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Deutsche Triebe die Verstrickung von Sexualität und Politik
Eine ebenso provokante wie überzeugende und gut lesbare Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität in Deutschland. Im Zentrum stehen der Nationalsozialismus sowie der Aufbruch von 1968. Diese bahnbrechende Studie steckt voller Überraschungen: Dagmar Herzog zeigt, dass die Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Politik und Sexualität zentrale Fragen der deutschen Geschichte neu zu beleuchten vermag.
Wie hängen Empfängnisverhütung, Pornografie, Sexualmoral, Homo- und Heterosexualität mit Antisemitismus und
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Produktbeschreibung
Deutsche Triebe die Verstrickung von Sexualität und Politik

Eine ebenso provokante wie überzeugende und gut lesbare Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität in Deutschland. Im Zentrum stehen der Nationalsozialismus sowie der Aufbruch von 1968. Diese bahnbrechende Studie steckt voller Überraschungen: Dagmar Herzog zeigt, dass die Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Politik und Sexualität zentrale Fragen der deutschen Geschichte neu zu beleuchten vermag.

Wie hängen Empfängnisverhütung, Pornografie, Sexualmoral, Homo- und Heterosexualität mit Antisemitismus und Nationalsozialismus zusammen, mit der Verarbeitung der Niederlage von 1945, der Beziehung von Kirche und Staat in der Nachkriegszeit, der Studentenrevolte in der BRD oder der wechselvollen Beziehung zwischen Regime und Bevölkerung in vier Jahrzehnten DDR? Kurz: Welche neuen Erkenntnisse für wichtige Fragen der deutschen Geschichte lassen sich durch einen genauen Blick auf den Umgang mit Sexualität gewinnen?
Die Antwort gibt Dagmar Herzog in diesem Buch. In einer umfassenden Sexualgeschichte Deutschlands von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart zeichnet sie nach, wie Lust und Moral im zwanzigsten Jahrhundert zu machtvollen Instrumenten der politischen Auseinandersetzung wurden. Pointiert und mit überraschenden Ergebnissen zeigt Herzog, wie und warum sich ausgerechnet der Bereich der Sexualität zu einem Hauptschauplatz der Debatte über die deutsche Vergangenheit, über Schuld und Massenmord, über Moral und Ethik entwickelte.
Lebhaft und anschaulich macht »Die Politisierung der Lust« einem breiten Publikum deutlich, warum eine politische Geschichte Deutschlands ohne die Einbeziehung von Sexualität unvollständig ist.
Autorenporträt
Dagmar Herzog, geboren 1961, ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Sexualität und zu Gender-Fragen sowie zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2005

