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Warum gibt es keinen öffentlichen Sex? Wieso hat jeder Mensch ein Heimatgefühl? Wann finden Menschen einander schön? Welche Wörter kommen in allen Kulturen vor? Warum sitzen wir, wie wir sitzen? 4000 indigene Völker, rund 7000 Sprachen, Tausende von Kulturen gibt es auf unserem Planeten Menschen, so unter schiedlich wie nur denkbar. Jeder davon ist einzigartig, und doch hat er vieles mit anderen gemeinsam. Neben dem, was uns trennt, gibt es ein überraschend großes Fundament, das die Kulturen verbindet. Der viel zitierte »Clash of Civilizations« stellt sich aus Antweilers Sicht als eine von…mehr

Produktbeschreibung
Warum gibt es keinen öffentlichen Sex? Wieso hat jeder Mensch ein Heimatgefühl? Wann finden Menschen einander schön? Welche Wörter kommen in allen Kulturen vor? Warum sitzen wir, wie wir sitzen? 4000 indigene Völker, rund 7000 Sprachen, Tausende von
Kulturen gibt es auf unserem Planeten Menschen, so unter schiedlich wie nur denkbar. Jeder davon ist einzigartig, und doch hat er vieles mit anderen gemeinsam. Neben dem, was uns trennt, gibt es ein überraschend großes Fundament, das die Kulturen verbindet. Der viel zitierte »Clash of Civilizations« stellt sich aus Antweilers Sicht als eine von großer Unkenntnis geprägte Verengung des Blickwinkels dar. In Wahrheit ver bindet uns mehr als uns trennt. HEIMAT MENSCH ist ein wunderbar zu lesendes und höchst erstaunliches Buch über uns alle.
Autorenporträt
CHRISTOPH ANTWEILER ist Professor für Südostasienwissenschaften an der Universität Bonn. Zahlreiche Forschungsreisen haben ihn in die ganze Welt geführt, speziell in Indonesien verbrachte er mehrere Jahre mit Feldforschung. Antweiler gilt als einer der wichtigsten Universalienforscher. Sein viel beachtetes wissenschaftliches Hauptwerk 'Was ist den Menschen gemeinsam?' erschien 2007.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2009

Jede Stadt hat ihre besondere Art, Hühner aufzuschneiden
Man irrt rasch, wenn man sich auf sein Gefühl verlässt: Christoph Antweiler fragt, was Menschsein ausmacht, was die Menschheit zusammenhält
Der Ethnologe Christoph Antweiler nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch die Erkenntnisse der Ethnologie über das, „was uns alle verbindet”. Sein Material stammt aus Datenbanken wie den „Human Relations Area Files” (1949) oder dem „Facial Action Coding System” (1978), aus Monographien und klassischen Werken der Kulturanthropologie und eigener Feldforschung. Weil Antweiler das menschliche Verhalten als Ganzes interessiert, werden sowohl kulturelle Faktoren, als auch die genetischen Voraussetzungen vorurteilsfrei in den Blick genommen. Dieser Ansatz ist eine Besonderheit der Kölner Ethnologischen Schule, aus der Christoph Antweiler hervorging. Er hat bei dem Altamerikanisten und Kultursystematiker Peter Tschohl und dem Humanethologen Michael Casimir gelernt, Natur und Kultur als Einheit zu begreifen. Seine Leidenschaft für Südostasien hat ihm Kurt Tauchmann vermittelt, einer der besten Kenner hierzulande vor allem für amphibische Oszillation der Seenomaden Indonesiens. Die Früchte dieser intensiven Schulung und langjähriger Feldaufenthalte in Malaysia zeigen sich in dem vorliegenden Band. Antweiler ist wie seine Lehrer, Kulturspezialist, kein Wortkünstler, der uns ein weiteres Mal darüber aufklären will, dass Kultur ganz viele Bedeutungen habe und man nicht so genau sagen könne, worum es eigentlich geht.
Es geht um die systematischen Dimensionen des Kulturellen und um Universalien. Machtordnungen, Sexualität und Tabu, Territorialität, Kunst und ästhetisches Empfinden, Gewalt und Konflikt, Zeit, Raum und Ritus sind die Themen, die er nach ihrer Bedeutung für Trennendes und Verbindendes aufsucht. Aus ihnen ergibt sich die „Heimat Mensch”. In Zeiten der Globalisierung hat es keinen Sinn, die Weltgesellschaft in Zivilisierte und weniger Zivilisierte einzuteilen. Dennoch gilt, wie das Sprichwort sagt, dass jede Stadt ihre besondere Art hat, Hühner aufzuschneiden. Die Mitte der Welt aber ist jetzt überall, denn der Globus, so Antweiler, ist eine Kugel. Und man kennt sich. „Hurra, mir san entdeckt” wird niemand mehr schreien, wenn die Ethnologen kommen.
Karl Kraus hatte schon 1909 nach der Entdeckung des Nordpols polemisiert, dem Fuß werde rasch der Zinsfuß folgen. Er sollte recht behalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir aufgrund der Amerikanisierung des Lebensstils alle gleich sind. Von Timbuktu bis Turku mag zwar jedes Beduinenzelt, jede Lehmhütte und jedes Luxusappartement mit stummen Zeugnissen und sprechenden Zeugen der medialen Massenkultur ausgestattet sein. Die Gründe für die Gemeinsamkeiten des Menschseins liegen aber tiefer, in den Universalien, deren Erforschung der Autor sich seit vielen Jahren widmet.
Ausgerechnet der Ödipuskomplex findet sich in allen Kulturen der Welt. Er heißt nur nicht überall so. Die Aufgabe aber, Kinder an das Werte- und Normensystem ihrer Geschlechtsgenossen anzupassen, und zugleich einen geregelten Umgang mit dem Gegengeschlecht im Erwachsenenalter zu gewährleisten, müssen alle erfüllen. Da geht es den Inuit rund um den Pol nicht anders als den Deutschen oder den westafrikanischen Ibu. Wichtig sind die Übergangsrituale, die auch hundert Jahre nach ihrer Beschreibung und Klassifikation durch Arnold van Gennep nichts an Aktualität verloren haben. Passageriten dienen, auch in den individualisierten Gegenwartsgesellschaften westlicher Prägung, der Angstbewältigung vor der neuen Lebensphase. Sie müssen kollektiv vollzogen werden, um zu wirken.
Es gibt Kulturen weitab der Metropolen, in denen kümmern sich die Mütter nicht um die Kleinkinder. Wir meinen leicht, dies sei nur bei westlichen Rabenmüttern der Fall. Man irrt rasch, wenn man sich auf sein Gefühl verlässt. Der Kulturvergleich deckt auch solche Fehleinschätzungen auf. Glück und Zorn, Überraschung und Furcht, Trauer und Ekel: Kein Mensch kann gegen diese Gefühle etwas ausrichten, sie kommen in allen Kulturen der Welt vor, mögen sie auch noch so verschieden ausgeprägt sein. Antweiler nennt die fruchtlose Debatte beim Namen, die Generationen von Wissenschaftlern in Bann geschlagen hat. Ist die Natur oder ist die Kultur an allem schuld? Hat die Erziehung den größeren Einfluss auf unser Verhalten oder die genetischen Anlagen? Es ist ein Unterschied, ob in einer Gesellschaft die Ansicht herrscht, dass das latent Böse durch Regeln verhindert werden müsse, oder die Umstände den Guten in einen Gewalttäter verwandeln, sobald die Verhältnisse dies bedingten.
Weltweit gibt es siebzig kleine Gruppen, die keine Kriege führen. Offen bleibt, wie lang man das zurückverfolgen kann. Die anderen rund siebentausend unterschiedlichen menschlichen Gemeinschaften tun es. Antweiler zeigt am Beispiel von zwei Kulturen, den malaiischen Semai und den tansanischen Fipa, wie Gewaltpotentiale, die in jeder Gesellschaft vorhanden sind, in Friedensbereitschaft verwandelt werden können. Die Semai richten das durch mehrere Mechanismen ein. Erschöpfendes andauerndes Reden über Konflikte halten diese im Zaum. Jeder darf unter Aufsicht des Häuptlings seine Meinung sagen, bis alles gesagt ist. Abschließend hält der Häuptling eine Friedensrede mit bindender Wirkung. Nach Außen bewahren sie den Frieden durch Flucht und Entzug. Wird eine Situation zu brenzlig, gehen die Semai einfach fort. Bei ihnen gilt eine Friedensnorm. Sie verstehen sich selbst als friedliches Volk.
Diese Normsetzung ist zwar kein Rezept für Konfliktvermeidung zwischen Nationen, in denen sehr viele unterschiedliche Interessen herrschen; wir können weder buchstäblich bis zum Umfallen alles aushandeln, noch weglaufen. Aber wir können es so machen wie die Fipa. Sie waren im 19. Jahrhundert in eine Vielzahl von Konflikten verstrickt und änderten bewusst ihre Strategie, indem sie Normen der Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit entwickelten. Der Wert von Normen und Regeln scheint weltweit von zentraler Bedeutung für das Eindämmen der natürlichen Bereitschaft zur Aggression zu sein. Gruppenidentität leistet gute Dienste, eine Friedenserziehung tut überall not.
Christoph Antweiler erklärt, was uns Menschen verbindet. In unserer anomischen neoliberalen Welt herrscht die Meinung vor, dass man ohne Rechtsnormen und Werte auskommen könne – die Ethnologie zeigt hingegen auf, dass der Mensch gut daran tut, sie zu setzen. SABINE DOERING-MANTEUFFEL
CHRISTOPH ANTWEILER: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet. Murmann Verlag, Hamburg 2009. 269 Seiten, 18 Euro.
Erschöpfendes, andauerndes Reden hält Konflikte im Zaum
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2009

Je näher man sich kommt, desto schärfer die Abgrenzung

Kulturen gleichen sich weit mehr, als deren Angehörige es mitunter wahrhaben wollen. Gegen den Kulturrelativismus fragt Christoph Antweiler, was uns alle verbindet.

Kaum ein Kampfbegriff, der in den letzten Jahren so viel Furore machte wie jener der Kultur: Während die einen ihre Hoffnungen in die multikulturelle Gesellschaft setzten, warnten andere vor dem Kampf der Kulturen. Inzwischen steht aber auch der Kulturbegriff selbst unter dem Verdacht der politischen Inkorrektheit. Die vorgebrachten Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. In einer globalisierten Welt, in der Kulturen nicht mehr an bestimmte Lokalitäten gebunden sind, sich überlappen und durchdringen, werden kulturelle Zugehörigkeiten austauschbar. Ein in Deutschland geborenes Kind türkischer Migranten wird bei uns mit der Kultur seiner Eltern, in der Türkei aber mit der seines Geburtslandes identifiziert. Der Kulturbegriff sei im Prinzip essentialisiert und werde heute politisch missbraucht, so wird daher argumentiert. Er richte künstliche Grenzen zwischen den Menschen auf, behaupte kollektive Mentalitäten und schüre Ressentiments. Dort wo man früher von "Rasse" sprach, würde man heute von "Kultur" reden.

Diese Vorwürfe müssen die Ethnologie besonders treffen, zählt die Vorstellung von der Einzigartigkeit und Gestalthaftigkeit aller Kulturen doch seit Franz Boas, Ruth Benedict und Margaret Mead zu ihren Leitideen. Nach ihrer Auffassung stellte jede Kultur ein in sich geschlossenes Gefüge eigener Ordnung dar, ein Ensemble von aufeinander abgestimmten Lebensformen, Verhaltensweisen und Normen. Untereinander seien die Kulturen eigentlich inkommensurabel. Es gebe keinen neutralen Maßstab, an dem sie sich messen ließen. Der Kulturrelativismus zeigte auf diese Weise die Kulturgeprägtheit vieler Werte auf, die lange Zeit als universal angesehen worden waren. Da er die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Kulturen betonte, konnte die Politik des Multikulturalismus aus ihm zahlreiche Argumente beziehen. Freilich haben sich viele multikulturalistische Positionen inzwischen als illusionär erwiesen. Sie sind nüchterneren Einstellungen gewichen.

Diesem Wandel muss auch die Ethnologie Rechnung tragen. Einige ihrer Vertreter begeben sich daher wieder auf die Suche nach der Frage, was allen Kulturen gemeinsam sein könnte. Zu ihnen gehört auch Christoph Antweiler mit seiner populär gehaltenen Abhandlung, die sich bewusst an ein breiteres Publikum wendet und deren Stil sich daher, wenn manchmal auch etwas bemüht, an dem amerikanischer Sachbuchautoren orientiert. Sind die Differenzen zwischen den Kulturen tatsächlich so groß, wie dies immer behauptet wurde? Der Kulturrelativismus habe den Bogen einfach überspannt, so lautet Antweilers zentrale These. Die menschlichen Kulturen mögen zwar für sich einzigartig sein, teilten aber viele gemeinsame Züge. Diese Gemeinsamkeiten seien bis heute das Bindeglied geblieben, das es den Menschen erlaube, sich über alle kulturellen Grenzen hinweg zu verständigen.

Das Buch beginnt mit einer Liste von 73 Universalien, die der amerikanische Kulturanthropologe George Murdock bereits vor über 60 Jahren aufgestellt hat. Was hier als das Gemeinsame aller Kulturen der Welt aufgeführt wird, mutet zunächst recht trivial an: Abstillen, Arbeitsteilung, Familie, Geburtshilfe, Grußformen, Liebespartnerwerbung, politische Führung, Schenken, sexuelle Beschränkungen, Spiele, Sprache und vieles andere mehr. Dieser erste Eindruck verliert sich allerdings, wenn man Antweilers Erläuterungen zu einem guten Dutzend ausgewählter Fallbeispiele liest. Jedes Stichwort steht für einen ganzen Komplex von Verhaltensweisen, die deutlich machen, wie groß die Variationsbreite auch innerhalb der einzelnen "Universalien" ist.

Demutsgesten und Respektbezeugungen, Sitz- und Raumordnungen zählen zu den weltweit verbreiteten, nichtverbalen Kommunikationsformen. Sie bilden soziale Hierarchien ab. Dass man vor hochgestellten Persönlichkeiten niederzufallen und mit den Händen den Boden zu berühren hat, war am chinesischen Kaiserhof ebenso üblich wie im westafrikanischen Königreich Dahomey. Menschen verstehen diese Gesten spontan, auch wenn sie einer ganz anderen Kultur angehören. Obgleich in allen Gemeinschaften vorhanden und beachtet, finden sich diese Ordnungsmuster doch in unterschiedlich ausgeprägter Form vor. In hierarchisch strukturierten Gesellschaften werden sie zu großen Ritualen ausgebaut, mit deren Hilfe bestehende Rangunterschiede symbolisch zum Ausdruck gebracht und unterstrichen werden. In egalitären Gesellschaften spielen sie indes kaum eine Rolle. Und wenn man sie doch gebraucht, versucht man ihre Bedeutung eher herunterzuspielen.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Nacktheit und Sexualität. Wie Antweiler zu Recht festhält, gibt es keine Gesellschaft, in der diese Bereiche nicht bestimmten Restriktionen unterliegen. Dennoch reicht das Spektrum von den vollständig verhüllten Frauen in einigen arabischen Ländern bis hin zu den Eipo-Männern im Hochland von Neuguinea, die nur mit einem Penisköcher bekleidet sind. Schamgefühle kennt man freilich hier wie dort. Ein Eipo-Mann würde seinen Penisköcher nie vor den Augen anderer ablegen. Für die Sexualität gilt Ähnliches. In vielen Ländern der Erde werden strenge voreheliche Keuschheitsregeln befolgt, in anderen ist die Promiskuität von Jugendlichen durchaus üblich und wird manchmal sogar gefördert. Geschlechtsverkehr in aller Öffentlichkeit aber ist in keiner Kultur erlaubt. Und auch allgemeine sexuelle Freizügigkeit konnte sich langfristig nirgends durchsetzen.

"Alle Menschen können sprechen", so schreibt Antweiler einmal. Eine solche Aussage klingt banal. Was sich hinter ihr verbirgt, ist dann aber doch nicht ganz so selbstverständlich. Denn nicht nur die Sprechfähigkeit ist allen Menschen gemeinsam; auch die Strukturen, denen der Aufbau der einzelnen Sprachen folgt, scheinen universal vorgegeben. Überall nämlich gibt es bestimmte grammatische Grundregeln, überall auch die Unterscheidung zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat. Sprachwissenschaftler haben noch weitere Gemeinsamkeiten herausgefunden: die Modulierung des sprachlichen Ausdrucks durch Tonfall und Timing, die Existenz unterschiedlicher sozialer Sprachcodes oder auch die Tatsache, dass in allen Sprachen häufig verwendete Wörter kürzer sind als selten gebrauchte. Das Vorhandensein dieser und anderer Basisstrukturen hat einige Wissenschaftler zu der Annahme bewogen, dass allen Menschen eine gemeinsame Tiefengrammatik angeboren sei. Denn nur so lasse sich erklären, weshalb jedes Kind der Welt die Sprache der Kultur vollkommen beherrschen lernt, in die es hineingeboren worden ist. Doch verliert sich diese Fähigkeit von einem bestimmten Alter ab. Das Erlernen fremder Sprachen wird nun mühsam. Die Perfektion des echten Muttersprachlers lässt sich nicht mehr erreichen.

Müsste sich dies aber nicht auch auf die Aneignung von Werten, Normen, Verhaltensweisen und anderer kultureller Besonderheiten im Zuge der individuellen Sozialisation übertragen lassen? Haben die radikalen Kulturrelativisten also doch recht? Stellt jede Kultur das Ergebnis einer Wahl aus dem großen Bogen der Möglichkeiten dar, die - sobald sie historisch einmal getroffen worden ist - den Zugang zu allen übrigen Alternativen versperrt? Spätestens an diesem Beispiel wird die grundsätzliche Problematik des ethnologischen Universalismus deutlich. Sie besteht darin, dass es in den meisten Fällen mehr als schwierig ist, zwischen anthropologischen Konstanten und kulturellen Errungenschaften zu unterscheiden.

Alle sozialen Gruppen neigen dazu, ein starkes Wir-Gefühl herauszubilden. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sie sich von anderen Gruppen abgrenzen. Da die Unterschiede zwischen benachbarten Gruppen meist gering sind, können auch sehr kleine Differenzen in den Rang zentraler Unterscheidungsmerkmale erhoben werden. Das ist in der Auseinandersetzung zwischen Relativisten und Universalisten sicher der Fall, ließe sich aber auch auf das Neben- und Gegeneinander von Kulturen überhaupt anwenden. Bezieht man die Theorie der wechselseitigen Abgrenzung auf das Phänomen der multikulturellen Gesellschaft, so gelangt man zu einem paradoxen Befund. Je stärker die Interaktion zwischen den Angehörigen einzelner Kulturen ist, desto mehr werden sie sich dabei auch auf ihre jeweils eigenen Werte, Überlieferungen und Gebräuche beziehen, Unterschiede betonen und Gemeinsamkeiten ausblenden.

Genau diese Entwicklung lässt sich in kulturellen Diasporagemeinden beobachten. Als Symbole kultureller Identität spielen der karibische Karneval, das indische Hochzeitsfest, die Koranschule und der Schleier in der Fremde oft eine viel größere Bedeutung als in der eigenen Heimat. Werden sie zu ostentativ hervorgekehrt, bleibt die Reaktion von Seiten der Mehrheitsgesellschaft nicht aus, die nun ihrerseits ihre kulturellen Besonderheiten hervorkehrt. Als gleichwertig im Sinne des Kulturrelativismus werden sich die nebeneinander bestehenden kulturellen Systeme aber umso weniger wahrnehmen, je weiter der Prozess der Abgrenzung voranschreitet.

Von hier aus gesehen erhält Christoph Antweilers Lehrstück über den ethnologischen Universalismus durchaus eine politische Dimension. Der Verweis auf das Vorhandensein zahlreicher Gemeinsamkeiten wird die Errichtung neuer kultureller Grenzen zwar nicht verhindern. Doch kann er heute weit besser als der Kulturrelativismus dazu beitragen, deren Bedeutung zu relativieren.

KARL-HEINZ KOHL

Christoph Antweiler: "Heimat Mensch". Was uns alle verbindet. Murmann Verlag, Hamburg 2009. 268 S., geb., 18,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Christoph Antweilers Studie über kulturelle Gemeinsamkeiten liegt zwar überhaupt nicht im Trend, interessiert man sich doch laut Harry Nutt zurzeit hauptsächlich für "kulturalistische Differenz". Dennoch oder vielleicht gerade deshalb hat er sich mit viel Interesse mit den Untersuchungen des Bonner Ethnologen beschäftigt und stellt angetan fest, dass sich der Autor dabei auch bei Gebieten von politischer Brisanz nicht in ideologischen Debatten begibt. Für Nutt ist dieses Buch vor allem eine Einladung zur "ethnologischen Beobachtung" für ein breites Publikum, das um das "paradoxe Potential wissenschaftlicher Annahmen" weiß und als solches überaus anregend ist, wie er verspricht.

© Perlentaucher Medien GmbH