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Produktdetails
  • Verlag: Schirmer/Mosel
  • Seitenzahl: 367
  • Abmessung: 315mm
  • Gewicht: 2550g
  • ISBN-13: 9783888149344
  • ISBN-10: 3888149347
  • Artikelnr.: 24063525
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Faszination von Leben und Werk der Fotografin Germaine Krull teilt sich in Volker Breideckers Rezension ohne Umwege mit. Über die besprochene Monografie verliert er nämlich kaum ein Wort und beschränkt sich auf die Nacherzählung des bewegten Lebens und die Einordnung des erst spät wiederentdeckten Werks in die Situation der Avantgarde Ende der zwanziger Jahre. Er sieht Germaine Krull als Muster der Reporter-Fotografin, deren Kunst gerade durch den Verzicht auf jeden Kunstanspruch, im Alltäglichen und im Seriellen die Signatur der Industrie-Moderne eingefangen habe. Für die Ausbreitung des "Neuen Sehens" schreibt er der damaligen Pariser Bildkorrespondentin der "Frankfurter Zeitung" eine "Schlüsselrolle" zu. Im letzten Drittel seiner Besprechung resümiert Breidecker das Leben Krulls von der Teilnahme an der Novemberrevolution bis zum späteren Beruf als Hotelmanagerin in Bangkok. Über die Monografie von Kim Sichel ist in erster Linie zu erfahren, dass sie "großzügig bebildert" ist - Negatives gibt es offensichtlich nicht anzumerken.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2000

Sehen, nichts als sehen
Schrägsichten auf den Straßen: Die Fotografin Germaine Krull · Von Volker Breidecker

Unter dem Antrieb der Rotationspressen und den Drehbewegungen des Konkurrenzmediums Film entdeckten Wort- und Bildreporter in den zwanziger Jahren die Straße und die Denkmäler des modernen Lebens. Skizzenblöcke und Handkameras wetteiferten um die Aufzeichnung der sichtbaren Welt und taten sich unter dem Dach der illustrierten Presse zusammen. Das Zweckbündnis von Journalismus, Ingenieurwesen und Avantgarde erreichte seine Blütezeit im Jahre 1928 und löste Wallfahrten zu den archäologischen Stätten der mechanisierten Industriekultur aus. Ein Blick in die Archive des im Jahr zuvor verstorbenen Pariser Straßenfotografen Eugene Atget, eine Fahrt im Aufzugsschacht des Eiffelturms oder ein Spaziergang durch die Häfen von Marseille und Rotterdam verhalf den Pionieren und Verstärkern der Avantgarde zu ähnlichen Einsichten in die Antike ihrer Moderne wie den Protagonisten der italienischen Hochrenaissance einst die Ausgrabung der verschollenen Marmorgruppe des "Laokoon" vor den Toren Roms.

"Sehen, nur Sehen!", überschrieb die Reisebeilage der "Frankfurter Zeitung" Anfang 1928 einen ganzseitigen illustrierten Bericht ihres Pariser Korrespondenten Friedrich Sieburg mit Ansichten des Eiffelturms aus der Hand eines ungenannten Fotografen. Viele dieser anonymen Pressefotos gerieten mitsamt ihren Urhebern rasch in Vergessenheit. Erst später wurden sie zu Kunstwerken nobilitiert, sofern sie sich den kanonischen Gesetzen des Kunstbetriebs nicht beharrlich verweigerten. Wer die damalige Pariser Bildkorrespondentin der Zeitung war und welche Schlüsselrolle sie nicht nur für die internationale Ausbreitung des "Neuen Sehens", sondern auch für die Bildgeschichte und Archäologie der Moderne schlechthin ausübte, ist jetzt einer großzügig bebilderten Monographie der amerikanischen Kunsthistorikerin Kim Sichel über das Leben und Werk der aus Deutschland stammenden Fotografin Germaine Krull (1897 bis 1985) zu entnehmen.

Im Frühjahr 1928 wurde der Dokumentarfilm "Die Brücke" des Holländers Joris Ivens über die kühne Eisenkonstruktion der Rotterdamer Hafenbrücke uraufgeführt: Größere Verbreitung als der stumme Film über ein stummes Objekt fanden seine anonymen Standfotos: Sie stammten von Germaine Krull, die mit Ivens, den sie in Berliner und Amsterdamer Avantgardezirkeln kennen gelernt hatte, vorübergehend verheiratet war. Persönlichen Ruhm erlangte Krull im gleichen Jahr mit dem in Frankreich und Deutschland erschienenen Fotoband "Métal". Ihre Aufnahmen von Eisentürmen, Hebekränen und Schwebebrücken wurden von der Pariser Avantgarde zu Ikonen erhoben und brachten der illustrierten Presse ein neues Sehen bei.

