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Produktdetails
  • Verlag: Zweitausendeins
  • ISBN-13: 9783861504757
  • ISBN-10: 3861504758
  • Artikelnr.: 24078953
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2014

Seliges Nordend
Der Schankraum als geistige Lebensform: Eckhard Henscheids Roman „Die Vollidioten“
ist wieder da – „ein historischer Roman aus dem Jahr 1972“
VON THOMAS STEINFELD
Manchmal kam auch die große Welt in Frankfurt vorbei, in den frühen Siebzigerjahren. Dann saß sie, wie hätte es anders sein können, am Biertisch, so wie es damals offenbar jeder tat. Dort führte sie zum Beispiel in Gestalt eines „älteren, aber äußerst schnittigen“ Herrn das Wort, der an diesem Ort einen „intensiven Ausstellungsrhythmus innerhalb der Kunstszene“ forderte. Auf viel Gehör stieß er allerdings nicht.
  Oder die große Welt trat auf in Gestalt einer „Glasreinigungsinnung“, um beim Erzähler, der nun auch und wirklich Eckhard Henscheid heißt, bei Cognac und Zigarre einen Aufsatz über unlauteren Wettbewerb beim Fensterputz zu bestellen. Und wenn sich tatsächlich ein Ungenügen einstellte, dass man wenig darüber wusste, was „eigentlich in der Welt vor sich ging“, dann rief man einen „Schriftleiter“ namens „Schütte“ an. Dieser heißt mit Vornamen Wolfram, war lange Zeit Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau und ist ebenso real wie der ehemalige Kulturreferent Hilmar Hoffmann, eben jener „schnittige Herr“. Als man „Schütte“ jedoch einmal wirklich brauchte, seiner Weltläufigkeit wegen, weilte dieser in Irland, im Urlaub, und war für die Belange der kleinen Trinkergemeinde im Nordend ebenso wenig zu gebrauchen wie die Kritik des älteren Herrn am „jetzigen Kulturschamott“.
  „Die Vollidioten“ heißt Eckhard Henscheids im Jahr 1972 veröffentlichter erster Roman. Er beschreibt eine kleine, trotz häufiger Trunkenheit eher niedliche, ganz und gar in sich versponnene Welt, die sich im Frankfurter Nordend von Kneipe zu Kneipe bewegt und sich hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, wer das nächste Bier bezahlt, wobei eine höchst unvollkommene Liebesgeschichte für die eher löchrige Dramaturgie sorgt. Draußen, fern der gemütlichen Schankräume, mag es Terroristen geben, die Flugzeuge entführen und Sportler ermorden, die Bundesrepublik und die DDR schließen ein Transitabkommen, und irgendwo in Norddeutschland zieht die erste Demonstration von Homosexuellen durch die Stadt. Nichts von alledem gelangt bis ins Frankfurter Idyll.
  Und je weiter diese Ereignisse zurückliegen, desto abgelegener scheint die große Welt zu werden, bis am Ende gar nichts davon mehr zurückbleibt außer eine unendliche Kette von großen und kleinen Räuschen. Längst ist seit den Ereignissen, die das Buch schildert, so viel Zeit vergangen, dass nur noch ältere Menschen wissen, dass es einmal eine satirische Zeitschrift namens „Pardon“ gab, zu deren erweitertem Mitarbeiter-Kreis beinahe das gesamte Personal dieses Romans gehörte.
  Die Qualitäten als Schlüsselroman mögen also kaum noch zu erkennen sein. Sie werden, und das ist nicht das Schlechteste an diesem Buch, ersetzt durch den Reiz einer Zeitreise. Doch wenn sich jemand damals öffentlich entblößt gefühlt haben mochte, dann ist er nur noch stolz darauf, in einem der beständigsten Bücher der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnt zu werden: Längst haben sich alle Opfer in Helden verwandelt. Denn das Buch ist über die mehr als vierzig Jahre seit seiner ersten Veröffentlichung gegenwärtig geblieben (und welches Werk ließe sich daneben nennen, das gleichermaßen langen Erfolg hätte?), in den vielen Auflagen, die es im Verlag Zweitausendeins erfuhr, einschließlich der im Jahr 2008 abgebrochenen „Werkausgabe“, wie auch in der Lizenzausgabe des Haffmans Verlags.
  Jetzt ist der Roman noch einmal erschienen, bei Schöffling & Co., vermehrt um ein Nachwort, in dem sich der Autor, der längst wieder in seinem Geburtsort Amberg in der Oberpfalz lebt, in einem Nachwort zu seinem eigenen Werk beglückwünscht, aus Anlass einer Veranstaltung namens „Frankfurt liest ein Buch“, zu der eigens der Schankraum der längst abgerissenen Kneipe nachgebaut wurde, in dem sich ein großer Teil der Handlung zuträgt. Worauf aber gründet sich diese Beliebtheit? Denn da das große Pathos heute eher selten geworden ist, und ebenso der moralische Anspruch auf die ganz breite Allgemeinheit, der sich in öffentlichen Figuren wie Luise Rinser, Heinrich Böll oder Dorothee Sölle artikulierte (einigen Lieblingsfeinden des Dichters), und da auch all die anderen Programme jener Zeit zur Errettung, ultimativen Förderung und Erhebung des Menschengeschlechts verschwunden sind – so müsste doch einem satirischen Roman, in dem jeder Plan, jedes Konzept und jeder Appell, kaum entstanden, auf das Niveau eines von vielen Strichen bedeckten Bierdeckels zurücksinkt, das Gegenüber fehlen.
  Wenn „Die Vollidioten“ denn nun ein satirischer Roman wäre. Er ist es aber nicht. Eine Idylle vielmehr ist dieses Werk. So sehr er sich dem Verfehlen widmet – jedes Mittel verfehlt hier seinen Zweck, jeder Zweck seinen Grund, jede Rede ihren Gegenstand, und je ernsthafter das Anliegen ist, desto sicherer zerschellt es am Profanen und Banalen –, so unberührt von allen Ereignissen lebt die kleine, genügsam in sich selbst zirkulierende Gemeinde im Frankfurter Nordend doch fort, im vollen Glück der Beschränkung, in der Seligkeit, nicht einen Gedanken fassen zu müssen, den man sich merken müsste.
  „Ich glaube“, erklärt der Erzähler in einem der wenigen Momente des Romans, in dem er einmal grundsätzlich zu werden scheint, „der Staat ist uns Intellektuellen zu großem Dank verpflichtet und könnte durchaus eine Art Anerkennungs-Rente dafür bezahlen, dass wir trotz unseres oft so unglaublich großen Hirns so einfache Dinge wie einen Bankeinbruch nicht mehr planerisch gestalten können, weil so etwas einfach von den mächtigen Säulen unserer Gehirnarchitektur wegrutscht. Moralisch bestünden keine Hindernisse . . . !“ Viel eher aber als Spott auf das avancierte Idiotentum steckt Koketterie in diesen Zeilen. Das macht, dass man lacht, bis auf den heutigen Tag.
  Im Lachen steckt also ein Widerhaken: Gewiss, man freut sich, mit welcher Konsequenz in diesem Buch alles Hohe – oder genauer: jeder falsche Anspruch auf etwas Hohes – zuschanden geht, einschließlich der weltumspannenden Motive des Geldes (es erscheint vor allem in der Frage, wer das Bier zahlt) und der Liebe (eine Figur des Romans hätte gern einen „Verein zur Abschaffung der Sexualität wegen unerträglicher Banalität der dabei anfallenden Vorgänge“ gegründet). Aber dieses Vergnügen, einen „historischen Roman“ vor sich zu haben, der aus nichts als Kneipengerede besteht, hat einen Preis: Es ist lang, dieses Gerede, und die Freude darüber, die Dummheit der Welt vorgeführt zu bekommen, einschließlich der eigenen, ist nicht nur sehr unbeständig. Es freut sich zugleich immer ein wenig zu sehr über sich selbst.
Eckhard Henscheid: Die Vollidioten. Ein historischer Roman als dem Jahr 1972. Mit einem neuen Nachwort von Eckhard Henscheid und Zeichnungen von F. K. Waechter. Schöffling & Co Verlag, Frankfurt am Main 2014. 278 Seiten, 19,95 Euro.
Fast das gesamte Personal
dieses Romans gehört zum
Kreis der „Pardon “- Mitarbeiter
Welches Glück, keinen
Gedanken zu fassen,
den man sich merken müsste!
Warum sollen historische
Romane immer nur von
lang zurückliegenden
Zeiten handeln?
Eckhard Henscheid hat in
„Die Vollidioten“
die Gegenwart des
Jahres 1972 verewigt.
Der Untertitel
„ein historischer Roman“
war im Jahr 1973
ein Versprechen.
Jetzt ist dieses Versprechen
eingelöst. 

