Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 1,99 €
  • Broschiertes Buch

Die europäische Welt ist aus den Fugen geraten, EU-Krisengipfel sind zur Regel geworden. Der Zustand der öffentlichen Finanzen, der Mangel an globaler Wettbewerbsfähigkeit, die Wiedergeburt des russischen Imperialismus, der Vormarsch der Islamisten, der anschwellende Flüchtlingsdruck, das alles zwingt Europa von einer Notoperation in die nächste. Als ob dies nicht schon schwer genug wäre, verlieren die Europäer über all dem zunehmend ihren historischen Kompass. Die Hoffnung, die Welt des 21. Jahrhunderts maßgeblich mitgestalten zu können, ist dem Zweifel am europäischen Experiment gewichen -…mehr

Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktbeschreibung
Die europäische Welt ist aus den Fugen geraten, EU-Krisengipfel sind zur Regel geworden. Der Zustand der öffentlichen Finanzen, der Mangel an globaler Wettbewerbsfähigkeit, die Wiedergeburt des russischen Imperialismus, der Vormarsch der Islamisten, der anschwellende Flüchtlingsdruck, das alles zwingt Europa von einer Notoperation in die nächste. Als ob dies nicht schon schwer genug wäre, verlieren die Europäer über all dem zunehmend ihren historischen Kompass. Die Hoffnung, die Welt des 21. Jahrhunderts maßgeblich mitgestalten zu können, ist dem Zweifel am europäischen Experiment gewichen - ein Scheitern nicht mehr ausgeschlossen. Martin Winter, viele Jahre Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Brüssel, gibt Antworten, die vielschichtig und einfach zugleich sind: Die EU hat sich mit dem Euro und mit der gemeinsamen Außenpolitik übernommen. Die Politik hat ihre Kraft zur Einigung des Kontinents überschätzt, und den Widerstand der Völker dagegen unterschätzt. Noch gibt es Chancen für das Projekt Europa, aber dann muss die Union neu gedacht werden, nüchterner und realistischer. Und sie muss Ballast abwerfen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2015

Europa vor dem Scheitern?
Überzogene Diagnose - gutgemeinter Therapievorschlag

Nach einigen Jahren als Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Brüssel legt Martin Winter eine Art Bericht zur Lage der EU vor. Für ihn ist sie dramatisch: "Europa, so scheint es, ist am Ende, zumindest zeigt es deutliche Anzeichen von Zerfall." Aus der Wohlfühl-Union, die allen Mitgliedsländern Frieden und den meisten Bürgern wirtschaftliche Vorteile gebracht hatte, sei eine Risiko-Union geworden, in der die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auseinanderdrifte und die von einem Kranz von Brandherden umgeben sei. Die Ost-Erweiterung habe Europa geschwächt, und die ungeklärte territoriale Finalität der Union biete der wachsenden Europhobie nur noch weiteren Nährboden.

Die Ursache für das Debakel sieht Winter darin, dass sich die EU nach dem Ende des Kalten Krieges übernommen habe. Die Politiker hätten - von der Aussicht eines immer engeren Zusammenwachsens des europäischen Kontinents fasziniert - Europa mit der Wirtschafts- und Währungsunion und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu einer Weltmacht formieren wollen, die die europäische Lebensweise vor den Angriffen der Globalisierung schützt und sie über die Welt verbreitet. Dabei hätten sie Gegensätze und Unterschiede zwischen den europäischen Völkern ebenso unterschätzt wie ihre Beharrungskraft gegenüber der Idee einer europäischen Nation.

Bei dem Versuch, diese These zu belegen, gelingen Winter einige treffende Beobachtungen. So zeigt er, dass die nationalen Regierungen immer wieder vor einem makroökonomischen Rahmen zur verbindlichen Steuerung der Währungsunion zurückgeschreckt sind. Er betont die Interessendivergenz der Mitgliedstaaten und ihre mangelnde Fähigkeit zur Verständigung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Weiter macht er auf die Profilierungssucht Brüsseler Eurokraten aufmerksam, die zu politisch unsinnigen Vorstößen führen. Er diskutiert die Schwierigkeiten Frankreichs, dem deutschen Partner noch auf Augenhöhe zu begegnen, und den Mangel an entschlossener Führung der Union, der daraus folgt.

