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"Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!"B/ "Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!" Diese Worte machten Ernst Reuter, damals verantwortlich für Verkehr und die öffentlichen Versorgungsbetriebe im durch die Blockade abgeschnittenen Westberlin, auf der ganzen Welt berühmt. Wenige Monate später wurde er Oberbürgermeister und der Repräsentant der Stadt, die sich mitten im Spannungsfeld zwischen Ost und West befand. Im Gedächtnis geblieben ist der entscheidende Demokrat Ernst Reuter, der im Vehemenz und Leidenschaft die Belange der geteilten Stadt vertrat. David E. Barclay zeigt uns den…mehr

Produktbeschreibung
"Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!"B/ "Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!" Diese Worte machten Ernst Reuter, damals verantwortlich für Verkehr und die öffentlichen Versorgungsbetriebe im durch die Blockade abgeschnittenen Westberlin, auf der ganzen Welt berühmt. Wenige Monate später wurde er Oberbürgermeister und der Repräsentant der Stadt, die sich mitten im Spannungsfeld zwischen Ost und West befand. Im Gedächtnis geblieben ist der entscheidende Demokrat Ernst Reuter, der im Vehemenz und Leidenschaft die Belange der geteilten Stadt vertrat. David E. Barclay zeigt uns den unbekannten Ernst Reuter: den jungen Mann aus bürgerlichen Verhältnissen, der mit seiner Herkunft bricht und als sozialdemokratischer Parteijournalist und Wanderredner durch Deutschland zieht. Den Kriegsgefangenen, der sich, erschüttert durch seine Erlebnisse im ersten Weltkrieg, der KPD zuwendet und schließlich ihr Generalsekretär wird. Den Weggefährten Lenins, der letztlich aus der KPD ausgeschlossen wird, weil er die Ausrichtung der deutschen KP an der sowjetisch geprägten Komintern kritisiert. Den philosophisch orientierten Idealisten, der als pragmatischer, nun wieder sozialdemokratischer Kommunalpolitiker in Magdeburg und Berlin Karriere macht. Den Exilanten in Ankara, der von nichts anderem als der Heimkehr nach Deutschland träumt. Den distanzierten Intellektuellen, der sich während der Blockade zum Volkstribun und zur Stimme Berlins wandelt. Einfühlsam schildert Barclay diesen "merkwürdigen und hin und her gehenden Lebensweg" (Reuter), diesen Mann der Widersprüche und Brüche, der - mal als Beobachter, meist als Gestalter - an den großen Auseinandersetzungen seines Jahrhunderts teilnahm.
Autorenporträt
David E. Barclay, geboren 1948 in Tampa / Florida, ist Professor für Geschichte und Direktor des Center for Western European Studies am Kalamazoo College in Kalamazoo / Michigan. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur preußischen und deutschen Geschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2000

Mit Kant und Kanten
Ernst Reuters Weg zum Regierenden Bürgermeister von Berlin

David E. Barclay: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter. Aus dem Englischen von Ilse Utz. Siedler Verlag, Berlin 2000. 448 Seiten, 36 Abbildungen, 58,- Mark.

Ernst Reuter wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten immer mehr zum "legendären" Berliner Stadtoberhaupt, eine Formulierung, die eine gewisse Verlegenheit ausdrückt. Da hat wohl einmal ein bedeutender Mann in Berlin gewirkt, von dem man aber nicht viel weiß. Nach der längst vergriffenen großen Biographie von Willy Brandt und Richard Löwenthal nimmt sich nun ein amerikanischer Historiker des Themas erneut an. Barclay ist als gründlicher Kenner der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ausgewiesen. Er vermeidet bewusst den Kult des großen Mannes und nähert sich seinem Gegenstand auf wohltuend nüchterne Art.

Die das ganze Leben Reuters prägende Einstellung sieht Barclay schon früh ausgebildet. Als Student in Marburg findet Reuter über die Philosophie des Neukantianismus den Weg zur Sozialdemokratie. Diese Richtung mit ihrem bedeutendsten Vertreter Hermann Cohen - sonst nur ein Stichwort in philosophischen Lexika - gewinnt hier eine lebensbestimmende Bedeutung. Denn Cohen lehrte, der Mensch sei Selbstzweck, niemals nur Mittel zum Zweck. Er hielt nichts von Marx, sondern vertrat die Überzeugung, dass Kant der "wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus" sei. Bei Reuter förderte diese Lehre den Entschluss, der Sozialdemokratie beizutreten, aber die Distanz zu Marx war für ihn ebenfalls bestimmend. Er war ein glänzender Altphilologe, der zwar das Staatsexamen machte, jedoch nicht in den Schuldienst eintreten wollte. Stattdessen wählte er die Hungerleiderexistenz eines sozialdemokratischen Agitators, eines Wanderpredigers, zudem mit mäßigem Erfolg.

