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Produktdetails
  • DIZ-Schriften
  • Verlag: Edition Temmen
  • Seitenzahl: 628
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 1390g
  • ISBN-13: 9783861087595
  • ISBN-10: 3861087596
  • Artikelnr.: 26621022
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2001

Der Tod dankt nicht ab
Guido Fackler erließt zum ersten Mal die Musikkultur in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern von 1933 bis 1936

Kann, darf über Theresienstadt (polnisch Terezin), über Auschwitz, diese Symbolorte des Holocaust, geredet, geschrieben werden? Ein Dilemma: Wer schweigt, verdrängt und verweigert die Aufklärung als Warnung vor einer möglichen Wiederholung. Wer sich äußert, läuft Gefahr, zur florierenden Holocaust-Industrie beizutragen. Seit einem Vierteljahrhundert, mit der Amsterdamer Uraufführung (1975) von Viktor Ullmanns in Theresienstadt entstandener Oper "Der Kaiser von Atlantis oder Der Tod dankt ab" als Initialzündung, läuft gerade in Deutschland die Betroffenheitskultur auf Touren. Konzerte, Schriften, Tonträger werden verkaufsfördernd als Beschäftigung mit "verfemter", "verdrängter" oder gar - in seiltänzerisch ironischer Angliederung an den nationalsozialistischen Jargon - "entarteter" Kultur vermarktet. Dabei werden die unmenschlichen "Lebens"-Bedingungen der Gefangenen in den Lagern oft zur sensationellen Hintergrundfolie degradiert, werden vereinfacht oder beschönigt wiedergegeben.

In diesem Umfeld hat es die Forschung schwer, die ein möglichst umfassendes Bild von Entstehung und Funktion der Kultur in den Lagern entwerfen möchte. Auch fast sechzig Jahre nach Kriegsende ist das Lagersystem des "Dritten Reichs" nur lückenhaft erfaßt, zudem auf Orte mit besonders reicher Quellenüberlieferung wie Dachau, Theresienstadt oder Auschwitz-Birkenau konzentriert. Erinnerungen Überlebender, Dokumentationen und Spielfilmserien in den Medien, Prozesse gegen Lagerbewacher und -funktionäre haben die Realitäten zudem emotionalisiert - so verdienstvoll und nötig solche Projekte im einzelnen sein mögen. Die meisten Untersuchungen bisher konzentrieren sich auf die Situation der Lager seit 1939 und auf Äußerungen der "klassischen" Hochkultur mit den "Theresienstädter" Komponisten Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása und Viktor Ullmann im Mittelpunkt.

Kaum oder lediglich in Einzelstudien erfaßt wurden bisher die Dynamik der Lagerentwicklung in einer diffusen Anfangsphase 1933/34, die Konsolidierung bis 1936 und die Differenzierung bis zum Kriegsende; der entscheidende, in den einzelnen Lagern sehr unterschiedliche Einfluß der Überlebensverhältnisse auf die Möglichkeiten kultureller Strategien; Zusammensetzung und Hierarchien der Lagergesellschaft, die bislang fast ausschließlich im Hinblick auf den jüdischen Anteil berücksichtigt wurde; die sehr uneinheitliche, dadurch vielfältige und schwer systematisierbare Ausprägung der Lagerorganisation; gruppenspezifische Aspekte und historische Prozesse als Bestandteil einer dynamischen Alltags- und Kulturgeschichte der Lager, um ein übergreifendes Bedeutungssystem herausarbeiten zu können; die zwiespältige Funktion von Kultur, zumal der vokalen und instrumentalen Musik, im Lageralltag.

Von solchen Gesichtspunkten geht der Freiburger Volkskundler, Musikwissenschaftler und Ethnologe Guido Fackler, seit 1999 an der volkskundlichen Abteilung der Universität Würzburg tätig, in der ersten umfassenden und systematischen Analyse der Musik in den Konzentrationslagern von 1933 bis 1936 aus. Von volkskundlich-kulturgeschichtlicher, soziologisch und psychologisch fundierter Sicht und Methodik sowie einem erweiterten, gebrauchskünstlerisch ausgerichteten Kultur- und Musikbegriff aus untersucht er anhand von einzelnen Lagertypen, Zeitzeugenbefragungen und Archivrecherchen die Formen und Funktionen von Musik in den frühen Konzentrationslagern. In ihnen überwogen noch die politischen "Schutzhäftlinge", die meist kommunistischen, aus der Arbeiterbewegung stammenden Antifaschisten. Mit zunehmender Ausgrenzung weiterer Bevölkerungsgruppen durch das NS-Regime vergrößerte und differenzierte sich die Häftlingsgesellschaft national, weltanschaulich und kulturell. Entsprechend fächerte sich der lagerinterne Kultursektor so weit auf, daß er, weit über den ursprünglichen vokalen Schwerpunkt hinaus, in den vierziger Jahren schließlich den gesamten stilistischen und formalen, vokalen und instrumentalen Kanon der Zeit umfaßte.

Doch von Anfang an hatte die Musik in den Lagern eine prekäre Doppelrolle zu spielen - von der Lagerleitung verordnet als menschenverachtendes Instrument einer perfiden Strategie aus Machtdemonstration und Propaganda, zur Disziplinierung, Demütigung und Folterung der Häftlinge; andererseits von den Gefangenen selbstbestimmt als Mittel der Überlebenshilfe und des geistigen Widerstands. Diese Ambivalenz ist ein Zentrum von Facklers Denkansatz. So diente Musik bei Appellen und bei Märschen zu und von der Zwangsarbeit zur militärischen Disziplinierung, sie hatte Schreie Gefolterter zu übertönen, zum Gastod Verurteilte zu "beruhigen", sollte psychologisch raffiniert die Gefangenen verhöhnen und ihre persönliche wie kulturelle Identität zerstören. Die befohlene Musik war so in den Lagern ein Bestandteil akustischer Gewalt. Zudem wurde sie zur Täuschung der Außenwelt eingesetzt und zur Befriedung persönlicher kultureller Profilierungssucht der SS-Chargen und Funktionshäftlinge: Die Lager-"Prominenz" hielt sich eigene Musiksklaven.

Daneben schufen sich die Zusammengepferchten, durch permanenten Angstdruck, Zwangsarbeit und Mangelernährung Entkräfteten illegal oder legal eine illusionäre Flucht- und Gegenwelt zur Bewahrung ihrer menschlichen Würde und Selbstachtung. In der Extremsituation des Lagerlebens gelang es mitunter, Bruchstücke einer "Normalität" zusammenzufügen, Ängste und Hoffnungen auszudrücken, der unmenschlichen Lagerwelt kulturelle Werte entgegenzusetzen, die Solidarität der Opfer zu stärken.

Doch auch diesen schwer errungenen Freiraum verstand die SS mit ihrer menschenverachtenden Ideologie für ihre Zwecke zu nutzen. Die Gefangenen in Lagerchören oder -kapellen, als Solisten oder Kammermusiker konnten ihre Überlebenschancen erhöhen als kulturelle Zwangsarbeiter bei Feiern und Gelagen der Bewacher, die sich gern als Kunstförderer aufspielten - mitunter freilich um den Preis, im Frontenwechsel zu Handlangern des Terrors zu werden. Die Grenzen zwischen Überlebenskunst und Komplizengunst waren fließend, und den Machthabern gelang es so, ihre Opfer noch unentrinnbarer in ihrem Netz aus Tarnungen und Täuschungen, Trostversprechung und Terror zu fangen.

