In EIN GEDÄCHTNIS FÜR DAS VERGESSEN schildert Machmud Darwisch in einer dichten, poetischen, manchmal zynischen Sprache einen Tag im August 1982 in Beirut während der israelischen Belagerung, die die Vertreibung der Palästinenser aus der libanesischen Metropole zum Ziel hatte.
Machmud hatte seit
1972 in Beirut gelebt. Noch nie zuvor und niemals wieder hielt er sich so viele Jahre in einer Stadt,…mehrIn EIN GEDÄCHTNIS FÜR DAS VERGESSEN schildert Machmud Darwisch in einer dichten, poetischen, manchmal zynischen Sprache einen Tag im August 1982 in Beirut während der israelischen Belagerung, die die Vertreibung der Palästinenser aus der libanesischen Metropole zum Ziel hatte.
Machmud hatte seit 1972 in Beirut gelebt. Noch nie zuvor und niemals wieder hielt er sich so viele Jahre in einer Stadt, in einem Land auf. Beirut war für ihn eine feste Adresse, wo er ein kleines Büro mit Blick aufs Meer unterhielt. Wenn er frühmorgens durch die Straßen lief, hatte er manchmal eine Ahnung, was Heimat sein könnte:
der Geruch frisch gebackenen Brotes, der Duft des ersten Morgenkaffees und auch das Meer:
das Meer, das mal ruhig, mal wild vor ihm lag, wenn er in seinem Büro saß und schrieb. Das Haus, in dem er sein Büro angemietet hatte, wurde 1982 von den Israelis vom Mittelmeer aus beschossen und zerstört. Machmud überlebt und schreibt später:
Das Meer läuft durch die Straßen. Das Meer hängt aus den Fenstern und an dürrer Bäume Zweigen. Das Meer stürzt vom Himmel herab und kommt ins Zimmer herein. Blau. Weiß. Schaum. Wogen. Ich will das Meer nicht denn ich sehe kein Land und keine Taube. Sehe auf dem Meer nichts als das Meer. Sehe kein Land, sehe keine Taube.
So endet sein Prosawerk EIN GEDÄCHTNIS FÜR DAS VERGESSEN, in dem er die Belagerung Beiruts beschreibt, der er am frühen Morgen mit dem Zubereiten einer Tasse Kaffee trotzen will.
Die Explosionen haben die ganze Nacht angehalten, Häuser stürzten ein, Straßen wurden aufgerissen, Menschen verschmolzen mit Glas und Beton. Beirut liegt unter Dauerbeschuss aus der Luft und vom Meer. Einen Freund, der im Koma liegt und dem durch israelische Fliegerbomben beide Beine und ein Arm abgetrennt wurden, kann er nicht besuchen. Machmud setzt sich an diesem Morgen den israelischen Tieffliegern aus und schlendert langsam durch die menschenleeren Straßen. Er ist bereit zu sterben und will am liebsten zerrissen werden, von einer Bombe, plötzlich und ohne Vorwarnung. Er ist lebensmüde angesichts der Zerstörung um ihn herum:
Rauchende Häuser. Ein Feuer, das sich von oben nach unten ausbreitet. Hilferufe aus den oberen Stockwerken dringen an unser Ohr, tun weh. Im Feuer eingeschlossene Menschen, einer um den anderen kollabierend nach dem ersten Schock. Der Versuch, menschliches Fleisch zu retten.
Machmud schreibt auch von den sogenannten Vakuumbomben, die alles aufsaugen und zerstören. Er berichtet von der vollständigen Verwüstung eines Wohnhauses in West- Beirut durch zwei israelische Bomben am 6. August 1982, durch die mehr als 250 Zivilisten in wenigen Sekunden ihr Leben verloren.
Und er berichtet auch vom Schicksal der Palästinenser, vom Fremdsein und vom Exil, von seiner Zeit in israelischen Gefängnissen, von Begegnungen mit Dichterkollegen, von seiner Liebe über Jahrzehnte zu einer Jüdin und von überschlagenden Ängsten beim Kaffeekochen, während israelische Tiefflieger Bomben auf Beirut werfen.
Das Buch wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Machmud Darwisch gilt als der bedeutendste palästinensische Dichter der Gegenwart. Als Siebenjähriger flieht er 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskrieges in den Libanon und kehrt nach der Gründung des Staates Israel heimlich in sein Mutterland zurück, wo er bereits als Jugendlicher immer wieder inhaftiert und unter Hausarrest gestellt wird. Wegen zunehmender Repression lebt er ab 1970 im Exil und erhält den Status eines internen Flüchtlings bzw. den des anwesenden Fremden. Dieser Status wird für ihn bis zu seinem Tod in 2008 zum poetischen Programm. Weder die kommunistische Partei noch die PLO, deren Kulturchef er jahrelang war, werden ihm zur Heimat, auch nicht Haifa, Moskau, Kairo, Tunis, Paris, Zypern oder Beirut.
Machmud Darwisch schuf sich seine Heimat aus Worten, hauptsächlich in Prosaform, die heute von Palästinensern wie Volkslieder gesungen wird. Er starb am 9. August 2008 in Houston, Texas nach seiner dritten Herzoperation.