Im Sommer desselben Jahres erschien Sigfried Giedions Manifest "Bauen in Frankreich". Reich bebildert mit Fotos in den auch von Krull bevorzugten Schrägsichten auf die Eisenskelette von Ingenieursbauten gleicher Provenienz, verhalf der Band einem neuartigen Buchtypus der plakativen Konfrontation von Bild und Wort zum Durchbruch. Walter Benjamin kamen beim Durchblättern erste Eingebungen zum "Passagenwerk" - freilich auf der zusätzlichen Unterlage eines mit einem Foto von Krull illustrierten und mit "Architekturen des Zufalls" betitelten Essays seines Mitstreiters Franz Hessel. Der Würdigung Krulls in Benjamins "Kleiner Geschichte der Photographie" ist überhaupt zu verdanken, dass ihr Name überliefert wurde. Eine erste Werkschau wurde der Bildreporterin 1977 zuteil, bis das Essener Folkwang-Museum im vergangenen Jahr eine umfangreiche Retrospektive auf den Ausstellungsweg schickte.

Anders als ihre Avantgardefreunde hatte Krull, nach konventionellen Anfängen als Schwabinger Atelier- und Bohemefotografin, den Künstlerkothurn abgelegt und sich auch dem später einsetzenden Kult der Originalabzüge entzogen. Sie bediente vorwiegend die illustrierte Presse, daneben auch die Werbeindustrie, und produzierte serienweise Foto- und Reisebände. "Der wahre Fotograf", so lautete ihr Credo, "ist der Zeuge der täglichen Ereignisse, ein Reporter." Krulls fotografischer Einstellung entsprach ein abenteuerliches Wanderleben, das die Tochter eines freigeistigen Ingenieurs und einer mobilen Pensionsbesitzerin über die geographischen und politischen Kontinente ihres Jahrhunderts ziehen ließ.

Im vormaligen Ostpreußen geboren, in Italien, Frankreich und der Schweiz aufgewachsen, hatte Krull sich in München vor der künstlerischen einer anderen Avantgarde angeschlossen. Seltsamerweise nahm die Kamera keinen Anteil an den radikalen Aktivitäten der Novemberrevolutionärin, die nach ihrer Ausweisung aus Bayern nach Russland ging und in erster Ehe einen Bolschewiki heiratete. Für die bald der Linksabweichung Beschuldigte wäre das Experiment beinahe tödlich ausgegangen, als sie mit den Gefängnissen und den Erschießungskommandos der Tscheka Bekanntschaft schloss. Der Diktatur des Proletariats entronnen, nahm sie in Berlin wieder die Kamera zur Hand und entdeckte von neuem die Straße, diesmal als Ort der anonymen Bewegungen. Über Amsterdam zog es sie Mitte der zwanziger Jahre nach Paris, das sie bei Kriegsausbruch 1939 verließ. Über Lateinamerika steuerte sie Afrika an, um sich in der Uniform einer Kriegsreporterin den Truppen des Generals de Gaulle anzuschließen. Mit der Südinvasion kehrte sie nach Frankreich zurück, zog in das befreite Paris ein und machte sich bald wieder auf den Weg. Nach kurzer Tätigkeit als Kriegskorrespondentin in Indochina ließ sie sich dauerhaft in Thailand nieder.

Sesshaft wurde sie in Asien wie nur eine Reporterin sesshaft werden kann, die ihren Stammplatz längst in den Wartesälen der Geschichte gebucht hatte: In Bangkok kaufte sie sich in das Kolonialhotel "Oriental" ein, um als dessen Managerin die Hotelhalle zu bedienen, die der mobilen Bilderfrau vielleicht als der einzig verlässliche Ort in einem Jahrhundert erschien, das gar zu viele Heere und Karawanen auf den Weg geschickt hatte. Ihr fotografisches Handwerk behielt sie bei: Wie während des Kriegs auf den afrikanischen Expeditionen benutzte sie die Kamera als ethnographisches und - wie in den Häfen von Rotterdam und Marseille - als archäologisches Werkzeug. Nach Deutschland kehrte Germaine Krull nur ein Mal zurück, um in Wetzlar, dem Ort von Goethes Lotte, ihr Leben zu beschließen.

Kim Sichel: "Avantgarde als Abenteuer". Leben und Werk der Photographin Germaine Krull. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jörg Trobitius. Schirmer Mosel Verlag, München 1999, 367 S., Abb., geb. 148,- DM.

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