Ein berühmt gewordenes Musterbeispiel sind die erzwungenen Aktivitäten der Abteilung "Freizeitgestaltung" in Theresienstadt zum Besuch der internationalen Delegation des Roten Kreuzes am 23. Juni 1944, die sich durch die Vorspiegelung eines idyllischen "Kultur- und Badeortes" mit großem Freizeitangebot irreführen ließ. Im nicht minder diabolischen, im September und Oktober 1944 gedrehten Propagandafilm "Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet", dessen Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" die Forschung inzwischen als Fälschung herausgestellt hat, mußten jüdische Künstler ebenso Trugfassaden errichten, um der Öffentlichkeit eine kulturell florierende "Musterstadt" vorzuspiegeln.

Aber Theresienstadt ist schon wegen seiner Tarnungs- und Propagandafunktion mit entsprechend gefördertem Kultur-"Leben" ein Sonderfall im KZ-System. Fackler untersucht selbstverständlich auch das musikalische Repertoire in den frühen Lagern mit einem detaillierten Ausblick auf die erhebliche Ausweitung und Differenzierung von 1937 bis 1945. An Beispielen wie dem "Moorsoldatenlied" analysiert er Überlieferung, Form, Stil, Funktion und Nachleben von KZ-Liedern, von denen nur relativ wenige in Lagern neu komponiert wurden, im Gegensatz zu zahlreichen Kontrafakturen, also in Text und/oder Melodie veränderten, so den Umständen angepaßten Stücken.

Das Sprichwort "Wo man singt, da laß dich ruhig nieder/böse Menschen haben keine Lieder" erweist sich gerade vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Gewaltsystems zumindest als zwiespältig. In seinem an Fakten und Überlegungen fast überreichen, deshalb formal fast aus dem Ruder laufenden Buch klärt Fackler unmißverständlich darüber auf, "daß die Musik allerspätestens in den nationalsozialistischen Lagern ihre Unschuld und Anmut verloren hat". Die idealisierte Vorstellung von einer absoluten, zweckfreien, autonomen Musik als Verkünderin unsterblicher Werte des Wahren, Schönen, Guten relativiert sich angesichts der Gleichzeitigkeit von Kunst und KZ in einem Kapitel der deutschen Geschichte, das der Autor in seinem Standardwerk zum ersten Mal umfassend aufrollt.

ELLEN KOHLHAAS.

Guido Fackler: "Des Lagers Stimme". Musik im KZ - Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Edition Temmen, Bremen 2000. 628 S., 31 Abb., geb., 48,- DM (24,54 ).

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Als "Standardwerk" bezeichnet Rezensentin Ellen Kohlhaas diese Untersuchung des Freiburger Musikwissenschaftlers und Ethnologen zur Musikkultur in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Der Auskunft der Rezensentin zufolge handelt es sich hier um die erste, umfassende Analyse zur zwiespältigen Funktion von Musik und Kultur im Lageralltag. Die Grenzen zwischen Überlebenskunst und Komplizengunst seien fließend gewesen. Einerseits nämlich sei Musik "als menschenverachtendes Instrument einer perfiden Strategie aus Machtdemonstration und Propaganda" zur Disziplinierung, Demütigung und Folterung von Häftlingen eingesetzt worden. Andererseits habe Kultur und Musik für die Häftlinge eine "illusionäre Flucht- und Gegenwelt zur Bewahrung ihrer menschlichen Würde" bedeutet. Fackler untersuche, so Rezensentin Kohlhaas, anhand einzelner Lagertypen, Zeitzeugenbefragungen und Archivrecherchen die Formen und Funktionen von Musik besonders in den frühen Lagern (1933-36) - mit einem, wie wir lesen, detaillierten Ausblick auch auf die Zeit von 1937-1945. Sicht und Methodik werden als volkskundlich-kulturgeschichtlich sowie soziologisch und psychologisch fundiert beurteilt. An Bespielen wie dem "Moorsoldatenlied" werde Überlieferung, Form, Stil, Funktion und Nachleben von KZ-Liedern untersucht.

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