Der Weltkrieg löste bei ihm eine eher moralisch begründete scharfe Radikalisierung aus. Ohnehin ein Gegner des Bismarck'schen Machtstaates, sah er die Schuld bei Deutschland. Die Oktoberrevolution erlebte er in russischer Kriegsgefangenschaft. In dieser Phase ideologisch geprägter Radikalität macht Barclay zu Recht auf eine ganz andere Begabung Reuters aufmerksam: auf seine Fähigkeit zu praktisch-administrativer Arbeit. So leitete er vorübergehend ein kleines Bergwerk, kam dann nach der Machtübernahme der Bolschewiki in die Politik und wurde Kommissar für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet. Unter Verwendung neuester Forschungsergebnisse kann nachgewiesen werden, dass Reuter sich intensiv für die Kolonien der Wolgadeutschen einsetzte, aber Exzesse bolschewistischer Banden nicht verhindern konnte. Nach seiner Rückkehr machte er in der KPD eine steile Karriere. Er hatte schließlich den Posten des Generalsekretärs inne, aber sein Bruch mit der Partei war programmiert, denn er beharrte auf ihrer Eigenverantwortlichkeit.

Danach kamen der Eintritt in die SPD und das Engagement in der Kommunalpolitik, zuerst in Berlin als Stadtrat für Verkehr, dann seit 1931 als Oberbürgermeister in Magdeburg. Auch hier wieder profilierte sich der Intellektuelle Reuter als Organisator wirksamer Hilfsmaßnahmen für die Opfer der Wirtschaftskrise. Die Nazis erkannten in ihm den Feind, verjagten ihn nicht nur aus dem Amt, sondern brachten ihn ins KZ, dem er nur dank unermüdlicher Hilfe durch englische Quäker entrinnen sollte. Das Exil in der Türkei stellte nach der Turbulenz der vorangegangenen Jahrzehnte eine Zeit der Sammlung dar.

Voller Ungeduld erwartete er das Ende des Krieges. Er rechnete mit einer Besatzung durch die Siegermächte, die jedoch bei dem Bemühen, für die Demokratie in Deutschland diesmal ein festeres Fundament zu legen, auf erfahrene deutsche Politiker angewiesen waren. Eine Rückkehr in die sowjetische Zone lehnte er ab, da er nicht "die Absicht habe, Selbstmord zu begehen". Mit der Rückkehr nach Berlin im Dezember 1946 kam er jedoch in deren gefährliche Nähe. In der sich abzeichnenden Ost-West-Konfrontation wuchs er in die Führungsrolle des Kampfes um die Selbstbehauptung Berlins hinein. Umgehend als Stadtrat eingesetzt, wurde er wenig später zum Oberbürgermeister gewählt. Das Veto der Sowjets verhinderte die Übernahme des Amtes. Barclay meint, er habe sich eher skeptisch gegenüber Plänen verhalten, dass Berlin bei einer Blockade gehalten werden könne. Trifft das zu, und in dem Buch sind viele neue amerikanische Quellen verarbeitet, so betont das nur noch stärker die Leistung Reuters. Er sah den Konflikt voraus, wusste aber, dass die Westmächte 1947 noch nicht bereit waren, die Auseinandersetzung durchzustehen. Es galt ebenso auf die Amerikaner einzuwirken wie den Berlinern Vertrauen einzuflößen. Als nach dem Prager Putsch im Februar 1948 die Frage laut wurde, wer denn das nächste Opfer sei, erklärte Reuter in seiner Rede am 18. März vor dem Reichstag, Berlin werde nicht "drankommen", aber nur der werde siegen, der die "stärksten Nerven" habe. Seinen großen Reden liegen die philosophischen Grundanschauungen der Marburger Zeit zugrunde. Sie sind nun zu einer scharfen politischen Waffe geworden. Freiheit, Selbstbestimmung des Einzelnen gelte es zu behaupten. Wenn die Berliner dazu bereit wären (so lautete seine Botschaft), würde ihnen die freie Welt zu Hilfe kommen - nicht als vage Möglichkeit, sondern als moralische Verpflichtung. Seine berühmteste Rede mit ihrem Appell an die Völker der Welt ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Nur weil er von dieser Wahrheit so durchdrungen war, besaß er die Kraft, Menschen zu überzeugen, die Moral aufrechtzuerhalten und die Westsektoren durch die Blockade zu steuern.