Daneben stehen aber gravierende Fehleinschätzungen. Winter unterschätzt die Krisenhaftigkeit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und das Streben nach europäischer Selbstbehauptung schon vor dem Ende des Kalten Krieges. Wirtschaftliche Interessen als Einigungsmotiv kommen bei ihm so gut wie gar nicht vor. Der Weltmacht-Vision, die gelegentlich in der europäischen Rhetorik aufblitzt, wird entschieden zu viel politisches Gewicht beigemessen, während die generelle Bedeutung von Visionen für die Entwicklungsdynamik einer politischen Gemeinschaft zugleich sträflich vernachlässigt wird. Das Nebeneinander von primärer nationaler und sekundärer europäischer Identität deutet Winter dahin gehend, dass sich die Hoffnung auf Herausbildung eines "europäischen Volkes" nicht erfüllt habe. Tatsächlich spricht es eher für eine allmähliche Europäisierung des nationalen Bewusstseins.

Ein überzeugendes Gesamtbild kommt so nicht zustande - und auch kein überzeugendes Rezept zur "Rettung" Europas, wie Winter sie für notwendig hält. Die Forderung nach einem Verzicht auf eine Ewigkeitsgarantie für die Mitgliedschaft in der Eurozone ist sicherlich klug, und in diesem Sinne war auch die "Grexit"-Drohung, die Bundesfinanzminister Schäuble nach dem Erscheinen von Winters Buch in den Raum gestellt hat, durchaus heilsam. Nur wenn die Mitglieder der Eurozone wissen, dass die Währungsunion sie nicht in jedem Fall auffängt, werden sie bereit sein, wirtschafts- und finanzpolitisch das zu tun, was im Sinn der Lissabon-Strategie notwendig ist. Ebenso erscheint eine Erweiterung des bisherigen Instrumentariums zur Bewältigung der Euro-Krise sinnvoll: Einführung eines Verfahrens zum Ausscheiden aus der Währungsunion, flexible Handhabung des Stabilitätspakts und des Fiskalpakts sowie Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung struktureller Reformmaßnahmen.

Dagegen ist nicht zu sehen, was es bringen soll, die Arbeiten an einem Europa der Verteidigung einzustellen und den außenpolitischen Apparat der EU deutlich zu verschlanken. Winter meint, damit könne man "Kräfte sparen". Aber er beziffert diese Kräfte nicht und diskutiert auch nicht, wie solche Einsparungen zu der auch von ihm diagnostizierten Notwendigkeit passen, in verstärktem Maße ohne die amerikanische Schutzmacht zu handeln. Mit der Forderung nach einem Moratorium bei der Erweiterung rennt er offene Türen ein, ohne mögliche Nachteile einer temporären Zurückhaltung bei der Aufnahme neuer Mitglieder zu bedenken.

Ebenso wenig überzeugt die Forderung nach einer Reduzierung des "weitverzweigten Netzwerks der Brüsseler Bürokratie". Maßnahmen zur Effektivierung der Verfahrensabläufe, wie sie die Juncker-Kommission zu Beginn ihrer Amtszeit beschlossen hat, sind sicherlich geeignet, den Verdruss über Brüsseler Regelungswut einzudämmen. Den Nachweis, dass in Brüssel Dinge verwaltet werden, um die sich die Union besser nicht kümmern sollte, führt Winter jedoch nicht. Er dürfte auch nur schwer zu führen sein.

Was "Ballast abwerfen" sonst noch bedeuten soll, bleibt unklar. Und wie es helfen soll, die Völker der Union stärker für das Gemeinschaftsprojekt zu gewinnen, bleibt vollends im Dunkeln. Winters Plädoyer für mehr Ehrlichkeit in der europapolitischen Debatte leidet unter den Halbheiten in seiner Diagnose.

WILFRIED LOTH

Martin Winter: Das Ende einer Illusion. Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit. Süddeutsche Zeitung Edition, München 2015. 296 S., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr