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Produktdetails
  • Verlag: Wunderhorn
  • Artikelnr. des Verlages: 2040901
  • 2000.
  • Seitenzahl: 376
  • Deutsch
  • Abmessung: 38mm x 146mm x 216mm
  • Gewicht: 638g
  • ISBN-13: 9783884231647
  • ISBN-10: 3884231642
  • Artikelnr.: 24167643
Autorenporträt
Lothar Baier, 1942 in Karlsruhe geboren, lebte zuletzt in Montreal und ist im Juli 2004 verstorben. Er war Schriftsteller, freier Publizist, Übersetzer und Mitbegründer der Literaturzeitschrift Text und Kritik. Baier galt als einer der profundesten deutschen Kenner der französischsprachigen Welt und wurde 1982 mit dem Jean-Améry-Preis für Essayistik und 2003 mit dem Gerrit-Engelke-Preis ausgezeichnet. Baier publizierte u.a. im Merkur, im Kursbuch und im Deutschlandfunk und war mehrere Jahre Redakteur der Wochenzeitung (WOZ) in Zürich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.07.2000

Früchte vom anderen Feld
Lothar Baiers und Pierre Filions Anthologie der Literatur aus Québec
Dass im Eröffnungstext, Hubert Aquins Nächste Episode, ein „ausgebrannter Revolutionär” in seinem „schreibenden Ertrinken” fortfährt, ist bezeichnend. Denn der Untergrundkampf der „Befreiungsfront Québecs” (FLQ), der Anfang der siebziger Jahre weltweit für Schlagzeilen sorgte, ist Geschichte. Seit sich die Mehrheit der zu 82 Prozent frankophonen Bevölkerung 1980 in einem Referendum gegen die Unabhängigkeit von Kanada ausgesprochen hat, stehen die Zeichen auf Normalität.
Das Bewusstsein für die Isolation, die sprachliche Inselstellung ist jedoch geblieben. Davon zeugt eine Literatur, die lange Zeit zu Unrecht als zweitrangig und provinziell galt. Dass sie „Anspruch auf einen eigenen Platz und einen eigenen Namen”, ja, dass sie gegenüber der englischsprachigen Übermacht der kanadischen Literatur „resistente Traditionen” entwickelt hat, zeigt die Anthologie Anders schreibendes Amerika – Literatur aus Québec in aller Ausführlichkeit: mit einführenden Essays zu Prosa, Lyrik, Theater und Essay, mit Textbeispielen und Kurzporträts von 41 Autoren und einer Auswahlbibliografie zu mehr als 200 Schriftstellern, „die die literarische Moderne Québecs ausmachen”.
Für die Herausgeber – den Verleger und Schriftsteller Pierre Filion aus Montréal und den zwischen Frankfurt am Main und Montréal pendelnden Publizisten Lothar Baier, der sich als hellsichtig-kritischer Frankreich-Kenner jenseits aller frankophiler Flausen einen Namen gemacht hat – galt es, eine Lücke zu schließen. Denn über die Literatur aus Québec nach 1945 gab es im deutschsprachigen Raum bisher fast nur Gerüchte. Selbst die „Grande Dame” der Québecer Literatur, die Anfang des Jahres verstorbene Anne Hébert, war lediglich mit ihrem feinfühlig-aufstörenden Entwicklungsroman Das wilde Herz des Flusses (Residenz 1999) vertreten.
