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1969 wurde schon einmal erprobt, was heute wieder heftig diskutiert wird: Sollen Parteien sich zur Gesellschaft hin öffnen und bei der Auswahl ihrer Spitzenkandidaten und im Wahlkampf Unterstützer einbeziehen, die nicht zur Mitgliederbasis gehören? Legendäres Vorbild ist die Kampagne für Willy Brandt. Ein halbes Jahr lang tourte Günter Grass damals in einem alten VW-Campingbus durch die Bundesrepublik und machte Wahlkampf für die SPD. 32 000 Kilometer legte er zurück, besuchte 79 Wahlkreise, sprach zu rund 60 000 Menschen, gab 46 Pressekonferenzen und ungezählte Interviews. Vielerorts…mehr

Produktbeschreibung
1969 wurde schon einmal erprobt, was heute wieder heftig diskutiert wird: Sollen Parteien sich zur Gesellschaft hin öffnen und bei der Auswahl ihrer Spitzenkandidaten und im Wahlkampf Unterstützer einbeziehen, die nicht zur Mitgliederbasis gehören? Legendäres Vorbild ist die Kampagne für Willy Brandt. Ein halbes Jahr lang tourte Günter Grass damals in einem alten VW-Campingbus durch die Bundesrepublik und machte Wahlkampf für die SPD. 32 000 Kilometer legte er zurück, besuchte 79 Wahlkreise, sprach zu rund 60 000 Menschen, gab 46 Pressekonferenzen und ungezählte Interviews. Vielerorts entstanden Sozialdemokratische Wählerinitiativen, die Positionen vertraten, die in der SPD noch umstritten waren. Im vorliegenden Band werden die Erinnerungen der Beteiligten dokumentiert und die Ereignisse politikgeschichtlich eingeordnet. Die Texte und die zahlreichen Abbildungen lassen eine bewegte Zeit wieder aufleben, in der von Politikverdrossenheit noch nichts zu spüren war.
Autorenporträt
Schlüter, Kai
Jahrgang 1956; Studium der Germanistik und Sozialwissenschaften in Göttingen; 1983 Promotion; 1983/84 Volontariat bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung; 1984-86 Hörfunkredakteur beim Norddeutschen Rundfunk; seit 1986 Redakteur bei Radio Bremen; ARD-Hörfunkkorrespondent in Washington und London sowie Chef vom Dienst im 2001 neu gegründeten Nordwestradio (RB/NDR).

Münkel, Daniela
Ab 1981 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Politikwissenschaft und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen, 1994 Promotion, 1994-1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover, 1997-2000 Werkvertrag mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, 2000-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover, 2005 Habilitation, 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Bundestages, 2005-2006 Vertretung des Lehrstuhls für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität Saarbrücken, 2007-2008 Gastdozentur an der Universität Heidelberg, seit 2008 Projektleiterin in der Abteilung Bildung und Forschung der BStU.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.12.2011

Die erfolgreiche Schnecke
Kai Schlüter dokumentiert die legendäre Wahlkampftour im Jahr 1969, auf der Günter Grass für Willy Brandt trommelte
Im Sommer 1969 war Günter Grass bereits weltberühmt. Das amerikanische Magazin Time würde den schnauzbärtigen Ostgermanen bald auf dem Titel bringen, aber zu Hause galt er nach wie vor als umstritten. Seine Bücher standen bei den Moralwächtern unter Pornographie-Verdacht, und die Berliner Studenten verachteten ihn als staatstragenden Liberalen. Dabei amtierte er in den aufgeregten Mittsechzigern zeitweise als heimlicher Regierender Bürgermeister von Berlin. Der Senat wusste das und sorgte dafür, dass ihm das Finanzamt wegen des „hohen gesellschaftlichen Niveaus“ seiner Tätigkeit eine Sonderabschreibung von 30 000 DM gewährte.
