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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Gesamtlaufzeit: 1740 Min.
  • Erscheinungstermin: 22. März 2010
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 9783865215147
  • Artikelnr.: 25698113
Autorenporträt
Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren, absolvierte nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft eine Steinmetzlehre, studierte dann Grafik und Bildhauerei in Düsseldorf und Berlin. 1956 erschien der erste Gedichtband mit Zeichnungen, 1959 der erste Roman 'Die Blechtrommel'. 1965 erhielt der Autor den Georg-Büchner-Preis, 1994 den Karel-Capek-Preis. 1999 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen und 2009 wurde er zum Ehrenpräsidenten des P.E.N. ernannt. Günter Grass starb am 13. April 2015 in Lübeck.
Rezensionen
Der "Butt" schlummerte 33 Jahre lang im Regal und zwischendurch in Umzugskisten. Er war 1977, im Jahr seines Erscheinens, Lektüre während einer sizilianischen Reise, die im Zeichen verwirrter und verwirrender Liebeskonstellationen stand. Der Stoff des Romans, den Günter Grass in Jahren einer eigenen Lebens- und Liebeskrise schrieb, bot dem Leser in vielfacher Weise Trost und Zuspruch. Das gewaltige Panorama der Geschlechtergeschichte von der Jungsteinzeit bis in die frauenbewegte Gegenwart der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts erzählt ja davon, dass es Männer und Frauen nie leicht hatten miteinander, und strotzt gleichwohl vor Erotik und Sinnlichkeit, denn das Zeugen und Gebären und vor allem das Kochen halten die in Mann und Frau geschiedene Menschheit dann doch irgendwie zusammen.

Und wenigstens das Kochen machte damals, 1977 am Mittelmeer, keine Probleme. Es gab zwar nicht Hammel und Birnen, die im Roman die Speisefolge eröffnen, sondern Tintenfisch im eigenen, schwarzen Sud. Aber was da im Topf auf dem Gaskocher am Strand schmurgelte, brachte doch kurze Momente der Versöhnlichkeit und des Einvernehmens, bis dann wieder die sogenannten Beziehungsgespräche begannen und in bitterem Streit endeten. Der "Butt" war immer dabei. Zwischen den Seiten des dunkelblauen Leinenbandes von Luchterhand knirschen noch die Sandkörner.

Das quasi therapeutische Lesen hat den "Butt" als literarisches Kunstwerk natürlich nicht erfasst. Es war nicht darauf aus, in Bedeutungstiefen einzudringen oder den kunstvoll-komplizierten Bau des Werks zu verstehen. Das ist beim "Butt" auch nicht ganz einfach. Er wehrt sich nämlich gegen das Gelesenwerden, verwirrt den Leser durch eine unüberschaubare Fülle von Figuren, durch ineinander verschachtelte Erzählebenen, durch Zeitsprünge, Überblendungen und einen Ich-Erzähler, der andauernd die Gestalt wechselt und dem außerdem ein Plattfisch, der Butt eben, aus dem Märchen vom Fischer und seiner Frau, als erzählerische Instanz Konkurrenz macht.

Nach der kurzen und heftigen Begegnung des Lesers mit dem "Butt" blieb wenig in der Erinnerung hängen. Die Umstände der Lektüre stehen zwar noch plastisch vor Augen, der Inhalt allerdings ist verblasst.

Jetzt liegt eine stattliche Box mit 24 CDs auf dem Schreibtisch, 29 Stunden "Butt", gelesen vom Autor. Die Aufnahme fand im Januar und Februar 2008 allerdings nicht im Studio, sondern im Günter-Grass-Haus in Lübeck vor Publikum statt. So hat Grass in jüngster Zeit auch die autobiografischen Bücher "Beim Häuten der Zwiebel" und "Die Box" in Hörbücher verwandelt. In älteren Aufnahmen gibt es unter anderem "Die Blechtrommel", "Katz und Maus", "Im Krebsgang", "Mein Jahrhundert" und die Gedichtauswahl "Lyrische Beute". Der Erzähler Günter Grass ist wie kein anderer Schriftsteller auch als erzählende Stimme präsent.

Der 82-jährige will sein Werk auch im mündlichen Modus der Nachwelt hinterlassen, was nicht zuletzt eine gewaltige physische Leistung darstellt. Die Energie dafür schöpft er aus seinem Konzept von Authentizität und Autonomie. Er bearbeitet und gestaltet seinen Lebensstoff mit Kopf, Hand und Stimme, als Schriftsteller, Grafiker und Bildhauer, Vortragskünstler. Er gibt nicht gern etwas aus der Hand und behauptet in Zeiten, in denen der Tod des literarischen Autors beschworen wird, seine Autorschaft mit Händen und Füßen, Zunge und Stimmbändern. Bücher führen zwar ein Eigenleben. Das bringen Markt, literarische Öffentlichkeit und Rezeptionsgeschichte so mit sich.

Aber Günter Grass, ganz Patriarch, sorgt dafür, dass es seine literarische Brut damit nicht zu weit treibt. Nicht nur dass er die Übersetzer seiner Werke zu regelmäßigen Treffen versammelt oder Neuausgaben seiner Werke von eigener Hand grafisch gestaltet. Er spricht sein Werk auch und bindet es so ein für alle Mal an seine Physis, seine Stimme, seinen Klangkörper. Die Ergebnisse beweisen, dass ihm auf diesem Gebiet niemand Konkurrenz machen kann. Nur ein von Grass gelesener Grass ist ein echter Grass.

"Ilsebill salzte nach" - so beginnt der "Butt". Der Satz wurde vor einigen Jahren zum schönsten Romananfang gekürt. Grass spricht das "a" bei "nach" kurz, wie bei "Nachen". Er bindet Wörter und Sätze deutlich ab, nichts wird verschliffen oder vernuschelt. Mit klarer Aussprache, Ruhe und Gelassenheit und einer im Alter weicher gewordenen Stimme führt er den Hörer in das Riesenwerk. Und diese Stimme wird den Hörer bei dem epischen Ritt durch die Menschheitsgeschichte und ihre Kochtöpfe tragen. Sie stiftet Vertrauen. Ich weiß, wo wir sind und wie es weiter geht, nur Geduld, sagt sie und macht den Hörer empfänglich.

Es ist zwar Hochsommer, aber wenn Grass von Ilsebill erzählt, die vor 4000 Jahren Aua hieß, drei Brüste hatte und in den Weichselsümpfen das Matriarchat verteidigte, indem sie die Männer von ihrer Fischsuppe abhängig machte, dann hört man auch bei dreißig Grad Außentemperatur den Ofen oder das Lagerfeuer knistern und fühlt sich in die Urszene des Erzählens zurück versetzt. Der da spricht, weiß Dinge, die wir nicht wissen können. Er wird uns Dinge zeigen, die wir nie gesehen, und uns auf Gedanken bringen, die wir nie gedacht haben. Das alles hat gar nichts Märchenonkelhaftes, sondern kommt daher als ernste Übung in Geduld und Konzentration. Erzählen braucht Zeit, und es füllt die Zeit. Man gibt Nebenbeschäftigungen wie E-Mails Lesen oder Googeln schnell auf, wenn man sich von Grass erst einmal hat in den "Butt" hinein locken lassen. Er zieht als Sprecher nicht die große Schau ab, sondern erzielt seine Wirkung durch leises, nuancenreiches Modulieren. Und im Grassschen Sprachfluss wird der sperrige Text geschmeidig und zugänglich, wie wenn er, befreit aus dem Gatter der Schrift, in der Mündlichkeit die ihm gemäße Lebensform gefunden hätte.