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges stehen die Zeichen auf Vielstimmigkeit, auf Erneuerung. Als belebend erwiesen sich gerade auch die Einflüsse französischer Autoren und Verleger, die während der deutschen Okkupation Frankreichs nach Québec ins Exil geflüchtet waren. So orientierte sich das Manifest „Globale Verweigerung” 1948 am Vorbild der Surrealisten. Paul-Émile Borduas konstatierte darin „den Bankrott der Vernunft” und forderte die radikale Abkehr von der katholischen Kirche als bis dahin übermächtiger moralischer Instanz Québecs.
Erholung von großen Anliegen
Immer mehr Schriftsteller gingen daraufhin auch auf Distanz zu den klassischen französischen Traditionen. Sie öffneten sich der Gegenwart ihres Landes, seiner „sich umbauenden Gesellschaft”. Oft befruchteten sich literarischer und politischer Neuerungsdrang, so dass sich zahlreiche Intellektuelle wie der bekannte Lyriker Gaston Miron für das „Projekt der Souveränität” engagierten. Heute, da dieses Projekt auf Eis liegt, steht das „Zwischenmenschliche” wieder eindeutig im Vordergrund – zumal in der Lyrik, die sich, so Marie-Andrée Lamontagne, „von den Gruppen und großen Anliegen erholt” hat und nunmehr um die Schlüsselworte „Langsamkeit”, „Traurigkeit”, „Abscheu” und „Magerkeit” kreist.
Eine Anthologie, die fremdes Terrain erkundet, erschlägt den Leser auf den ersten Blick mit unbekannten Namen, unbekannten Sachverhalten. Doch sollten die literarhistorischen Einordnungsmühen der Herausgeber und ihrer Mitarbeiter nicht abschrecken. Denn es sind die Texte, die im Mittelpunkt stehen und den Zugang zu ganz unterschiedlichen Mikrokosmen öffnen – nicht zuletzt bei immigrierten Autoren wie dem aus Brasilien stammenden Sergio Kokis, der im Roman Das Spiegelkabinett von Anpassung Fremdbleiben und Entwurzelung beschreibt.
Wenn der Sprachspieler Réjean Ducharme in seinem Roman Einzweideutige Kanada als „unermesslichen Kältepalast” bezeichnet, ist dies nicht nur geografisch gemeint. Wie er leuchten viele der in der Anthologie vertretenen Autoren gesellschaftliche, soziale oder familiäre Schieflagen aus. Das Theater Québecs, dem erst im Jahre 1969 der Durchbruch gelang, setzt da besondere Akzente. So enthüllt sein bedeutendster Autor Michel Tremblay in dem Stück Schwesterherzchen eine „kollektive Tendenz”, die alle westlichen Kulturen – nicht aber diese vielstimmige, sachkundige Anthologie – bedroht: die Tendenz der „Anpassung an das niedrigste Niveau”.
CHRISTOPH VORMWEG
LOTHAR BAIER / PIERRE FILION (Hrsg. ): Anders schreibendes Amerika. Eine Anthologie der Literatur aus Québec 1945 2000. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2000. 276 Seiten, 56 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2000

Kleines Volk, ganz spät
Gedankenprovinz: Eine Anthologie stellt Literatur aus Québec vor

Vielleicht ist ja die franko-kanadische Literatur aus Québec eine "kleine Literatur", wie Deleuze und Guattari sie meinten, als sie Kafka und seiner pragerdeutschen Umgebung dieses Attribut zuerkannten. Eine Literatur also, die zwischen fremdsprachiger Bedrohung und muttersprachlicher Einschüchterung ihr labiles Dasein fristet, die aus der doppelten Beklemmung dann und wann aber ein unerhörtes Drehmoment zieht? Es gibt viele kleine oder Minderheiten-Literaturen auf dieser Erde, aber nur die wenigsten von ihnen hatten einen Kafka, der ihre Kleinheit in Größe verwandelt hätte. Das bedeutet andererseits nicht, daß ein prekärer Sprachstatus von vornherein ein literarisches Handikap sein muß. Sind Georges Simenon oder C. F. Ramuz ihrer Nichtzugehörigkeit zur französischen Nation wegen als französisch schreibende Schriftsteller benachteiligt gewesen? Haben sich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in Deutschland langsamer durchgesetzt, weil sie Schweizer waren?

Mit der französischsprachigen Literatur aus Québec verhält es sich offenbar anders. Darauf weisen Lothar Baier und Pierre Filion in der Einführung zu ihrer Anthologie hin. Québec trennt vom Sprach-Mutterland nicht bloß der Jurakamm, sondern der Atlantik. In Paris ist man auf kulturelle Produkte aus der alten Kolonie, deren Sprache man hier nur mit Mühe als Französisch identifiziert, wahrscheinlich nicht allzu neugierig. Hinzu kommt ein weiteres: Die Literatur Québecs muß sich in einer Umgebung behaupten, die ihr zwar nicht feindlich gesinnt ist, die von ihr aber kaum Notiz nimmt. Es gibt ein paar tausend Kilometer rings um Québec keinen Markt und kein Publikum für Französisches. Was immer man in Québec schriftlich äußert, es droht auf einen Verständigungstext für die Eingeschlossenen in der Sprachenklave hinauszulaufen.

Wer die Québecer Mentalität und den Versuch, ihr zu entkommen, verstehen will, dem werden in dieser Anthologie einige Schlüsseltexte an die Hand gegeben. Zum Beispiel das folgenreiche Manifest "Refus Global" des Surrealisten Paul-Émile Borduas aus dem Jahre 1948. Darin nennt Borduas seine Vorfahren "ein kleines Volk". Es hätte sich spätestens seit der englischen Eroberung "an die Soutanen der Priester" geklammert, "die die einzigen Treuhänder des Glaubens, des Wissens, der Wahrheit und des nationalen Reichtums geblieben sind". Von der jansenistischen "Affenmoral" seiner Altvorderen, von ihrem kulturellen Duckmäusertum möchte Borduas sich mit einem surrealistischen Handstreich verabschieden: "Raum für die Magie! Raum für die objektiven Mysterien!", so seine zeitgemäße Losung, mit der er dem Modernismus und den Avantgarden in Québec eine Bresche schlug.

Die Anthologie enthält Prosa, Lyrik, Auszüge aus Theaterstücken und einige Essays. Es fällt schwer, den hier vertretenen Autoren gerecht zu werden. Was sie verbindet, ist für den deutschen Leser vor allem wohl der Umstand, daß man sie hierzulande nicht kennt, ausgenommen vielleicht Anne Hébert und, von den Essayisten, den Philosophen Charles Taylor. Die Prosaauszüge diverser Schriftsteller vermitteln eigentlich keinen bleibenderen Eindruck als den, daß, mit gebührender Verspätung, die Modernismen dieses Jahrhunderts ihren Niederschlag auch in der frankokanadischen Literatur gefunden haben. Dasselbe gilt für die Lyrik- und mehr noch für die Theater-Auswahl. Weder erhärten sie die These von einer besonderen Armut noch die von einem speziellen Reichtum dieser literarischen Landschaft. Wirklich lehrreich im Hinblick auf die im Vorwort angesprochene Problematik des Literatur-Standorts Québec sind die Essays von Charles Taylor, Fernand Dumont, Pierre Morency und anderen. Sie verraten am ehesten etwas von der Kraft und Originalität, die Québec aus seiner sprachsoziologischen Anomalie schöpfen kann, und sie nähren am deutlichsten die Hoffnung der Herausgeber, daß die relativ junge Literatur- und Gedankenprovinz Québec das Beste noch vor sich hat.

CHRISTOPH BARTMANN

Lothar Baier/Pierre Filion (Hrsg.): "Anders schreibendes Amerika". Eine Anthologie der Literatur aus Québec 1945-2000. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000. 376 S., geb., 56,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

So richtig überzeugt ist Christoph Bartmann von dem Buch, das Prosa, Lyrik, Essays und Auszüge aus Theaterstücken aus Québec versammelt, nicht. Bei den diversen Texten entstehe kein "bleibender Eindruck" und sie hätten außer ihrer Sprachgemeinschaft und ihrer relativen Isolation wenig gemeinsam. Als "wirklich lehrreich" allerdings schätzt der Rezensent einige Essays ein, die am ehesten etwas von der "Kraft und Originalität" vermittelten, die durch die sprachliche und soziologische Sonderstellung der frankokanadischen Literatur entstehen könne. Und auf einen Beitrag weist er besonders hin: auf das Manifest Paul-Émile Borduas von 1948. Dies sei ein "Schlüsseltext", der als Wegbereiter der Avantgarde in Québec zu gelten habe, lobt der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH