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Produktdetails
  • Verlag: Wehrhahn, M
  • ISBN-13: 9783865252319
  • ISBN-10: 3865252311
  • Artikelnr.: 33392928
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2011

Die alte Welt als Wille und Vorstellung
Der Politikwissenschaftler Olaf Asbach legt eine begriffsgeschichtliche Vermessung Europas von der Antike bis ins 17. Jahrhundert vor
In dem von Reinhart Koselleck initiierten historischen Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, das in neun stattlichen Bänden vorliegt, sucht man das Stichwort „Europa“ vergebens. Diese Lücke füllt jetzt teilweise eine lexikalisch konzis gearbeitete Studie von Olaf Asbach, der an der Universität Hamburg Politische Theorie und Ideengeschichte lehrt. Asbachs Untersuchung, die sich der historischen Semantik „Europas“ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert widmet, ist eine intellektuell sehr anregende Lektüre, insofern er mit vorzüglich belegten Argumenten die landläufig gehegte Vorstellung zertrümmert, Europa stelle eine politische wie kulturelle Einheit dar, die schon seit Jahrtausenden existiere und deren Sinn und Berechtigung nicht mehr in Frage stehe, sondern allenfalls noch deren konkrete Ausgestaltung. Dieser dienen etwa die Anstrengungen einer europäischen „Identitätspolitik“, die eine gemeinsame Erinnerungskultur zu stiften sucht und den Prozess der sehr weit fortgeschrittenen ökonomischen und rechtlichen Integration der Staaten der Europäischen Union historisch und kulturell absichern soll.
Diese Versuche, der Europäischen Union eine kulturelle Identität einzublasen, um deren Akzeptanz zu fördern, erinnert keineswegs von ungefähr an den Prozess der Nationalstaatsbildung. Auch damals wurden, ausgehend von der Gegenwart dieses Prozesses, je eigene nationale Kulturgeschichten und spezifische Traditionsbestände erfunden, die dazu dienten, dem Novum des Nationalstaats als verbindlicher politisch-sozialer Gemeinschaft eine historische Patina zu verschaffen, die ebenfalls legitimierende Funktion hatten. Häufig wurde das mit Verfälschungen der Geschichte oder auch der Erfindung opportuner Traditionen erfolgreich ins Werk gesetzt.
Eine solche Vorgehensweise, deren Schwächen durch die Konkurrenz, in der die Nationalstaaten miteinander standen, kaschiert wurden, ist für die angestrebte Stiftung einer europäischen Identität nicht brauchbar. Der entscheidende Grund dafür ist zum einen, dass die Identifizierung von „Europa“ mit der Europäischen Union nicht nur immer nachdrücklicher erlebbar, sondern auch zunehmend sachlich nachvollziehbar ist. Zum anderen ist der Europäischen Union mit dem Ende des Kalten Kriegs die Konkurrenz einer anderen Gesellschaftsordnung abhanden gekommen, gegen die man sich durch eine ideologische Hochrüstung behaupten musste. Die Folge ist, dass man mit einem Mal gewahr wird, auf wie viele unterschiedliche Vorstellungen von Europa der Wille zu Europa sich beruft. Hier kann eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, wie sie Asbach vorlegt, insofern Abhilfe schaffen, als sie den Mythos einer angeblich Jahrtausende alten Einheit Europas zerstört.
Dass bereits die „alten Griechen“ eine Vorstellung von Europa hatten, stellt für Asbach schon als „Vorstellung einen Anachronismus dar“. Ebenso verhielt es sich mit dem Imperium Romanum, das „in seiner Selbstwahrnehmung kein ‚europäisches Reich‘ war, sondern mit dem orbis terrarum zusammenfiel“. Zwar war, was in der Forschung immer wieder für Verwirrung sorgt, der Alten Welt „Europa“ durchaus geläufig, aber nur als „Namen für ein geographisches Territorium ohne Eigenschaften“. Wenn von solchen Eigenschaften dennoch gelegentlich bei antiken Autoren die Rede ist, dann sind damit ausschließlich solche gemeint, die der hellenischen Welt eigentümlich seien, um sich eben damit von den anderen, den „Barbaren“ zu unterscheiden. Mit anderen Worten: In der Antike war Europa keineswegs eine irgendwie „identitätsstiftende“ Kategorie.
Kaum anders war es in der Epoche des Mittelalters. „Weder eine Europaidee oder ein wie immer bestimmtes‚ europäisches Bewusstsein“, so Asbach, spielte damals eine Rolle, „und ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass im Mittelalter die Einheit Europas bereits gedacht, gelegt oder gar verwirklicht worden wäre.“ Auch die Christenheit steht dazu nicht im Widerspruch, denn diese war nicht mit der Vorstellung eines kontinentalen Europa verknüpft, sondern verfolgte weltweite Ziele. Europa als Wille und Vorstellung war dem Mittelalter fremd, ein Faktum, das sich auch nicht dadurch aus der Welt schaffen lässt, dass man kurzerhand „Europa“ mit „Christenheit“ oder „lateinischem Abendland“ identifiziert. Allenfalls lässt sich sagen, dass sich im Mittelalter in vielfältiger Hinsicht Voraussetzungen und Bedingungen ausbildeten, die sich ex post als notwendig für den „europäischen Sonderweg“ erwiesen, „ohne dass sie doch bereits eine hinreichende Erklärung dafür liefern könnten, dass und wie diese mittelalterliche Welt der res publica christiana dann zum Europa der Neuzeit und Moderne werden konnte“.
Bis zur endgültigen Ausbildung einer modernen Vorstellung von Europa war es aber noch, wie Asbach überzeugend darlegt, ein langer und windungsreicher Weg. Erst nach 1648, also nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs, wurde „Europa endgültig zu einer Leitkategorie des politischen und sozialen Denkens, die bis heute einen festen Platz in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der diesen Kontinent bewohnenden Gesellschaften, Staaten und Kulturen in all ihren Dimensionen ausmachen“. Dieses Resümee der begriffsgeschichtlichen Untersuchung „Europas“ wartet mit einer hübschen Pointe auf, denn konstitutiv für den modernen Europabegriff erwies sich erst der Zerfall des christlichen Universalismus, der das Mittelalter geprägt hatte. Dieser wurde durch die Renaissance wie die Entdeckung neuer Erdteile zunächst nur in Frage gestellt, von der Reformation und den daraus resultierenden konfessionell überformten Bürgerkriegen aber endgültig zerstört.
Erst mit dem irreparablen Verlust des auf Einheit abzielenden christlichen Universalismus konnte sich, so Asbach, der moderne Europabegriff als eine Kategorie etablieren, mit der sich die neue Vielfalt differierender Konfessionen, rivalisierender Staaten und unterschiedlicher Kulturen in einen neuen, alle Differenzen überwölbenden Zusammenhang einordnen ließ, der für die Selbstvergewisserung der Gesellschaften verbindlich wurde. Europa meint also einen Handlungszusammenhang, der, wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte, weit von einer utopisch friedvollen und multikulturellen Einheit in Vielheit entfernt ist. Dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die vielfältigen Konflikt- und Konkurrenzverhältnisse, die konstitutiv sind für das Wesen Europas, nicht mehr in blutigen Konflikten ausgefochten wurden, ist, nüchtern betrachtet, jedenfalls kein Beweis für eine künftige Validität jener Utopie. JOHANNES WILLMS
OLAF ASBACH: Europa – Vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik „Europas“ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert. Wehrhahn Verlag, Hannover 2011, 198 Seiten, 20 Euro.
Weder Antike noch Mittelalter
kannten eine Idee von Europa
Einheit und Identität gibt es
nur als Handlungszusammenhang
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Angetan zeigt sich Johannes Willms von Olaf Asbachs begriffsgeschichtlicher Untersuchung über das Konzept "Europa". Er attestiert dem Politikwissenschaftler, den Mythos eines seit Jahrtausenden bestehenden Europas überzeugend zu zerstören, einen Mythos, der immer wieder herangezogen wird, um die Integration der Staaten der Europäischen Union auch historisch zu legitimieren. Der Autor macht für Willms deutlich, dass es in Antike und im Mittelalter keine Europaidee, kein europäisches Bewusstsein gab und dass sich die moderne Vorstellung Europas erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs auszubilden begann. Lobend erwähnt der Rezensent auch die bündige Darstellung und die exzellente Argumentation.

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