Es kommt noch ein Weiteres hinzu, was das Hören des "Butt" zu einem auch anrührenden Erlebnis macht. Hier spricht der 80-jährige das, was der 50-jährige berserkerhaft um die Form ringend zu Papier brachte. Es ist ein rückschauendes Vorlesen. Mit dem "Butt" kehrt Grass in eine Lebensphase zurück, in der er seine vielleicht größte Krise - privat wie künstlerisch - zu bewältigen hatte. Seine erste Ehe zerbrach. Sein politisches Engagement für Willy Brandt und die SPD führte ihn in tiefe Frustration. Auch die Beziehung zu Veronika Schröter, aus der die Tochter Helene hervorging, die im Roman im ersten Kapitel gezeugt wird und im letzten der den neun Monaten einer Schwangerschaft entsprechenden neun Kapitel per Kaiserschnitt zur Welt kommt, hält nicht. Manche Kritiker trauten Grass einen neuen epischen großen Wurf nicht mehr zu. Er habe seine künstlerische Kraft auf Straßen und Marktplätzen verplempert, hieß es. Grass musste sich und der Öffentlichkeit beweisen, dass dem nicht so war. Beim "Butt" ging es für Grass um Sein oder Nichtsein. Sein Buch wurde, trotz mancher mäkeliger Kritik in Deutschland, ein großer internationaler Erfolg, der ihm auch seine wirtschaftliche Unabhängigkeit sicherte. Dunkel erinnert man sich heute daran, dass 1977 die Schaufenster der Buchhandlungen zwischen Flensburg und Berchtesgaden mit riesigen Flundern aus der Grassschen Radiernadel dekoriert waren. Und es gab damals noch viel mehr Buchhandlungen als heute. Das Unternehmen Grass stand erst mit dem "Butt" auf sicherem Fundament.

All das schwingt mit, wenn der Autor jetzt den Text von damals zum Klingen bringt, der, anders als die "Blechtrommel", mit seinen Figuren und Motiven, von der nachsalzenden Ilsebill vielleicht einmal abgesehen, nicht zum Allgemeingut geworden ist. Seine Lesung und Verwandlung zum Hörbuch ist so etwas wie eine Neugeburt, die dem "Butt" jenen herausgehobenen Platz zuspricht, den er in Leben und Werk beanspruchen kann.

Dass den alt gewordenen Autor die Begegnung mit den Zeiten früherer Kämpfe nicht kalt lässt, spürt man beim Hören. Am meisten im zentralen Kapitel "Vatertag", dem formal und inhaltlich gewagtesten Teil des Romans. Vier Feministinnen beschließen, im Berlin der frühen Sechzigerjahre die Geschlechtsrollen zu wechseln und in Männerverkleidung am Grunewaldsee Vatertag zu feiern. So leichtfüßig das erzählt wird, gerät es doch zu einer Orgie psychischer und physischer Gewalt. Am Schluss wird eine der vier Frauen von Rockern bestialisch vergewaltigt und ermordet. Doch ganz unschuldig daran sind ihre Geschlechtsgenossinnen nicht. Über mehr als eineinhalb Stunden Lesezeit entfaltet sich dieses Verhängnis. Und man meint das Erstaunen des Autors über seine Radikalität von damals zu hören. Bei der Mordszene mit all ihren Unaussprechlichkeiten klingt Günter Grass’ Stimme belegt.

Von Eckhard Fuhr

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Recht lang und recht breit setzt Rezensent Christian Deutschmann erst einmal auseinander, warum das Lange und Breite von Günter Grass' mehr berüchtigtem als berühmtem Roman "Der Butt" nicht unbedingt jedermanns Sache ist. Die Einwände aber gegen das Buch würden, versichert er, weggeblasen, sobald man den Autor selbst, wie in dieser vollständigen Einlesung, das Werk vortragen hört. "So gewaltig wie sanft" bringe er einem den "Butt" näher, ja nahe, und finde dabei genau die richtige Mitte zwischen falschem Understatement und noch verkehrterer "Nachspielerei". Sichtbar und hörbar wird, staunt der bezauberte Rezensent, die "Eleganz und Grazie" noch dieses bislang vor allem als Ungetüm wahrgenommenen Grass-Romans.

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