Die Biographie hat die letzten Jahre nach dem Ende der Blockade bis zu seinem überraschenden Tod im Jahre 1953 bewusst knapp dargestellt, obwohl auch hier neue Quellen erschlossen wurden. Natürlich hätte der eine oder andere Aspekt ausführlicher dargestellt werden können. In der vorliegenden handlichen Form hat das Buch jedoch den Vorzug, den Zugang zu einer legendär gewordenen Persönlichkeit zu erschließen, die gleichermaßen intellektuelle Brillanz wie politisches Können verkörpert.

HENNING KÖHLER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2000

Schaut auf diesen Mann
Ein amerikanischer Historiker hat mit Ernst Reuter ein wichtiges Stück deutscher Nachkriegsgeschichte wiederentdeckt
Meister der großen Geste: Als im Herbst 1948 kommunistische Demonstranten das Stadthaus stürmen und die Arbeit des Berliner Magistrats lahm legen, organisiert Ernst Reuter eine Gegenkundgebung. ”Berlin ruft die Welt” lautet ihr Motto – und eine viertel Million Menschen folgen dem Aufruf ihres Stadtrates, der kurz darauf zum Oberbürgermeister gewählt wird.
Foto: SZ-Archiv
DAVID E. BARCLAY: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter. Siedler Verlag, München 2000. 512 Seiten, 58 Mark.
Ernst Reuter war eine der prägenden Gestalten der deutschen Nachkriegszeit. Dass die zwölf westlichen Stadtbezirke Berlins vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 der sowjetischen Blockade widerstanden und Berlin so zu einem Symbol der Freiheit wurde, war wesentlich sein Verdienst. Er sprach in entscheidenden Augenblicken und zumal in seiner denkwürdigen Rede vor dem Reichstag am 9. September 1948 das aus, was die Menschen in Berlin dachten und fühlten. Damit leistete er zugleich einen bedeutsamen Beitrag dazu, dass Deutschland die selbstverschuldete Isolierung nach Kriegsende rascher als erwartet überwinden konnte. Die Luftbrücke war dafür der sichtbarste Ausdruck.
Nach seinem plötzlichen Tode im September 1953 haben sich zahlreiche Autoren mit seinem Lebensweg, seiner Persönlichkeit und seinem politischen Wirken beschäftigt. Letzteres am eindrucksvollsten Willy Brandt und Richard Löwenthal in einer von ihnen gemeinsam verfassten politischen Biografie, die schon 1957 erschien. Seit den siebziger Jahren begann indes die Erinnerung an Ernst Reuter sogar in Berlin zu verblassen. Selbst im Zuge der deutschen Einigung war von ihm nur gelegentlich die Rede.
Im Bann der Revolution
Um so erfreulicher ist, dass nunmehr David E. Barclay, ein renommierter amerikanischer Historiker, eine umfassende Arbeit vorgelegt hat, die durchaus geeignet ist, die Persönlichkeit Reuters und seine großen Leistungen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Der Verfasser ist dabei mit einer beeindruckenden Akribie zu Werke gegangen und hat außer den schon bekannten Quellen auch solche ausgewertet, die bisher nicht zugänglich waren. Mehr als 1100 Fußnoten mit sorgfältigen Fundstellennachweisen belegen das. Inhaltlich besticht die Arbeit vor allem unter drei Aspekten: durch die detaillierte Nachzeichnung von Reuters Lebenslauf, durch die anschauliche Schilderung zahlreicher Persönlichkeiten, denen Reuter in seinem Leben begegnet ist und dadurch, dass sein Wirken und seine innere Orientierung jeweils in größere zeitgeschichtliche Zusammenhänge eingeordnet wird. Ein wenig erstaunlich bleibt, dass nicht etwa ein deutscher, sondern ein amerikanischer Autor daran gegangen ist, die Erinnerung an Reuter von neuem zu beleben.