Die lose Volksgemeinschaft
Libertäre Nazis? Muffige Fünfziger? Unverklemmte Achtundsechziger? Dagmar Herzogs deutsche Sexualgeschichte
Im Nationalsozialismus wurde, schreibt die in New York lehrende Historikerin Dagmar Herzog, die „Mehrheit der Deutschen angespornt und ermuntert, sexuelles Vergnügen zu suchen und zu erfahren”. Die überkommenden Moralvorstellungen taten die Nazis als moralinsaure „pfäffische Heuchelei” ab. Erst mit der wirkmächtigen Geschichtspolitik der 68er-Studentenbewegung seien diese libertären Elemente nationalsozialistischer Sexualpolitik nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die sexuelle Revolution inszenierte sich in demonstrativer Absetzung vom NS-Regime, welches man als pervertiertes Projekt sexueller Repression imaginierte. Vor allem die spießige, repressive und autoritäre Kleinfamilie galt als psychologische Agentur, die Sadomasochismus und Holocaust erst ermöglicht habe.
Mit diesen Paukenschlägen kündigt sich eine Geschichte deutscher Sexualität und Politik im 20. Jahrhundert an, in deren Zentrum die umgedeutete Erinnerung an die nationalsozialistische Sexualpolitik steht. Bei den Ärzten und Bevölkerungsexperten, in dem Hetzblatt Stürmer oder der SS-Postille Das Schwarze Korps findet die Historikerin keineswegs asexuelle, verklemmte oder prüde Selbstbeschreibungen. Vielmehr seien die Nazis Anhänger freier Liebe unter „Volksgenossen” gewesen, denen an sexuellen Kontakten außerhalb der Ehe und am Körperkult gelegen habe. Diese Freimütigkeit war es, die den Widerspruch der christlichen Kirchen heraufbeschwor, wobei deren Kritik an der NS-Sexualmoral stärker zu vernehmen war als die gegen den Antisemitismus, der vor allem von der protestantischen Kirche als „Zurückdrängung des ‚jüdischen Einflusses‘ aus dem öffentlichen Leben” begrüßt wurde.
Zwar sei die NS-Sexualpolitik antisemitisch und rassistisch überformt gewesen, aber innerhalb der Grenzen einer so definierten „Volksgemeinschaft” sei sie, betont die Autorin immer wieder, libertär gewesen. Das Regime thematisierte Sex öffentlich als etwas Natürliches und Reines und förderte den außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr - etwa in BDM, HJ oder Reichsarbeitsdienst. Diese Freizügigkeit erkläre auch die Bindung der Jugendlichen an das Regime.
Dass die Nationalsozialisten im Jahr 1938 selbst die Scheidungsgesetzgebung lockerten, geschah allerdings vor allem dann, wenn die „ehelichen Pflichten” aus ihrer Sicht mangelhaft erfüllt, Verhütungsmittel eingesetzt oder Unfruchtbarkeit festgestellt worden war. Fortpflanzung in oder außerhalb der Ehe war es also, die sich die Nazis angesichts sinkender Geburtenraten seit Beginn des 20. Jahrhunderts wünschten. Vor allem die Männer - zumal in den Kriegsjahren von 1942 an - wurden zur Untreue ermutigt.
Die nationalsozialistische Nacktkultur wirkte im Vergleich zur abgelehnten Laszivität und Lüsternheit, die man der Weimarer Vergnügungsindustrie und den Juden zuschrieb, starr und steril. Zudem waren die Sterilisation „Erbkranker”, die Kriminalisierung der Abtreibung und homosexueller Akte, das Verbot sexueller Kontakte zu Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen die Kehrseiten einer keineswegs frei wählbaren Libertinage. Diese Ambivalenz kommt, wie auch die keineswegs so liberale Praxis im Sexualverhalten der „Volksdeutschen”, in der auf eine These zugespitzten Darstellung Herzogs jedoch zu kurz.
Herzog repliziert somit einen Blick auf die Sexualpolitik der Nazis, der, wie sie selbst ausführlich zeigt, für die fünfziger Jahre typisch war. Nachdem in den Wirren der Nachkriegsjahre viele Ehen auseinander gebrochen waren und sich der vor- und außereheliche Geschlechtsverkehr Ende der vierziger Jahre erstaunlich hoher Zustimmung erfreute, setzte sich spätestens Mitte der Fünfziger die Auffassung durch, gegen die nationalsozialistische Liberalisierung und die Verwirrung der Nachkriegsjahre der Freimütigkeit durch die Propagierung anständiger Manieren Einhalt bieten zu müssen. Man sprach sich für die Beschränkung der Sexualität auf die Ehe aus, und sollte über den sündigen Sex, der insbesondere für Frauen ungehörig sei, möglichst nicht öffentlich sprechen.
Die klassischen Vorstellungen vom züchtig ehelichen Sex, von Häuslichkeit und weiblicher Anpassung an den Mann als Familienoberhaupt galten insofern als Heilmittel gegen die antibourgeoise Lasterhaftigkeit der Nazis. Dass Begehren und Triebe irgendwie schmutzig seien und einzudämmen waren - darin zeigten sich der CDU-Familienminister Franz-Josef Wuermeling und konservative Sexualpädagogen wie Heinrich von Gagern einig. Gleich 1952 beschloss der Bundestag, gegen „Schund und Schmutz” einzuschreiten. Der Heimlichtuerei und der Scham standen indes hohe Abtreibungsraten von jährlich bis zu einer Million gegenüber; die Sexualpraxis der Deutschen folgte also keineswegs ungebrochen diesem Diskurs.
Zehnmal mehr gebumst
