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Produktdetails
  • Verlag: Scheidegger & Spiess
  • Seitenzahl: 241
  • Abmessung: 285mm
  • Gewicht: 1424g
  • ISBN-13: 9783858811332
  • ISBN-10: 3858811335
  • Artikelnr.: 09907157
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2001

So vergeht der Ruhm des Himmels
Die Produktion von Heiligen ist stillgelegt: Hugo Loetscher und Ernst Scheideger über die Sainterie von Vendeuvre · Von Hubert Spiegel

Sic transit gloria coeli - So vergeht der Ruhm des Himmels. Mit diesen Worten kommentiert der Schriftsteller Hugo Loetscher, was er in der stillgelegten Heiligenfabrik von Vendeuvre sieht, einem Ort in der Champagne, der mehr als ein Jahrhundert lang für seine Produktion von Heiligenfiguren bekannt war. Die Heiligen von Vendeuvre waren einzigartig, denn sie wurden aus einem besonderen Material hergestellt, nicht aus dem sonst gebräuchlichen Gips, sondern aus "Terre cuite", aus Tonerde also, die widerstandsfähiger, vor allem jedoch wetterfest ist, so daß man die Heiligen von Vendeuvre auch unter freiem Himmel aufstellen konnte. Sie waren nicht für die Ewigkeit geschaffen, aber im Vergleich mit ihren Gipsgenossen schienen sie wie in Marmor gemeißelt zu sein, nobilitiert durchs dauerhaftere Material.

Das Geschäft blühte und machte mehrere Generationen stolz und wohlhabend. Dreitausend Artikel verzeichnete der Katalog: Heilige, Engel, Gruppen, Urnen, Kreuzwege, Reliefs, Tauf- und Weihwasserbecken. Die Qualität blieb hoch, all die Jahre über, ernsthafte Konkurrenz hatte man nicht zu befürchten. Der Modernisierungsdruck, der andere vor sich hertrieb wie die Sturmböe das Ahornblatt, war hier kaum mehr als ein Lufthauch, vor dem man nur das Fenster schließen mußte, um sich in Sicherheit fühlen zu können.

Daß der Firmengründer Léon Moyet, der die Sainterie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts verkauft hatte, zum Atheisten wurde und sich schließlich ohne den Segen der Kirche bestatten ließ, verleitet Loetscher zu einer ironischen Bemerkung: "Der tägliche Umgang mit Heiligen scheint einem den Himmel zu entfremden." Aber Moyet nahm nur eine Entwicklung vorweg, die sein Unternehmen in den Ruin treiben mußte. Je fremder den Menschen der Himmel wurde, desto weniger Umgang wollten sie mit Heiligen pflegen. "Die Leute sind eben nicht mehr so fromm wie früher", sagt die jüngste Tochter der Besitzerfamilie, und der Reporter Loetscher bringt diesen Umstand auf seinen ökonomischen Begriff, wenn er von "mangelnder Nachfrage" spricht. Hinter zwei dürren Worten verbirgt sich der historische Prozeß der Säkularisierung der französischen Gesellschaft, der am Ende dazu führte, daß die Auftragsbücher der Sainterie immer dünner wurden.

Auch die Umstellung der Produktion konnte der Misere nicht abhelfen. Als nach dem Ersten Weltkrieg jeder Weiler ein Kriegerdenkmal für seine Gefallenen errichtet, nimmt das Unternehmen noch einmal einen Aufschwung. Die im Katalog verkündete Bereitschaft, "Dekorationen aller Art" zu liefern, führte dazu, daß Loetscher nun auch die eine oder andere Gestalt aus der griechischen Mythologie vorfindet, nackte Frauenfiguren meist. Auch sie haben den Untergang der Firma nicht aufhalten können. Vereinzelt stehen nun Göttinnen und Nymphen zwischen Marien und Märtyrern.

Loetschers Reportage aus Vendeuvre stammt aus dem Jahr 1975. Damals war die Produktion der Sainterie seit neun Jahren eingestellt, und der Schriftsteller und Journalist fand ein begehbares Stilleben vor, eine verfallende Kulisse, die noch immer von der Pracht vergangener Tage kündete. Der Reporter durchstreift den Park, der zur Sainterie gehört, und besichtigt den Gästetrakt, wo einst Kardinäle und Prälaten logierten. Am Fuß der Prunktreppe, die zum Ausstellungsraum hinaufführt, drängen sich die Heiligen, und der Reporter weiß nicht, ob sie hinauf oder zur Tür hinaus wollen: "Vereint und voneinander abgewendet stehen sie da, verloren und mit Schulterschluß, auf einem stummen Marsch, ergeben und erwartungsvoll."

Mit dem Blick des Inventaristen durchstreifen Loetscher und sein Begleiter, der Schweizer Fotograf Ernst Scheidegger, die Lagerräume der Sainterie und halten in Wort und Bild fest, was sie dort sehen: "Gestelle voller Hände; einige noch paarweise zusammen, Hände, die segnen, und solche, die beten, solche, die geschaffen wurden, um auf die Brust gelegt zu werden, und solche, die eine andere Hand fassen wollten; Kammern voller Bischofsstäbe und Lilien, Symbole der Unschuld, die keiner mehr in die Hand nimmt; Schränke voll von Herzen, gebrannten und schon bemalten, von solchen, die nur umflammt, und solchen, die auch durchbohrt sind."

Die Reportage aus Vendeuvre ist ein Glanzstück der journalistischen Arbeit eines Schriftstellers, der sich sein Leben lang mit der Kunst des Sehens und dem Handwerk der Fotografie beschäftigt hat. Hugo Loetschers eigene Bildreportagen sowie seine Aufsätze zur Fotografie versammmelt jetzt der schöne Band "Durchs Bild zur Welt gekommen". Er enthält unter anderem Stadtporträts von Bahia, Chicago, Moskau und Zürich sowie Annäherungen Loetschers an verschiedene Fotografen, darunter Hans Finsler, Werner Bischof, Ernst Scheidegger, Humphrey Spender und Robert Frank. Die Reportage von Hugo Loetscher und Ernst Scheidegger über die Heiligenfabrik von Vendeuvre erschien erstmals in September 1975 in der Wochenendbeilage der "Neuen Zürcher Zeitung". Möge sie erhalten bleiben.

"Hugo Loetscher: Durchs Bild zur Welt gekommen". Reportagen und Aufsätze. Herausgegeben von Peter Pfrunder und Martin Gasser. Scheidegger & Spiess, Zürich 2001. 242 S., geb., Abb., 88,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Die machtvolle Doppelwirkung von Wort und Bild" sei keine Entdeckung des 20.Jahrhunderts, schickt rbl. voraus, sie habe sich jedoch erst durch die Fotografie in der Form der literarischen Bildreportage zu einem eigenen Genre entwickeln können. Hugo Loetscher wird in dieser Rezension als einer der eindrucksvollsten Vertreter dieses Genres gewürdigt, und dies nicht allein wegen seiner Reportagen. Loetscher habe sich auch um die Theorie dieser Kunstform verdient gemacht, erklärt rbl. Als ein eindrückliches Beispiel hierfür könne der jüngst erschienene Band mit dem Titel "Durchs Bild zur Welt gekommen" betrachtet werden, der "den Reichtum von Hugo Loetschers Beiträgen zur Geschichte der Bildreportage" dokumentiere. Auf Loetscher, davon ist der Rezensent überzeugt, ließe sich auch Malraux' Maxime, "Schicksal in Bewusstsein zu verwandeln" übertragen, denn genau dies, findet rbl., leiste Loetscher mit seinen Geschichten zu den Bildern.

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