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Produktdetails
  • Verlag: Pendo
  • Seitenzahl: 341
  • Abmessung: 210mm x 136mm x 33mm
  • Gewicht: 500g
  • ISBN-13: 9783858423931
  • ISBN-10: 3858423939
  • Artikelnr.: 08883751
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.12.2001

Ein religiös fundierter, ethischer Sozialist
Von wegen wandelnde Klarsichthülle: Hans-Jochen Vogel beschwört den Wert des Menschen
HANS-JOCHEN VOGEL: Demokratie lebt auch vom Widerspruch, Pendo-Verlag, Zürich 2001. 342 Seiten, 44 Mark.
Demokratie lebt vom Widerspruch und braucht lebenskluge Menschen, die diesen Widerspruch unermüdlich laut werden lassen. Hans-Jochen Vogels Sammlung von Aufsätzen, Reden und Vorträgen seit 1997 bestätigt das. Der Herausgeber (und Verleger) teilt die Sammlung in fünf Abschnitte ein: Fortschritt in Freiheit; Demokratie und Grundgesetz; Deutsche Einigung; Christsein in der Politik; München. Folgt man diesem Schema nicht und versucht, Vogels grundsätzliche Positionen aufzuspüren, gelangt man zu etwas anderen Gewichtungen. Im übrigen wünscht man sich eine genauere Angabe über Zeitpunkt und Rahmen der Texte, um die Aussagen zeit- und anlassbezogen präziser erschließen zu können.
Risiken des Wandels
Den weitaus größeren Raum nehmen quer durch die Texte die Auflistung und Kommentierung der Risiken und Gefahren des gesellschaftlichen Wandels ein, oft mit fast beschwörenden Worten zum Ausdruck gebracht: Es geht um die Verabsolutierung des Wettbewerbs, um die Erhebung des Marktes „zur höchsten Instanz unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit”; es geht um die Gewinnmaximierung „als ausschlaggebendes Motiv des Handelns” und um das Messen des Wertes eines Menschen nach seinen ökonomischen Erfolgen. Der totalen Ökonomisierung der globalen gesellschaftlichen Ordnungen setzt Vogel das Postulat entgegen: Markt und Wettbewerb müssen Instrumente bleiben.
Das zweite wiederholt von Vogel behandelte Thema ist der Verlust an Einfluss und Gestaltungsmacht der demokratisch legitimierten Organe; er hängt mit der Machtverschiebung hin zu den Kräften des Marktes zusammen. Es gibt aber auch hausgemachte Defizite, die Vogel unter der Überschrift „professionelle Deformation” stellt; dazu gehört auch die wachsende Unübersichtlichkeit der politischen Entscheidungsprozesse. Ob neue Eliten diese Defizite austarieren können, wie Vogel zu erwarten scheint, mag fraglich bleiben.
Vogel beharrt darauf, dass die Chancen für den Ausbau der Demokratie im Zuge der deutschen Vereinigung weit gehend ungenutzt geblieben sind, und meint damit vor allem die Einführung der „unmittelbaren Bürgerbeteiligung”, die brach liegende Reserven an Mitwirkungsbereitschaft in der Bevölkerung mobilisiert hätte. Es wird jedoch nicht deutlich, wo der überzeugte Anhänger der repräsentativen Demokratie und Verfechter der überlegenen Tauglichkeit des Grundgesetzes diesen Optimismus hernimmt.
Sehr differenziert fallen die Stellungnahmen Vogels zur Frage der Nation aus: Den konservativen Ansatz (unter anderem von Wolfgang Schäuble), der Nation eine transzendente Qualität zu geben, weist Vogel entschieden zurück. Er hält aber daran fest, dass sie auch unter den Zeichen der Einigung Europas hin zu einem Bundesstaat ihre Bedeutung als „Identifikationsmöglichkeit” behalten muss – Geschichte, Sprache und Kultur machen die Nation auch für Einwanderer relevant. Diese Definition von Nation erscheint vernünftig und pragmatisch zugleich und lässt auch demjenigen, der nicht mehr deutsch sein will, die Freiheit, einer anderen Nation sich zuzugesellen. Ob dies vom Autor so gemeint ist?
Vogel antwortet auf die Zeitfragen nicht nur als am Grundgesetz orientierter demokratischer Verfassungsrechtler, er zeigt sich auch als philosophisch reflektierender Ethiker. An diesem Punkt verschränken sich die objektivierten Grundpositionen mit persönlicher Erfahrung, auf die Vogel öfter zurückkommt. Da sieht man den 1926 Geborenen, der erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur deren terroristischen Charakter erkannt und begriffen hat (in der Kriegsgefangenschaft, wie viele seiner Generation), und da steht der „praktizierende Katholik” vor einem, der alle Register der Katholischen Soziallehre zu ziehen weiß. Kann man ihn auch einen religiös fundierten, ethischen Sozialisten nennen?
Folgt man seinen einfühlsamen Ausführungen über Gustav Radbruch und Adolf Arndt, so wird man die Frage bejahen: Sozialismus war für diese beiden bedeutenden Staats- und Verfassungsrechtler „Wertverwirklichung”, nicht Vollzug eines mechanischen Gesellschaftsplanes im Kontext eines allumfassenden ideologischen Anspruchs. In diesem Sinne kann man auch Vogel als ethischen Sozialisten verstehen, der nicht allein soziale Gerechtigkeit, sondern auch Pluralismus, Offenheit, Toleranz und Selbstbescheidung im ideologischen Anspruch zu den Werten zählt, die zu verwirklichen sind.
Aus dieser Bestimmung der persönlichen Positionen resultiert die intensive Beschäftigung mit weiteren Themenfeldern: die Zeitzeugenschaft und das ethisch-religiöse Fundament führen Vogel zu der nachhaltigen Aufforderung, Vergangenheit nicht in einem abschließendem Sinne zu „bewältigen” oder „aufzuarbeiten” und auch nicht etwa zu „historisieren” oder hin und wieder „Betroffenheitsrituale” zu absolvieren. Er fordert stattdessen, sich dauerhaft zu erinnern, sich ständig zu bemühen, die Frage zu beantworten: „Wie konnte das alles geschehen?”
Mehr als ein innerer Zirkel
Sodann kreisen Vogels Gedanken immer wieder um die Zukunftschancen seiner Partei, der SPD, wobei er ihre Geschichte, wenn auch öfter etwas stereotyp, in seine Argumentation einbezieht (ein schöner Beitrag ist die Darstellung der Wiedergründung der Münchner SPD nach 1945). Vogel macht darauf aufmerksam, dass die Partei immer mehr sein müsse, als „ein Instrument zur Außenvertretung bereits im engsten Kreis getroffener Entscheidungen und auch mehr als ein Wahlverein”. Er übersieht aber auch nicht, dass die Partei immer mehr will, als die Partei kann.
Vogel warnt davor, um einer „verschwommenen Mitte” willen den linken Bereich des politischen Spektrums zu vernachlässigen und den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit etwa der PDS zu überlassen. Und er empfiehlt, diejenigen zurückzugewinnen, die sich als links verstehen, denen die SPD jedoch zu pragmatisch oder zu provinziell oder zu eng oder alles zugleich erscheint. Ob seine Partei auf ihn hören wird?
Nein, Hans-Jochen Vogel ist kein „Oberlehrer”; so einfach kann man es sich mit ihm nicht machen. Er ist ein nachdenkender und nachdenklicher „homo politicus”, ein Zeitgenosse, der seiner Zeit immer wieder die Sporen geben möchte. Es bleibt allerdings, liest man seine Texte unter der Fragestellung „Was tun?”, die Verwunderung darüber, dass ihm, der ja einmal ein robuster Pragmatiker gewesen ist, auch nicht mehr einfällt als Politikern seiner Klasse im allgemeinen: Postulate, Ermahnungen, Hoffnungen, manchmal sogar trotzig wirkender Optimismus und sorgenvolle Beschwörungen. Das liegt wohl nicht so sehr an ihm, sondern an der Zeit.
HELGA GREBING
Die Rezensentin ist emeritierte Professorin für die Fachgebiete Sozialgeschichte und Politikwissenschaft und lebt als Publizistin in München.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans-Jochen Vogels Sammlung von Aufsätzen, Reden und Vorträgen seit 1997 beschwört die Widersprüche der Demokratie, die es immer wieder aufleben zu lassen gelte, berichtet Helga Grebing. Vogel setzt sich in seinem Band mit der stetig wachsenden Ökonomisierung der globalen, gesellschaftlichen Ordnungen auseinander, mit der zunehmenden "Unübersichtlichkeit politischer Entscheidungsprozesse" und mit den Chancen der "unmittelbaren Bürgerbeteiligung". Zur Frage Nation nehme der Autor auf differenzierte Art und Weise Stellung, wenn er daran festhalte, dass die Nation trotz der europäischen Einheit ihre Funktion als "Identifikationsmöglichkeit" wahren müsse. Stellung nimmt Vogel auch zu dem Thema Vergangenheitsbewältigung, so Grebing, die er als stetiges, dauerhaftes Erinnern nicht als das Absolvieren von "Betroffenheitsritualen" begreife. Die Geschichte der SPD und ihre Zukunftschancen sind ein weiteres Themenfeld für Vogel. Grebing freut sich, dass Vogel nicht "oberlehrerhaft" auftritt, sondern dass er sich als "nachdenkender und nachdenklicher Zeitgenosse" zeigt.

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