Zudem lässt sich die Muffigkeit der fünfziger Jahre nicht gänzlich als Versuch deuten, mit der NS-Vergangenheit fertig zu werden. Denn zweifellos wurden zu dieser Zeit auch Teile des Frauenbildes, der Homophobie und christliche Überzeugungen aus der NS-Zeit fortgeschrieben. Der bedeutende Kuppeleiparagraf etwa, der Vermietern und Eltern mit Strafen drohte, wenn sie duldeten, dass unverheiratete mündige Paare zusammenfanden, war ja keine Erfindung der fünfziger Jahre, sondern stammte aus der NS-Zeit.
Die „erstickende Verklemmtheit” und der moralische Konformismus der fünfziger Jahre waren es letztlich, so die Autorin, welche die Forderungen nach einer „sexuellen Revolution” durch die Achtundsechziger mit besonderer Vehemenz ausgestattet hatten. Gleichzeitig hatte die „Sexwelle” der sechziger Jahre zur Vermarktung pornografischer Bilder und Texte geführt. Nacktheit und außerehelicher Sex wurden nicht nur zu Konsumgütern, sondern auch zu öffentlich verhandelten Themen in Presse und Werbung. „Sex sells” hieß es von Oswald Kolles Aufklärungsfilmen bis zu Beate Uhse, die ihren ersten größeren Laden 1965 in Hamburg eröffnete.
Die Studentenbewegung betrachtete dies mit gemischten Gefühlen - denn so sehr sie der Konsumkapitalismus störte, so sehr begrüßte sie doch den Abschied von der Verklemmtheit. Aber auch wenn „zehnmal mehr gebumst würde als früher” (Publikation der Berliner Kinderläden), ging es den Rebellierenden doch um etwas anderes: die Revolutionierung der Gesellschaft, die Überwindung „autoritärer Charakterstrukturen” und der angeblich repressiven Verhältnisse kleinbürgerlicher Familien. Befreite Sexualität und progressive Politik hingen unmittelbar zusammen, denn erst die „autoritär-masochistische” bürgerliche Kleinfamilie mit ihrer strikten Sauberkeitserziehung und Unterdrückung kindlicher Sexualität habe Hitler möglich gemacht. Dagegen nun setzte man neue Formen der antiautoritären Erziehung und des Zusammenlebens, die die psychologische Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft schaffen sollten.
Dagmar Herzogs spöttelnde Charakterisierung der Kinderladenbewegung mit ihrer Fixierung auf ein Abziehbild vom verklemmten Nazischläger zeigt, wie verunsichert die Achtundsechziger waren. Ihre Kapitulation vor kindlicher Sexualität, ihr Erstarren, wenn die Kinder Interesse an den Genitalien der Erwachsenen zeigten, offenbart, wie schwer der souveräne Umgang mit den verherrlichten Kinderladenkindern fiel, wie gewunden man Respekt und Grenzziehungen artikulierte. Konfliktlösungen waren hier, wenn man sie nicht mit Ideologieverdacht oder Dogmatismusvorwurf sanktionieren konnte, ungewohnt und ungelernt. Den Autoritarismus und Konservatismus, unter dem sie in den fünfziger Jahren erzogen worden waren, (miss-)verstanden viele als bloße Kontinuität des Nationalsozialismus. Herzog folgt hier der Interpretation Reimut Reiches, der das Trauma der Studentenbewegung darin erkannte, dass sie Schuld und Trauer nach dem von der Elterngeneration organisierten Holocaust durch politischen Aktivismus und Verschiebungen in den Bereich der Sexualität zu bewältigen suchte.
Nach einem Überblickskapitel über die Verhältnisse in der DDR endet das Buch mit einem Kapitel über die siebziger Jahre - über die Lockerung des Sexualstrafrechts, die Schwulenbewegung, den Kampf gegen den Paragrafen 218 und die zunehmende Sensibilisierung für männliche Militanz und „Mackertum” in der linken Alternativbewegung.
Sexologen und Zeitzeugen
Herzogs Buch handelt also von den ideologischen Auseinandersetzungen um die deutsche Sexualität von 1933 bis in die späten 1970er Jahre - mit einem kurzen Ausblick auf die Jahre nach 1989. Die politischen Vorschriften, Moralkodizes und Meinungen von Ideologen, Regierungsvertretern, professionellen Deutern und Sexologen, von Journalisten, Kirchenvertretern und zuweilen auch von interviewten Zeitzeugen werden ineinander verschachtelt und zu einer lesenswerten Diskursgeschichte verwoben.
Welchem theoretischen Prinzip sich diese Collagetechnik jedoch verpflichtet weiß und welche Argumentationslinie die Autorin verfolgt, bleibt unklar. Vorschriften und praktisches Verhalten werden leider nicht immer sauber voneinander getrennt. Inwieweit und warum das Sexualverhalten der Deutschen den unterschiedlichen Diskursen der Experten, Regierungsvertreter oder Kirchen folgte, wird nur selten beantwortet. Dass allein das Erbe des und die Erinnerung an den Nationalsozialismus den wechselhaften Verlauf der deutschen Sexualpolitik bestimmte, mag man aufgrund ähnlicher Entwicklungen in anderen westeuropäischen Gesellschaften letztlich bezweifeln. Kurzum: Auch in dieser interessanten Untersuchung erfährt man nicht alles, was man schon immer über Sex wissen wollte.
SVEN REICHARDT
DAGMAR HERZOG: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Siedler Verlag, München 2005. 431 Seiten, 24,90 Euro.
„Politisierung der Lust”: Hier wird Curt J. Bauer, der Bundesvorsitzende der „Deutschen Sex-Partei”, im Jahr 1972 von Mitgliedern der Partei umringt, die sich für mehr sexuelle Freizügigkeit sowie die Ostverträge einsetzte.
SV-Bilderdienst
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2005

Große Lust nach Hitler
Dagmar Herzog untersucht die Reflexe der sexuellen Befreiung

Was der mehr oder weniger politische und eher mehr als weniger kulturelle Krawall, den man inzwischen "Studentenrevolte" oder "Achtundsechzig" zu nennen gewohnt ist, eigentlich genau mit der zur ungefähr gleichen Zeit stattfindenden erotischen Enthemmung der Medienwelt des Westens, also mit einer neuen, bald verschwitzt "Sexwelle" getauften kulturindustriellen Libertinage und gleichzeitiger politisierter Subjektivitätspropaganda, genau zu tun hatte und ob überhaupt etwas, ist selten systematisch untersucht worden.

Man hat in ihrem Zusammentreffen zumeist eher ein atmosphärisches Phänomen als einen Kausalzusammenhang gesehen: Es ballen sich da plötzlich, ungefähr zeitgleich mit der Erfindung der Verhütungspille, massige Fleischwolken am zeitgeschichtlichen Horizont, manchmal blitzt es ein bißchen in einschlägigen Kunstwerken, häufiger donnert wortreich abstrakte Befreiungsrhetorik. Solche miteinander nur in Gestalt von rückblickend sehr blaß und abstrakt wirkenden ideologischen Hilfskonstruktionen vermittelten Gleichzeitigkeiten scheinen sowieso das Wesen jenes Krawalls auszumachen: Daß die Befreiung des Staates der Bundesrepublik Deutschland von aus der Hitlerära übernommenen Funktionären, die Befreiung der Völker der Dritten Welt von kolonialer oder neoimperialistischer Unterdrückung und die Befreiung des pubertierenden jungen Mannes von Hemmungen aller Art mehr oder weniger dasselbe seien oder doch jedenfalls einander irgendwie wechselseitig speisen und entzünden könnten, scheint als eine Art Stimmungskonsens verschiedene operationale und argumentative Zuckungen bis Unternehmungen der sogenannten Achtundsechziger animiert zu haben.

Daß man diese vage Einmütigkeit durchaus nicht nur mit reaktionären Einwänden ansägen kann, ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden - nicht nur an "transgressiven" oder von "Gender Studies" inspirierten Angriffen auf den "Heterosexismus" der seinerzeitigen sexuellen Emanzipationsbegrifflichkeit, sondern auch in Form von Rekonstruktionsversuchen, die einzelne Momente der "Befreiungs"-Konstellation gegen andere in Stellung bringen: Wenn Klaus Theweleit behauptet, die Sexualisierung der Revolte habe der erleichternden Abführung ihrer antifaschistisch-moralischen Seite gedient, denn wer sich mit Orgasmusschwierigkeiten plagt, hat eine prima Ausrede parat, sich nicht mehr mit den eigenen Eltern wegen deren Nazi-Vergangenheit anzulegen, löst er den Konsens in solche widerstreitenden Aspekte auf.

Man könnte dergleichen späte Revisionsansätze für typische Versuche halten, dem Legitimationsverlust der Linken, den jede ihrer historischen Niederlagen mit sich bringt, durch Radikalisierung von Ansprüchen und als Kritik an Vorläufern maskierte Selbstkritik etwas entgegenzusetzen. Die Wahrheit ist aber, daß es derartige Zweifel an der Nützlichkeit der Enthemmungslogik für das systemstürzende politische Programm schon damals gab - Reimut Reiches zu Unrecht vergessene Studie "Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung" etwa ist im "Verlag Neue Kritik" schon 1970 erschienen.

Sprünge im Körperpanzer

Wo ein polarisiertes Zeitbild und nachträgliche Wertungsansätze sich so ineinander verkeilt haben wie bei diesem Thema, wünscht man sich manchmal einen etwas fremderen Blick, ein bißchen mehr Distanz. Dagmar Herzogs neue und sehr gründliche Monographie "Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" sieht die Sache mit amerikanischen Augen und sucht sie amerikanischen Neugierigen vorzustellen. Das erklärt viele Vorzüge des Buches: Nichts gilt für selbstverständlich, jede Quelle, von der amtlichen Verordnung bis zur illustrierten, wird politisch und ästhetisch in ihren Kontext eingefügt.

Herzogs Ehrgeiz geht dahin, den Bogen vom todernst gemeinten nationalsozialistischen Versprechen, "eine durchgreifende moralische Sanierung am Volkskörper vorzunehmen" (Hitler), für das sich bekanntlich nicht nur die "alten steinkalten Jungfern" (Hans Wollschläger) im Reich erwärmen konnten, bis zu den unruhigen Zeiten zu schlagen, da man in Wohngemeinschaften und kollektivistischen Kinderläden die Schriften Wilhelm Reichs, Vera Schmidts und Kurt Seelmanns studierte und "gegen jede sexuelle, ökonomische und politische Unterdrückung" (Reich) an der Erziehungs- wie an der Geschlechterrollenfront kühne Sozialexperimente mit ebenso individuellen wie sozialen Folgen riskierte. Oft wird aus dem Material deutlich, daß die psychische und moralische Dramatik jener Experimente zumindest für die direkt Beteiligten den Entscheidungen über Leben und Tod, die etwa bei der Roten Armee Fraktion getroffen wurden, in nicht wenigen Fällen ebenbürtig war.

Vom "Körperpanzer" (Theweleit) des faschistischen Mannes weiß Herzog, daß er von einer Triebdynamik bewegt war, die nicht alle Begierden auf Nullniveau heruntergefahren hat - es gab unter Hitler, wenn auch anders als in der sumpfgasblasentreibenden Vorstellungswelt des Romanciers Thor Kunkel, so etwas wie Nazi-Pornographie, in welcher Entjungferungs- und andere auf "Reinheit" als besonders kitzelnden Reiz abfahrende Phantasien ihre abgeschmackte Rolle spielten. Reaktionäre Sexualpolitik kirchlicher Provenienz, man wußte das, aber Herzog macht auch dies noch einmal sehr deutlich, unterscheidet sich von genuin faschistischer in mindestens so vielen Punkten wie der religiöse Antijudaismus vom pseudowissenschaftlichen Rassen-Antisemitismus.

Die fälligen Differenzierungen treibt Herzog weit voran, schießt dabei aber insoweit gelegentlich über das Ziel einer akkuraten Wiedergabe der Lustökonomie des Nationalsozialismus hinaus, als ihr offenbar viel daran gelegen ist, durch Wendungen wie die von den "sowohl antisexuellen wie prosexuellen Bemühungen der Nazis" so etwas wie eine neue Entdeckung zu suggerieren: daß das herkömmliche Bild vom "sexualfeindlichen Faschismus" nicht stimme, mindestens arg schief sei: "Die offenkundig brutalen Aspekte der NS-Sexualpolitik waren nicht in eine insgesamt sexualitätsfeindliche Haltung eingebettet. Vielmehr wurde die Mehrheit der Deutschen damals angespornt und ermuntert, sexuelles Vergnügen zu suchen und zu erfahren." Wir sollen also lernen, daß die Nazis so prüde nicht gewesen sind, wie die Nachkriegslinke sie oft gemalt hat.

Wenn Herzog von konfliktuierenden Identitäten schreibt oder Himmlers feuchte Polygamieträume erörtert, teilt sich der Eindruck mit, hier solle an einem Tabu gerüttelt werden, nämlich dem der Identifikation von "rechts" und "abstinent" beziehungsweise "repressiv". Was die Autorin, die von den faschistischen Urszenen der Politisierung des Sexuellen zu deren Komplementärbildern nach dem Krieg fortschreitet, vor lauter Paradigmenwechseleifer unter den Tisch fallen läßt, ist die banale Tatsache, daß seit spätestens Wilhelm Reich bekannt ist, warum zu allen Formen rechter, das heißt heteronomer Sexualpolitik autoritär lizenzierte Formen der Triebabfuhr gehören - das Institut der Einehe verläßt sich, wie man weiß, durchaus billigend auf die Prostitution als ihr erniedrigtes, in die kontrollierte Schmuddelzone abgeschobenes Ventil für alles nicht der Zeugung Dienende an der Lust, und der islamische Märtyrer soll nur so lange Zucht halten, bis er in den Himmel kommt, wo transzendente Freudenmädchen auf ihn warten.

Der rote Faden der Mündigkeit

Weil ihr das Kriterium der Autonomie bei der Partnerwahl und der Lustausgestaltung fehlt, weil sie den roten Faden linker Sexualpolitik von den sensualistischen Aufklärern um LaMettrie bis zur heutigen Queerbewegung nicht kennen will, nämlich die Forderung, daß sexueller Verkehr einzig und allein der Lust der mündig und aus freien Stücken daran Beteiligten dienen soll, kann sie die Grenzen zwischen der frenetischen Promiskuität, mit der die Studentenbewegten diese Forderung umsetzen wollen, und dem Züchtungsbordellwahnsinn der Nationalsozialisten tendenziell verwischen - auch wenn sie dann immer wieder kurz vor dem Punkt haltmacht, an dem eine neue Variante der Totalitarismustheorie sich abzuzeichnen droht, wonach das Gemeinsame der Roten und der Braunen vor allem die Geilheit war.

Vielleicht kann man, wenn man an einer amerikanischen Universität lehrt, auch einfach den Gedanken nicht verstehen, daß der eigentlich wider die Achtundsechziger-Libertinage zu erhebende Vorwurf der sein müßte, daß sie der heutigen Porno-Industrie ein scheinemanzipatives Testgelände bereitgestellt hat. Gegen die neue Heteronomie der Geschlechterverhältnisse, die diesmal eine des zuhälterischen Pop-Kapitalismus statt eine völkische wurde, gegen das glamourisierte zwangsheterosexuelle Sportvögeln, das heute von "Fit for fun"-Fundamentalisten ausgeschrien wird, ist Herzog blind.