1965 gründete Grass zusammen mit Männern wie Günter Gaus, Arnulf Baring und Klaus Wagenbach das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“. Im hohen Whitman-Ton besang er die Demokratie und fand den schlagenden Vers zur praktischen Nutzanwendung: „Ich rat euch, Es-Pe-De zu wählen.“ SPD hieß Brandt, Willy Brandt, dem Grass 1969 ins Bundeskanzleramt helfen wollte, was vier Jahre zuvor noch misslungen war.
Die Aussichten waren in jenem Sommer 1969 nicht schlecht, dass Brandt als erster Sozialdemokrat nach dem Krieg den amtierenden Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ablösen würde. Während sich der SDS schon wieder auflöste, fand die NPD auffällig viel Zustimmung; ihr Einzug in den Bundestag schien bereits sicher zu sein.
„Wir haben zwar kein Endziel, aber ein Wahlkampfziel: die Ablösung der Großen Koalition durch eine sozial-liberale“, notiert Grass später in seinem „Tagebuch einer Schnecke“. Das alte Projekt, dass die Schriftsteller Einfluss auf die Politik nehmen könnten und sogar müssten, scheint sich in der idealischen Verbindung Brandt-Grass endlich zu vollenden, zumal wenn klar ist, wo der Geist weht und wo die Macht sitzt. „Wischnewski meint, uns verstanden zu haben. Ehmke tut so, als habe er uns erfunden. Willy lässt grüßen. Die Espede will – oder besser: will wollen. Und Onkel Herberts Segen haben wir (vorläufig).“ Hans-Jürgen Wischnewski war Bundesgeschäftsführer der SPD, der „Onkel“ ist natürlich Herbert Wehner.
Noch ist die Sache nicht durch, noch gilt es zu kämpfen. Bei der Führung der favorisierten SPD sieht Grass „zwar Fleiß und Können, aber auch mangelnden Willen, die bevorstehende Bundestagswahl zu gewinnen“. Der Anstoß muss von außen kommen, von ihm und der Sozialdemokratischen Wählerinitiative. Für sie, für Brandt und ein wenig doch auch für sich selber tritt Grass im ganzen Land und vor allem in wackligen Wahlkreisen auf, um für den Machtwechsel zu werben.
Ein knappes Vierteljahrhundert ist zwar seit dem Krieg vergangen, aber in Westdeutschland herrscht noch immer finsterstes Mittelalter. Dem Kandidaten Brandt wird wieder einmal seine uneheliche Geburt vorgeworfen, und Franz Josef Strauß vergleicht rabaukende Studenten mit Tieren und fordert eine Sonderbe-handlung für sie. Der Schriftsteller Grass wird volkstümlich, spricht in Wirtschaften und auf Marktplätzen von Norden nach Süden und zurück über den Atomwaffensperrvertrag, die dynamische Rente, die Mitbestimmung, die Golddeckung und zieht dafür, wenn nötig, auch eine Lederhose an. Schriftsteller bleibt er trotzdem. „Zwischendurch ‚örtlich betäubt‘ als Umbruch verabschiedet“, notiert er über seine Abrechnung mit den Berliner Anarchisten.
Wie erfolgreich sich der fleißige Wahl-kämpfer in der Kampagne von 1969 schlug, dokumentiert jetzt ein von Kai Schlüter herausgegebener Band. Es ist kein Buch, das in der Grass-Sekundärliteratur bisher furchtbar gefehlt hätte, es liefert aber ein buntes Zeugnis aus einer bewegten Zeit, in der sich die Politik noch mehr zutraute als kleine Reparaturmaßnahmen am Kapitalismus.
Dabei bietet sich ein tiefenscharfer Blick zurück in die erregten Jahre der Bundesrepublik, die hier in Standbildern wie in einem Knipsfernseher wiederersteht, den es damals für die Kinder gab. Der ganze Grass ist schon da, der wortgewaltige Schriftsteller, der noch gewaltigere Rechthaber, aber immerhin mit einem ehrbaren Anliegen und auf der schwächeren Seite, notfalls sogar zu ei-nem Lachen bereit, das sich der heutige Griesgram beim besten Willen nicht mehr abringen lässt.