Der Lebensweg Reuters ist durch mehrfache Wendungen und ein allmähliches Hineinwachsen in seine endgültige Rolle gekennzeichnet. Beginnend mit der Familiengeschichte und einer eingehenden Darstellung der objektiven und der subjektiven Bedingungen, unter denen er aufwuchs, bis hin zur minutiösen Beschreibung der Tage unmittelbar vor seinem Tod, wird dieser Weg dem Leser in all seinen Stationen vor Augen geführt. So die Spannung mit seinen Eltern und einzelnen seiner Geschwister, die aus Reuters schrittweiser Hinwendung zur Sozialdemokratie erwuchsen. Dann die Faszination der Oktoberrevolution, die den 1916 in Russland in Gefangenschaft geratenen Reuter in ihren Bann schlug, ihn im Frühjahr 1918 als Kommissar für deutsche Angelegenheiten an die Wolga entsandte und ihn zweieinhalb Jahre nach seiner Rückkehr im Dezember 1918 für einige Monate bis zum Generalsekretär der damaligen Kommunistischen Partei aufsteigen ließ. Weiter der Bruch mit dem Kommunismus und die Wandlung zum Kommunalpolitiker in Berlin und Magdeburg, der 1934 nach zeitweiliger Inhaftierung über England in die Türkei flüchtet. Und schließlich die Rückkehr nach Berlin und die sieben Jahre, in denen er dort Geschichte schrieb.
Ernst Reuter lebte in den Jahren 1909 und 1910 zwei Semester lang in München, wo er Geschichte studierte; München war die erste Großstadt, die er näher kennen lernte. In dieser Zeit begeisterte er sich für die Stücke Henrik Ibsens und brach wegen seiner strikten ethischen und sozialen Vorstellungen mit der Studentenverbindung Herminonia, der er in Fortsetzung einer entsprechenden Zugehörigkeit in Marburg beigetreten war. Das Hauptziel solcher Verbindungen dürfe nicht in Albernheiten wie dem Tragen von Couleur oder alkoholischen Exzessen bestehen, schrieb er in diesem Zusammenhang. Dass auch in München später einmal eine Straße und eine Schule nach ihm benannt werden würden, hat er damals sicher nicht geahnt. Und umgekehrt werden heute nur ganz wenige Münchner wissen, dass Reuter im September 1952 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den in München heimisch gewordenen Romano Guardini die Festrede hielt.
Die Zahl bedeutsamer Zeitgenossen, denen Reuter im Laufe seines Lebens begegnete, ist Legion. Das beginnt mit den Marburger Neukantianern Natorp und Cohen, setzt sich fort mit Lenin und Stalin, mit Pieck und Radeck und umfasst später Clay und die anderen Militärgouverneure der Alliierten ebenso wie Adenauer und Schumacher und natürlich die Berliner politischen Exponenten der Nachkriegszeit wie Luise Schröder, Ferdinand Friedensburg und Franz Neumann. Aber es umfasst auch schon den jungen Willy Brandt, dessen charismatischen Fähigkeiten Reuter bereits früh erkannte.
Näher an Adenauer
Demgemäß liest sich das Personenregister der Barclayschen Arbeit fast wie das Inhaltsverzeichnis eines biografischen Kompendiums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Barclay begnügt sich jedoch nicht mit der Erwähnung. In den meisten Fällen zeichnet er in Umrissen ein Bild der betreffenden Persönlichkeit und lässt sie auf diese Weise in den jeweiligen Zusammenhängen genau so Gestalt gewinnen wie Reuter selbst.
Das gilt beispielsweise für das, was Barclay über Reuters zum Teil recht kontroversen Begegnungen mit Adenauer schreibt. Da erfährt man auch über Adenauer eine Menge. Und es wird deutlich, dass Reuter ihm in der Frage der West-Integration näher stand als Schumacher. Beide ergänzten sich hier sogar zum Vorteil unseres Landes in gewisser Weise. Ebenso gilt es für die Charakterisierung von General Clay, der Reuter zunächst mit einigen Vorbehalten begegnete, dann aber zu seinem stärksten Verbündeten wurde. Oder für die Auseinandersetzung mit Franz Neumann, gegen dessen innerparteiliche Kritik Reuter Anfang der 50-er Jahre den von ihm geführten Senat verteidigen musste. Besonders gut gelingt Barclay auch die Beschreibung einer ganzen Reihe anderer alliierter und vor allem amerikanischer Besatzungsoffiziere, die auf die damalige Entwicklung in Berlin Einfluss hatten. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung des offenbar recht eigenwilligen US-Obersten und dann Generals Frank L. Howley, der zuletzt während der Blockadezeit als amerikanischer Stadtkommandant fungierte und schon vorher eine wichtige Rolle spielte.
Bleibt die Einordnung in die großen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge: Barclay versteht es vorzüglich, in den sechs Kapiteln seines Buches den Kontext sichtbar zu machen, in dem sich Reuters Entwicklung vollzog. Und zugleich darzutun, dass sich in den Rissen und Brüchen seines Lebens die Risse und Brüche in der Geschichte unseres Volkes spiegeln. Da wird der Spross einer bürgerlichen Familie zum Sozialdemokraten, weil er den hohlen Glanz des Kaiserreichs und sein nationales Pathos nicht erträgt und den Ausschluss der angeblich „vaterlandslosen Gesellen” aus der Gesellschaft nicht hinnehmen will. Da wird aus dem Sozialdemokraten unter dem Eindruck des Weltkrieges und der Revolution in Russland der Kommunist, der glaubt, dass so Frieden und Gerechtigkeit verwirklicht werden können. Und da wird der Kommunist zum sozialdemokratischen Reformer, weil er die Unmenschlichkeit totaler Ideologien erkennt und nun überzeugt ist, dass sich gerade die Lebensbedingungen der breiten Schichten nur auf demokratischem Weg und durch Änderung der gesellschaftlichen Strukturen verbessern lassen.
Daraus resultiert dann ein kommunales Engagement in der Zeit der Weimarer Republik. Manches von dem, was Barclay in diesem Zusammenhang an Äußerungen Reuters darüber zu Tage gefördert hat, wie die Großstadt der Zukunft geplant und gestaltet werden sollte und wie wichtig dafür eine vernünftige Boden- und Verkehrspolitik sowie leistungsfähige kommunale Betriebe sind, verdient auch heute noch Aufmerksamkeit. Aus seinen Erfahrungen mit dem Kommunismus resultiert dann aber auch seine erbitterte Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und seine nicht minder erbitterte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus der Nachkriegszeit, die ihn zum Vorkämpfer der Freiheit werden ließ und ihm hohes Ansehen in den USA – und nicht nur dort – verschaffte.
Barclay hat als Titel für sein Buch den berühmtesten Satz aus der Rede gewählt, die Reuter im September 1948 vor dem Reichstag gehalten hat: „Schaut auf diese Stadt”. Das Buch kann dazu beitragen, dass die heutige Generation wieder auf Ernst Reuter schaut und aus seinem Leben lernt. Aus dem Leben eines Mannes, der, wie Theodor Heuss es am Tage seiner Beisetzung an seinem Grab formuliert hat, „durch Irrung und Wagnis” zur „souveränen inneren Freiheit” gelangt ist und sich so „in der Stunde der Bewährung der geschichtlichen Herausforderung gewachsen zeigte”.
HANS JOCHEN VOGEL
Der Rezensent war SPD-Fraktionschef im Bundestag und von 1981 bis 1983 Regierender Bürgermeister von Westberlin.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans Jochen Vogel, von 1981-83 selbst Regierender Bürgermeister von Berlin, zeigt sich ausgesprochen angetan von diesem Buch. Nicht nur, dass es geeignet sei, der verblassenden Erinnerung an Ernst Reuter etwas entgegenzusetzen. Vogel betont die "beeindruckende Akribie", mit der der Autor vorgegangen ist, und dass hier so manche Quelle erstmals ausgewertet worden ist. Darüber hinaus sei es dem Autor hervorragend gelungen, Reuters Lebenslauf und seine politische Entwicklung nachvollziehbar zu beschreiben. Besonders gefällt Vogel auch die Darstellung von Persönlichkeiten, denen Reuter in seinem Leben begegnet ist. Dies lese sich nicht nur "fast wie das Inhaltsverzeichnis eines biografischen Kompendiums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts", sondern beeindrucke dank der plastischen Darstellung vor allem dadurch, dass es Reuter und sein politisches Handeln im zeithistorischen Kontext fassbar mache. Darüber hinaus zeigt dieses Buch nach Vogels Ansicht, wie sehr manche von Reuters Ansichten, beispielsweise über "die Großstadt der Zukunft" auch heute von Relevanz sind.

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