Foto: Schöffling Verlag (oben), oh (unten)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Christoph Bartmann ist begeistert von Eckhard Henscheids in dieser Werkausgabe versammelten Romanen, in denen er das ganze zauberische Potential von dessen Schwach- und Tiefsinn voll erblühen sieht. Besonders der Roman "Die Mätresse des Bischofs" vereint für Bartmann alles, was in seinen Augen Henscheids Kunst ausmacht: "eine unvorhersehbar zwischen dem Gemeinen und Schönen wechselnde Sprachführung, ein unendlich reiches literarisches und intellektuelles Hinterland, ein ausgeprägter Sinn fürs Konstruktive" und zu alledem ein Witz, für den der Rezensent das Wort "skurril" noch viel zu schwach findet. Die Lektüre der gesammelten Polemiken hat ihn "am Stück" dann aber doch eher ermüdet. Zwar ist Bartmann, wie er schreibt, schon bei oberflächlicher Lektüre aufgefallen, wie viel von Henscheids Schimpf- und Beleidigungsstil zum Allgemeingut avanciert ist. Bereits "avant la lettre" habe er die außerdem polemischen Kräfte gegen die "steindummen, irgendwie aber doch übermächtigen Kräfte der political correctness" in Stellung gebracht. Dennoch geht dem Rezensenten Henscheid immer wieder auf die Nerven: mit seiner Karl-Kraus-Attitüde ebenso wie mit seinen "Haarspaltereien und Rechthabereien", die Bartmann eigenem Bekunden zufolge nur goutieren konnte, wenn er Henscheids polemischen Habitus konsequent zum humoristischen erklärt hat.

© Perlentaucher Medien GmbH
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