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Die Gegen-Demokratie ist nicht das Gegenteil von Demokratie, sie ist Bestandteil der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, somit permanenter Ausdruck von Misstrauen gegenüber den gewählten Institutionen. Gleichzeitig ist sie aber auch Ausdruck des politischen Engagements der Bürger_innen jenseits der Wahlurnen.
Obgleich das demokratische Ideal uneingeschränkt bejaht wird, ist die Demokratie historisch betrachtet immer schon als Versprechen und Problem zugleich in Erscheinung getreten. Denn der Grundsatz, Regierungen durch den Wählerwillen zu legitimieren, ging stets mit
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Produktbeschreibung
Die Gegen-Demokratie ist nicht das Gegenteil von Demokratie, sie ist Bestandteil der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, somit permanenter Ausdruck von Misstrauen gegenüber den gewählten Institutionen. Gleichzeitig ist sie aber auch Ausdruck des politischen Engagements der Bürger_innen jenseits der Wahlurnen.

Obgleich das demokratische Ideal uneingeschränkt bejaht wird, ist die Demokratie historisch betrachtet immer schon als Versprechen und Problem zugleich in Erscheinung getreten. Denn der Grundsatz, Regierungen durch den Wählerwillen zu legitimieren, ging stets mit Misstrauensbekundungen der Bürger gegenüber den etablierten Mächten einher.

Rosanvallon entfaltet die verschiedenen Aspekte der Gegen-Demokratie und schreibt ihre Geschichte. Nicht zuletzt plädiert er dafür, die ständige Rede von der Politikverdrossenheit zu überdenken. Denn es ist eher von einem Wandel als von einem Niedergang des bürgerschaftlichen Engagements zu sprechen. Verändert haben sich lediglich das Repertoire, die Träger und die Ziele des politischen Ausdrucks. Die Bürger_innen haben inzwischen viele Alternativen zum Wahlzettel, um ihre Beschwerden zu artikulieren. Die politische Form der Gegen-Demokratie sollte im Diskurs der Politikverdrossenheit aktiv genutzt werden.
Autorenporträt
Pierre Rosanvallon war von 2001 bis 2018 Professor für Moderne und Zeitgenössische Geschichte der Politik am Collège de France und Directeur de Recherche an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017

