinem Roman "Die Mestizin" inszeniert oder vielmehr karikiert.

Sämtliche Mythen der Pampa finden sich in Airas Roman märchenhaft überzeichnet, ganz so, als wäre die Pampa Ort eines gewaltigen Hirtenspiels, einer bukolischen Szenerie, die schon im frühen neunzehnten Jahrhundert, in dem der Roman spielt, längst hinfällig geworden ist und schließlich hart mit den Gepflogenheiten des längst auch ins Hinterland vorgedrungenen Kapitalismus kollidiert. Doch die Evidenz der Geschichte interessiert Pereda wenig. Er entscheidet sich schließlich auf immer für die Pampa, dem mächtigen Ruf der Fiktion folgend, deren Verführungskraft auch Thema der anderen Erzählungen des Bandes ist. Darin findet sich noch ein weiterer Reisender: der Schriftsteller Álvaro Rousselot, den es nach Paris verschlägt, der dort aber zur blanken Karikatur seiner selbst wird. Bolaño spielt an auf das Paris der 1950er Jahre, das zur neuen Heimat zahlreicher lateinamerikanischer Autoren, vor allem aber Möchtegernautoren, wurde. Was immer Literatur sein mag - nicht zuletzt, so deutet es die Geschichte an, ist sie Trug und Wahn, künstliches Paradies hirnloser Boheme.

So sieht es Bolaño auch in einem weiteren Text des Bandes, "Literatur + Krankheit = Krankheit". "Die Bücher sind endlich", heißt es dort, "die sexuellen Begegnungen sind endlich, aber das Verlangen, zu lesen und zu vögeln, ist unendlich, es überdauert unseren Tod, unsere Ängste, unsere Hoffnungen auf Frieden." Literatur also: kaum mehr als ein schlichtes Programm zur Erhaltung der Art? Ein ernüchternder Befund, der in noch einem Text anklingt. "Der Cthulhu-Mythos" heißt er in Anspielung auf eine von H. P. Lovecraft geschaffene Legende von außerirdischen Wesen, die all jenen Unheil brächten, die sich Gedanken um Sinn und Zweck ihres Daseins machten.

Gefeit gegen diese Macht scheinen nur manche Autoren zu sein, jene Nudeln des literarischen Betriebs, die sich mehr als ihrer Kunst ihrer Rolle bewußt sind. "Heutzutage", heißt es in dem Text, "sind Schriftsteller Funktionäre, sind Schriftsteller skrupellos, gehen ins Fitneßstudio und lassen ihre kleinen und großen Leiden in Houston oder in der New Yorker Mayo Klinik behandeln." Die Generalabrechnung - Bolaño nennt Namen - dürfte nicht nur ironisch gemeint sein. Denn sie deutet an, wie sehr sich manche Autoren den Regeln des Markts auf eine Art unterworfen haben, die in nichts mehr an jenes Versprechen der Transzendenz erinnert, das die Literatur einst gab. Indes: Daß die Fiktion die Wirklichkeit überschreite - vielleicht ist das ja die größte Illusion, die die Literatur überhaupt je hervorgebracht hat? Bolaño läßt das offen. Nur soviel steht fest: Wörtlich nehmen sollte man in der Literatur gar nichts.

KERSTEN KNIPP.

Roberto Bolaño: "Der unerträgliche Gaucho". Aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek und Peter Kultzen. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 191 S., geb., 16,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2006

Im Pantheon der Hundehütte
„Rinder, wo seid ihr?”: Roberto Bolaños schräge Redseligkeit in seinem Erzählungsband „Der unerträgliche Gaucho”
Auch wer das Motto von Kafka am Buchanfang überlesen haben sollte, würde der Anklänge schnell gewahr. Eine kühle Distanziertheit des Erzählens selbst in der Ich-Form, fragmentarische Detailschilderung, die das Beschriebene nur noch fremder macht, eine lokal stets überblendete Unüberschaubarkeit der Situation, meist in der Schwebe der Gegenwart zwischen einmaligem Jetzt und Dauerzustand – das zeichnet die Geschichten dieses Bandes aus. Im Stück „Der Rattenpolizist” wird der Hinweis auf Kafka dann explizit. Der Rattenpolizist José, genannt Pepe el Tira, ist ein Neffe von Josefine der Sängerin. Sein Volk ist mit dem Volk der Mäuse im Labyrinth der Kanalrohre wohl in Berührung gekommen, wahrscheinlich auch reproduktiv – genau weiß man das nicht. Pepe fahndet in toten Rohrleitungen, Nebenkanälen, frisch gebuddelten Tunnels nach mysteriösen Morden. Rattenleichen mit sauberen Bisswunden am Hals, ein totes Rattenbaby sogar ohne Verletzung, dafür mit einem Stoffstück als Knebel daneben, der wohl sein tagelanges Winseln unterdrücken sollte: Marder oder Schlangen können nach Pepes Einschätzung hier kaum am Werk gewesen sein. Ihm schwant ein für sein Volk furchtbarer Verdacht, den, kaum ist er angedeutet, seine Vorgesetzten ihm auszusprechen streng untersagen. Ratten töten keine Artgenossen.
Die seltsame Mischung aus Massenverhalten, wenn der Polizist Pepe zum Schlafen Fell an Fell sich an seine Kollegen schmiegt, und aus individueller Bewusstseinsdämmerung bei den Streifzügen durch abgelegene Kanalrohre ist in dieser Erzählung meisterhaft geglückt. Das Unheimliche döst am Rand der Normalität und springt einen manchmal als purer Aberwitz jäh an, wie in der Titelerzählung des Buchs ein Kaninchen dem friedlich durch die Pampa reitenden Verleger Ibarrola aus Buenos Aires plötzlich an die Gurgel springt. Ibarrola ist zu Gast bei Manuel Pereda, einem ehemalige Richter, der auf seinem heruntergekommenen Landgut in der entlegenen Gegend lebt. Pereda konnte den seltsamen Vorfall mit dem Kaninchen beim gemeinsamen Ausritt nur aus der Entfernung sehen als dunklen Fleck, der einen Bogen vom Boden zum Kopf des Reiters beschrieb und wieder verschwand. Die Bisswunde ist zum Glück nicht tödlich.
Das Glück der Abgründigen
Dieses Ereignis ist in der Erzählung auch gar nicht das Wesentliche. Unheimlicher ist das alltägliche Wuseln der Kaninchen, die an Stelle der früheren Rinderherden die unermessliche Pampa bevölkern. Wenn Pereda zu Pferd oder zu Fuß die ungefähre Umgrenzung seines Anwesens abschreitet, kommt es ihm manchmal vor, als könnte es nie mehr werden wie einst. „Rinder, schrie er, wo seid ihr?” Und auch politisch stimmt etwas nicht. Als eines Abends die für ihn arbeitenden Gauchos gestehen, dass sie allesamt irgendwie dem General Perón nachtrauern, zückt Pereda sein Messer und stellt sich auf blutigen Zweikampf ein. Doch die Männer weichen nur verängstigt zurück und fragen, was in ihn gefahren sei. „Darum laufen hier statt Rindern Karnickel herum”, sagt sich der Alte, während er resigniert auf sein Zimmer steigt.
   Der 1953 in Santiago de Chile geborene, vor zwei Jahren in Barcelona verstorbene Roberto Bolaño ist ein südamerikanischer Autor etwa so, wie Kafka Deutscher war. Sein Talent streift die Phantastik von Borges so souverän wie die giftige Ausdrücklichkeit eines Thomas Bernhard oder die lakonische Beiläufigkeit Raymond Queneaus. Besser als in seinen Romanen – im Nachlass soll noch ein Zweitausend-Seiten-Manuskript ruhen – kommt dies vielleicht in der kleineren Form dieser Texte zum Ausdruck. Fiktion, Autobiographisches, Literaturkritik schweben da subtil umeinander. Die Kunst des Abdriftens schafft den Eindruck eines dauernden Schwebezustands. Wenn im Stück „Literatur + Krankheit = Krankheit” unter dem Stichwort „Dionysos” zwei Nacht für Nacht miteinander vögelnde Gefängnishäftlinge, die im Grunde alles andere als schwul sind, plötzlich zur angeblichen Fähigkeit Victor Hugos, mit einem einzigen Bissen eine ganze Orange zu verzehren, überleiten und dann gleich weitergehen zu Hugos Behauptung in „Les Misérables”, abgründige Leute seien auch zu abgründiger Glückseligkeit fähig, stehen wir zunächst verloren im Assoziationsfluss des Texts, bis über die Figur des Dionysos die Spur zum Thema zurückführt: Dionysos ist heute überall, in Kirchen, NGOs, Regierungen, Königshäusern, Büros, Slums, und sein Gegenspieler ist nicht mehr Apollo, sondern Doña Kitsch, Don Spießer, Doña Einsame Neurone.
Mallarmé habe, so erfahren wir im selben Text, mit seinem Gedicht „Seewind” gegen das berühmte Reise-Gedicht Baudelaires vom Schluss der „Blumen des Bösen” Einwand erhoben: Doch, wenn Bücher und Sex nichts mehr versprechen könnten, bleibe das Reisen. Bolaño selbst scheint es eher mit Baudelaire zu halten und mit dessen „hellsichtiger Diagnose der Krankheit des modernen Menschen”. Um der Langeweile zu entfliehen, bleibe nur noch das Grauen, schreibt er: Oasen seien Oasen des Grauens geworden.
Dass dies so leicht dahingesagt und doch so wirkungsstark sein kann, liegt an der Tonsicherheit, mit der Bolaño zwischen den Genres wechselt. In den „Zwei katholischen Erzählungen” tritt das Grauen in Gestalt surrealer Einschüsse auf, wenn etwa im Irrenhaus nachts die Betten aufrecht durch die Flure geistern und die Insassen von hinten vergewaltigen. Dann auch sind die Aussagen wieder sehr direkt. Lateinamerika wird als das „Irrenhaus Europas” geschildert, das seit über sechzig Jahren in seinem eigenen Fett verbrenne. „Das Pantheon der bedeutenden Persönlichkeiten, entdecken wir entsetzt, ist die Hundehütte des brennenden Irrenhauses”, heißt es im Abschlusstext des Bandes. Die Rettung des Lebens liege nicht bei Proust oder Joyce, sondern im Feuilleton – „ach je, das Feuilleton. Aber wir sind Nieten im Bett und vermutlich werden wir wieder Mist bauen.” Bolaños artistisch überhöhte Redseligkeit erreicht in diesen – vorzüglich übersetzten – Texten, wo hinter der Krankheit mitunter schon das Auge des Todes zwinkert, einen Höhepunkt schräger Verzweiflung.JOSEPH HANIMANN
ROBERTO BOLAÑO: Der unerträgliche Gaucho. Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek und Peter Kultzen. Verlag Antje Kunstmann, München, 2006. 189 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Recht angetan ist Rezensent Kersten Knipp diesen Erzählungen gefolgt, die er als realistisches "Spiel an den Rändern des Wahns" gelesen hat. Als Grundthese der Prosa des chilenischen Schriftstellers betrachtet Knipp die Annahme, dass die Wirklichkeit mindestens so fiktiv wie der "fantastischste Roman" sein kann. Unter Zuhilfenahme einiger Inhaltsskizzen von Erzählungen, in denen der Rezensent Realität und Fiktion eng verzahnt fand, spielt er einmal durch, was Autor Roberto Bolano damit meinen könnte. Es geht, wie wir lesen, um Schriftsteller und ihre Bücher. Um Autoren, die von den Regeln des Marktes korrumpiert sind und die Literatur verraten haben. Und um das unsterbliche Verlangen des Menschen und Lesers nach Authentischem, seine ewige Gier "zu lesen und zu vögeln".

© Perlentaucher Medien GmbH