So ist denn ihre Perspektive nicht an den tatsächlichen Erkenntniszugewinnen auf jenem Gebiet orientiert, welche die europäische Moderne eingebracht und erlitten hat, sondern eher an den auf dem durchschnittlich aufgeklärten amerikanischen Campus praktizierten und debattierten "sexual politics": Natürlich sind für diese Sicht die Homosexuellenverfolgung und die scharfen Sanktionen gegen Abtreibungswillige wichtige Indikatoren repressiver Sexualpolitik im Westdeutschland der ersten Nachkriegszeit. Aber sie betreffen - drollig, daß man das hervorheben muß - eben Minderheiten: Homosexuelle und ungewollt schwanger gewordene Frauen. Die Stickluft und Tristesse der fraglichen Zeit dürften für die Wahrnehmung derer, die dann die Protestbewegung trugen, viel eher durch Einrichtungen wie den Kuppelparagraphen bedingt gewesen sein, der Vermietern und Eltern mit schweren Strafen drohte, wenn sie duldeten, daß unverheiratete mündige Paare unter ihrem Dach machten, was keinen Vermieter und keine Eltern etwas angeht. Der Paragraph und seine Wirkung aber werden in diesem Buch mit einem einzigen Absatz abgespeist. Natürlich ist nach dem Wohngemeinschaftsboom und in der heutigen Single-Gesellschaft nicht mehr vorstellbar, was so ein Gesetz bedeutet hat. Aber Historiker sollten sich vielleicht doch dafür interessieren, was die untersuchte Epoche substantiell von der trennt und unterscheidet, in der sie forschen und schreiben.

Das Vergessene und Übersehene könnte unerwartet bald in nur mäßig verwandelter Gestalt wiederkommen, wenn jener amerikanische Präsident, der sich für pauschale Abstinenz vor der Ehe einsetzt, der neue Papst und der militante politische Islam ihre Sache gut machen. Achtundsechziger oder sonstige Invaliden der sexuellen Revolution, die willens und imstande wären, das zu verhindern, sind nirgends in Sicht.

DIETMAR DATH

Dagmar Herzog: "Die Politisierung der Lust". Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer und Anne Emmert. Siedler Verlag, München 2005. 431 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Zunächst einmal lobt Katharina Rutschky die amerikanische Autorin Dagmar Herzog dafür, sich als erste an eine Sexualgeschichte der Deutschen zwischen 1933 und 1968 gewagt zu haben, die einen "wichtigen Faktor" in der jüngeren deutschen Geschichtsforschung ausmacht, wie die Rezensentin betont. Doch sieht sie dieses Projekt auch mit großen Schwierigkeiten behaftet, da, wie sie meint, "Methoden und Hypothesen" fehlten, und dieses Gebiet einfach noch "zu frisch" sei, um sich ihm wissenschaftlich objektiv widmen zu können. Und so fällt die Besprechung des Buches eher ungnädig aus, wobei sich Rutschky offensichtlich auch als "Zeitzeugin" an den Karren gefahren fühlt. Trotz einiger "hochinteressanten Hypothesen", die sie der Autorin zugesteht, bemängelt Rutschky Unstimmigkeiten in der Argumentation, die Quellenauswahl sowie die Auswertung und findet einiges, was Herzog darlegt, "schlicht falsch". Insgesamt stört sie anscheinend am meisten, dass Herzog weniger eine wissenschaftlich fundierte Arbeit als eine polemische Auseinandersetzung mit den Achtundsechzigern vorgelegt hat. Die "moralischen Urteile" dieses Buches kommen ihr "billig" vor. Mehr und mehr schreibe sich Herzog in eine "bloß zensierende Besserwisserei" gegen die Achtundsechziger hinein und verliere dabei wichtige Themen wie die "Freigabe der Pornografie" oder die Auseinandersetzungen um den Paragraphen 218 aus den Augen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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