Gebrochenes
Versprechen
Die Demokratie war nie
ein durch und durch
egalitäres System.
Pierre Rosanvallon geht
zu den Wurzeln der Krise
dieser Regierungsform
Über weite Strecken gleicht das Genre „politisches Buch“ der Saisonware in der Modebranche. Weil das Politische am politischen Buch oft sehr eng mit der tagespolitischen Aktualität verknüpft wird, verfügen solche Bücher meistens nur über eine saisonal begrenzte Halbwertzeit bzw. Haltbarkeit. All das trifft auf die Bücher des französischen Politikwissenschaftlers und Historikers Pierre Rosanvallon bestimmt nicht zu. Sein „jüngstes“ Buch erschien bereits 2006 auf Französisch, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Obwohl in Rosanvallons Buch Trump und Macron, Erdoğan und Putin so wenig vorkommen wie die Finanzkrise, der Dieselskandal oder die AfD ist seine Analyse zeitnäher und stichhaltiger als viele „politische Bücher“ der Saison, die morgen schon ramschfertig sein werden.
Rosanvallon beschäftigt sich nicht mit oberflächlich-nebulösen Wörtern aus der Leitartikelprosa wie „Politikverdrossenheit“, „Wahlmüdigkeit“ und Ähnlichem. Er setzt tiefer an und geht von einem Paradoxon aus, unter dem noch jede bisherige Demokratie litt bzw. leidet. Seit dem ersten demokratischen Manifest aus der Zeit der Glorious Revolution im 17. Jahrhundert lebt die Demokratie vom Versprechen, ein durch und durch demokratisch-egalitäres System zu installieren. Aber noch nirgends konnte die Demokratie dieses Versprechen einlösen. Viele Interessen der Bürger kamen immer zu kurz. Deshalb erzeugte das je nach Umständen mehr oder weniger schlecht funktionierende parlamentarisch-repräsentative System Widerstände gegen die Demokratie. In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich diese Widerstände überall, wo parlamentarisch-repräsentative Institutionen existieren, zur „Herausbildung eines Misstrauensuniversums“ verdichtet.
Das Misstrauen artikuliert sich nicht nur als legitime Machtkritik, sondern wittert hinter demokratisch-repräsentativ legitimierter Macht prinzipiell einen Machtmissbrauch. Das Misstrauen vertieft sich zu fundamentaler Demokratiekritik und verlangt nach stärkerer Kontrolle der Repräsentanten. Diese Kontrolle äußert sich im dreifachen Streben nach mehr Überwachung, mehr Blockaden und verstärkter Urteilsprüfung. Dieses Streben verdichtet sich in demokratisch-repräsentativ regierten Gesellschaften zum ambivalenten System des organisierten Misstrauens – der „Gegen-Demokratie“. Ambivalent ist diese Gegen-Demokratie, weil Überwachung, Blockaden und Urteilsprüfung zwar die demokratische Regierungsform stärken, diese aber auch pervertieren können.
Ohne die strikte Überwachung der Regierenden, ohne die Blockade gegen hybride Regierungsvorhaben und inhaltliche Überprüfung formal korrekter Entscheidungen der Regierung tendiert die Logik demokratisch-repräsentativen Regierens zur Herausbildung einer quasi-automatischen „Regierungsmaschine“, die im Endstadium ohne das Volk läuft und läuft. Andererseits befördert die Radikalisierung gegen-demokratischer Kontrollen und Blockaden den Populismus und die destruktive Antipolitik.
Wie immer in seinen Büchern begnügt sich Rosanvallon nicht mit oberflächlichen Erklärungen, sondern forscht nach den historischen Wurzeln. Gegen-demokratische Bewegungen der Überwachung und Blockade von Regierungsvorhaben fielen nicht vom Himmel, sondern haben ihren Ursprung im Mittelalter – nämlich im rechtlich verbrieften Widerstand gegen Übergriffe der Regierenden. Wachsamkeit ist keine perverse Erfindung von Orwells „1984“, sondern in der Französischen Revolution ebenso eine Bürgertugend wie eine Aufgabe der Presse.
Im 19. Jahrhundert bildete das Parlament noch die wichtigste Kontrollinstanz. Aber im Laufe der Zeit entwickelten die demokratisch-parlamentarischen Institutionen eine Sensibilität für Selbstkritik und ein Gespür für das Versagen der Kontrolle. In Großbritannien etwa bildeten sich zusätzlich zur parlamentarischen Kontrolle des politischen Systems nicht weniger als 135 Bewertungs- und Kontrollinstanzen. Im Zuge des Niedergangs des Parlamentarismus nach 1945 in den meisten demokratisch regierten Ländern entwickelten wachsame Bürger einen neuen Aktivismus in Form von sozialen Bewegungen, die Druck ausüben auf die Regierenden und Legitimitätsansprüche jenseits von arithmetischen Mehrheiten formulierten.
Rosanvallon beurteilt die Vitalität gegen-demokratischer Praktiken fair, sieht aber auch deren Schattenseiten – nämlich die „Verteidigung bornierter Gruppeninteressen“ durch die Mobilisierung „populistischer Reflexe“. Die Versuche während der französischen Revolution, gewählten Repräsentanten des Volkes nach römischem Vorbild „Volkstribune“ als Aufpasser mit umfassenden Kompetenzen an die Seite zu stellen, waren als Korrektiv zur schroffen Alternative „Wahlen oder Volksaufstand“ gedacht. Auch Fichtes Plan von 1796, der Macht der Exekutive und der Legislative in Form von „Ephoraten“ (griechisch éphoros/Aufseher) eine eigenständige Vetomacht oberhalb des Volkswillens vorzusetzen, verfolgte dasselbe Ziel. Doch in Demokratien endete jeder Versuch, die Kontrolle der Kontrolleure institutionell abzusichern in endlos wiederholter Fortsetzung (regressus ad infinitum).
Rosanvallon diskutiert alle historischen Versuche, dem Paradoxon des unerfüllten demokratischen Versprechens zu entkommen, akribisch. Sein Fazit: Wer die Demokratie stärken will, muss den Rahmen, in dem sie sich abspielt, ebenso genauer beschreiben wie die Ziele – die Grundregeln für eine gemeinsame Welt, Gerechtigkeit, Interessenausgleich und Chancengleichheit. Die Reform der demokratisch-repräsentativen Institutionen allein reicht sicher nicht. Darüber hinaus muss „die Protestdimension der Gegen-Demokratie zu einer politisch wirksamen und nützlichen Ressource“ weiterentwickelt werden. Als dritte Säule des „gemischten Systems der Moderne“ betrachtet Rosanvallon die Politik als „Reflexions- und Deliberationsprozess“, der nicht auf Parlamente beschränkt bleibt, sondern ausgedehnt wird auf Planungsbeiräte, Bürgerforen, Umwelt- und Gesundheitsverbände. Nur Populisten behaupten, den Volkswillen zu verkörpern. Daraus folgt, dass eine substantielle Verbesserung demokratischer Institutionen nur denkbar ist, wenn Repräsentations- und Souveränitätsformen gestärkt und vermehrt werden.
Ein politisches Buch, das nicht von tagespolitischer Schaumschlägerei lebt, sondern die Wurzeln der Krise demokratisch-repräsentativer Regierungsformen historisch und politisch erklärt.
RUDOLF WALTHER
Die Reform der
demokratisch-repräsentativen
Institutionen allein reicht nicht
Pierre Rosanvallon:
Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter
des Misstrauens.
Aus dem Französischen
von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition,
Hamburg 2017.
350 Seiten, 35 Euro.
E-Book: 27,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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