Es hatte sich da eine andere große Koa-lition aus Jungsozialisten und Gewerk-schaftern gefunden, die bereitwillig den Sommer von Woodstock und Mondlandung hingab, damit der Bessere siege. In diesem bunten Tross war es kein Nachteil, dass der immer heiser werdende Propagandist gelegentlich für die Seinen kochte. Die Dokumente zeigen ihn beim gestischen Reden, beim Mitfahren im Bus, beim stolzen Tranchieren, und wie ihm der ganz anders eingefleischte SPD-Kämpe Wischnewski sehr misstrauisch zusieht.
Bei Rainer Barzel entdeckt Grass (gött-liche Formulierung:) eine „sich selbst nachlauschende Würde“, die dem heutigen Grass nicht fremd sein dürfte. Leider hat dem Herausgeber niemand gesagt, dass Willy Brandt 1969 keineswegs gegen Rainer Barzel, vor dem Grass sich „öffentlich ekelte“, sondern gegen Kiesinger kandidierte.
Einen schauerlichen Vorfall auf dieser Tour übergeht Schlüter: Wie sich vor dem Podium des Evangelischen Kirchentags in Stuttgart (Motto: „Hunger nach Gerechtigkeit“), auf dem Grass aus seiner Berliner Novelle „örtlich betäubt“ las, ein Mann aufstellte und mit dem Ausruf „Ich grüße meine Kameraden von der SS!“ Zyankali einnahm und sterbend zusammenbrach. Für Bild hatte Grass, der „politische Wolf im Schafspelz“, den vor vierzig Jahren noch niemand mit der SS zusammenspannte, zumindest eine Mitschuld an diesem öffentlichen Selbstmord, habe er doch „mit seiner Demagogie versucht, das Volk zu zerstören“.
In einem Fazit, das ihn der Herausgeber 2011 ziehen lässt, ist sich Grass völlig sicher (und hat wahrscheinlich sogar recht damit): „Ohne die Wählerinitiative wäre die Wahl nicht zu gewinnen gewesen.“ Die SPD steigerte ihren Stimmenanteil von 39,3 auf 42,7 Prozent, die FDP verlor zwar einen großen Teil ihrer deutschnationalen Stammwähler, aber zusammen reichte das Ende September 1969 für eine knappe linksliberale Mehrheit. Willy Brandt wurde im dritten Anlauf endlich Bundeskanzler, der, nach einer Formulierung von Grass, „mehr Demokratie wagen“ wollte. Ach ja.
WILLI WINKLER
KAI SCHLÜTER (Hrsg.): Günter Grass auf Tour für Willy Brandt. Die legendäre Wahlkampfreise 1969. Christoph Links Verlag, Berlin 2011. 240 S., 24,90 Euro.
Bei Rainer Barzel entdeckte Grass
die eigene Zukunft: eine „sich
selbst nachlauschende Würde“
Schriftsteller und Kanzlerkandidat: Grass und Brandt. Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angetan zeigt sich Rainer Blasius von diesem Band über die Wahlkampfreise von Günter Grass für die SPD 1969, den Kai Schlüter herausgegeben hat. Er berichtet über die Entstehung der "Sozialdemokratischen Wählerinitiative" (SWI), bei der neben Grass auch weitere prominente Köpfe wie Arnulf Baring, Kurt Sontheimer, Günter Gaus und andere mitmischten. Die Grass-Wahlkampfreise 1969 von März bis September umfasste nach Angaben von Blasius 32000 Kilometer, 39 Wahlkreise, 55 Abendveranstaltungen und fünf weitere Großveranstaltungen. Die meist 1970 verfassten Erinnerungen einiger SWI-Teilnehmer lesen sich für ihn recht "unterhaltsam". Besonders schätzt er Friedhelm Drautzburgs "atmosphärisch dichte" Schilderung. Außerdem hebt er die historische Einordnung der Reise von Historikerin Daniela Münkel hervor.

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