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Produktdetails
  • Verlag: Wehrhahn
  • ISBN-13: 9783865251794
  • ISBN-10: 386525179X
  • Artikelnr.: 32360895
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2011

Ein Traum von gestern
Aus der Bukowina: Alexander Spiegelblatts Erzählungen

Mit dem Verschwinden des osteuropäischen jüdischen Schtetls schwindet auch der Lebensraum der jiddischen Sprache. Sie spaltete sich im Hochmittelalter bei den am Rhein ansässigen Juden als Idiom von den mittelhochdeutschen Dialekten ab und nahm nach der Abwanderung der Juden in osteuropäische Gebiete (14. Jahrhundert) auch slawische Sprachelemente auf. Einer der überlebenden Dichter in jiddischer Sprache ist der 1927 in der Bukowina geborene und 1964 aus Rumänien nach Israel ausgewanderte Alexander Spiegelblatt, Lyriker und Autor erzählender und essayistischer Schriften. Vier Erzählungen, von Kay Schweigmann-Greve aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt, liegen jetzt im Wehrhahn Verlag in dessen Reihe "Werke - Welten - Wissen" vor.

Der erste Text, "Im Morgengrauen", macht noch einmal einen Nachklang deutschjüdischer Kultur der österreichischen Bukowina hörbar. In romantischen Naturschilderungen bei einer Gebirgswanderung hallt der Ton Eichendorffs nach. Aber in den dreißiger Jahren zieht Kälte in die Lebensidylle ein, im Radio hört man die Stimme des "Führers", und bald bricht mit der Deportation das Elend der Lager herein. In der zweiten Erzählung, "Tanja", projiziert Spiegelblatt in die Titelfigur seine Erinnerung an die Dichterin aus der Bukowiner Heimat Salomea Mischel. Wieder wird die enge Bindung jüdischer an die deutsche Kultur offenbar: Tanja pilgert zum Grab Rilkes. Tanja ist von Beruf Ärztin, und bei einem lungenkranken jiddischen Poeten nimmt sie zum ersten Mal den Zauber der jiddischen Sprache wahr: "die Melodie der Sprache, ihren Klang und ihr Echo". Diese Sprache ist "wie eine Saite, die erst zum Leben erwacht, wenn man sie auf eine Geige spannt". Und nun wird abends die Entdeckung der jiddischen Literatur mit Lesungen von Itzig Mangers Balladen, mit Fabeln von Elieser Steinberg und mit Kapiteln aus Scholem Alejchems (Alechems) "Tewje der Milchmann" gefeiert.

Die dritte Erzählung, "In Tewjes Stiefeln", ist eine Huldigung an diesen großen jiddischen Erzähler Scholem Alejchem, der im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Ukraine in die Vereinigten Staaten auswanderte. Seine "Geschichten Tewjes, des Milchhändlers" sind vor allem durch J. Steins und J. Bocks Musical "The Fiddler on the Roof" (1964) weltbekannt geworden. Wie Improvisationen über Themen des großen Humoristen, der dem Leser noch unter Tränen zu lachen erlaubt, wirken die Szenen der Erzählung aus dem bukowinischen Schtetl mit ihren immer neuen Geschichten von Lebenskunst und mutigem Durchstehen neuer Leiden. Was aber die Erzählung besonders lebendig macht, ist Spiegelblatts Griff zur Parodie. Mit seinem Amateurtheater macht sich der Dilettant Elie an eine Dramatisierung des Stoffs vom Milchmann Tewje. Die Premiere endet in einem Fiasko: Die Schauspielerin der weiblichen Hauptrolle wird von der politischen Polizei gesucht und festgenommen. - Es sind die politischen Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Judenverfolgungen, die in den drei Erzählungen das Leben im bukowinischen Schtetl als einen Traum von gestern erscheinen lassen.

Die Schlusserzählung über den Schriftsteller "Spindel Spindelrad" wird beherrscht vom Bild der Kirchturmuhr, deren Zeiger rückwärtsgehen. Ja, es ist die rückwärtsgewandte Utopie, aus der Spiegelblatt noch einmal, mit einer überquellenden Phantasie, die Welt des Schtetl, der Heimat der jiddischen Sprache, beschwört. Spiegelblatts Realismus aber besteht darin, dass er vor den brutalen Eingriffen der politischen Geschichte in die Utopie nie die Augen verschließt. Alles in allem: Hier haben wir die Übersetzung einer Erzählungstetralogie, in der sich Humor und Melancholie die Waage halten. Man wünscht ihr viele Leser.

WALTER HINCK

Alexander Spiegelblatt: "Schatten klopfen ans Fenster". Vier Erzählungen.

Aus dem Jiddischen von Kay Schweigmann-Greve. Wehrhahn Verlag, Hannover 2011. 120 S., br., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Hinck stellt Alexander Spiegelblatt als einen der letzten Erzähler jiddischer Sprache vor. Alle Erzählungen, so der Rezensent, beschwören die Welt der durch Österreich geprägten Bukowina herauf, und in manchen Erzählungen spüre man, wie tief die jüdische Kultur mit der deutschen verbunden war, etwa wenn in Naturschilderungen ein Eichendorff-Ton hindurchschimmert oder wenn auf Rainer Maria Rilke angespielt wird. Besonders interessant fand Hinck die Erzählung "In Tewjes Stiefeln", in der Spiegelblatt Motive eines anderen jiddischen Dichters, Scholem Alejchem, aufgreift, dessen "Tewje der Milchmann" durch das Musical "Fiddler on the Roof" weltberühmt wurde.

© Perlentaucher Medien GmbH