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Eine Novembernacht im Jahre 1953 in einem Budapester Krankenhaus. Eine Frau liegt bewusstlos im Kreißsaal. Beim ersten Erwachen erfährt sie, dass sie Zwillinge geboren hat. Beim zweiten Erwachen stellt sie fest: Sie will keine Mutter sein. Fortan sorgt der Vater liebevoll für die Kinder. Den Volksaufstand 1956 erleben die dreijährige Borka und ihr Zwillingsbruder Palkó als ein Fest: Ihr Vater wirft sie freudig in die Luft, die Erwachsenen um sie herum lachen und feiern, es ist eine hoffnungsvolle Zeit. Doch in den Straßen herrscht Krieg. Ein Querschläger trifft Palkó und tötet ihn. Der Vater…mehr

Produktbeschreibung
Eine Novembernacht im Jahre 1953 in einem Budapester Krankenhaus. Eine Frau liegt bewusstlos im Kreißsaal. Beim ersten Erwachen erfährt sie, dass sie Zwillinge geboren hat. Beim zweiten Erwachen stellt sie fest: Sie will keine Mutter sein. Fortan sorgt der Vater liebevoll für die Kinder. Den Volksaufstand 1956 erleben die dreijährige Borka und ihr Zwillingsbruder Palkó als ein Fest: Ihr Vater wirft sie freudig in die Luft, die Erwachsenen um sie herum lachen und feiern, es ist eine hoffnungsvolle Zeit. Doch in den Straßen herrscht Krieg. Ein Querschläger trifft Palkó und tötet ihn. Der Vater kann den Verlust nicht verwinden. Die Mutter bleibt mit der Tochter allein. Borka bleibt allein mit der Sehnsucht nach dem Vater und dem Bruder, von dem sie seit ihrer Geburt noch keine Minute getrennt gewesen war. Die Mutter tut alles, um die Toten zu vergessen, und bemüht sich, ihren Diensteifer dem Staat gegenüber zu beweisen. Borka jedoch versucht verzweifelt, auch die Rolle ihres Bruders
einzunehmen, damit die Erinnerung an ihn nicht verblasst. Mit 15 Jahren schließlich muss sie erfahren, dass sich alles im Leben wiederholt, wenn auch auf andere Weise ... Der Roman entwirft ein literarisches Panorama von außergewöhnlicher Intensität, mit eindrucksvollen Charakteren. Vor der pittoresken Kulisse Budapests werden die politischen Ereignisse zur Folie für den Mikrokosmos einzelner Menschen im großen Gefüge einer dramatischen Zeit.
Autorenporträt
Léda Forgó, 1973 in Ungarn geboren, wuchs in Budapest auf. 1994 zog sie nach Stuttgart, studierte dort Geschichte und anschließend Figurentheater. Später studierte sie "Szenisches Schreiben" an der Universität der Künste in Berlin. Ihr Stück Onkel Gol und die Wespen wurde im Jahr 2000 im Rahmen der Göttinger Dramatikerwerkstatt unter der Regie von John von Düffel aufgeführt. Léda Forgó lebt mit ihren drei Kindern in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2008

Das große Mythenwüten

Der Debütroman der Erzählerin Léda Forgó fängt die private Lebenssituation in Ungarn nach dem Aufstand von 1956 literarisch ein - und wirkt doch überanstrengt.

Von Medea bis Marienhof: Antikisierende Tragik und der Gefühlsschwulst einer Soapopera stehen im Debütroman der jungen Ungarin Léda Forgó nebeneinander. "Der Körper meines Bruders" hat beides im Angebot: hier eine dramatische Zwillingsgeburt, da die Modediagnose Babyblues; hier tote Väter und Söhne, da Sex mit dem verhassten Stiefvater. Die Motive stammen aus Geschichten aller Zeit und aller Welt. Der zeitliche und räumliche Rahmen, in dem sie auftauchen, ist jedoch klar abgesteckt: Ungarn 1953 bis 1968.

Léda Forgó wurde 1973 geboren. Sie wuchs in Budapest auf und wanderte mit einundzwanzig Jahren nach Deutschland aus. Doch in ihrem ersten Roman, den sie auf Deutsch verfasst hat, schaut sie - mythologisch gewappnet - zurück auf das nationale Trauma ihrer Heimat: auf das Jahr 1956. Während die russischen Panzer in diesem Schicksalsjahr durch die Budapester Straßen rollen, bindet sich die Hauptfigur Mo ihre dreijährigen Zwillinge auf den Rücken, ganz so, wie einst Aeneas seinen Vater aus dem brennenden Troja rettete. Aber Mo, die ihre Kinder immer schon als Belastung empfunden hat, fühlt sich leer und lieblos: Sie rettet niemanden.

Auf der Suche nach ihrem Mann läuft Forgós Protagonistin durch den Kugelhagel, und Palkó, der Junge, wird auf ihrem Rücken von Geschossen durchsiebt. Sein Blut sickert heiß über die Schwester Borka, welche nicht versteht. Sie versteht auch nicht, als sie wenig später den von Kummer zermürbten Vater am Dachbalken baumeln sieht. Die Geschichte des Landes hat die Männer der Familie ausgelöscht: ungarisches Schicksal. Die folgenden dreihundert Seiten bestehen aus stilistisch simpler, aber lebensnaher Mutter-Tochter-Prosa.

Der Roman zerfällt so in zwei Teile: Zunächst begegnen wir einer unnahbaren und unbegreifbaren Medea-Gestalt, die 1956 nicht den Zug in den Westen nimmt, weil sie ihr neues Sofa zurücklassen müsste. Auf was für eine Zukunft sollte sie auch hoffen? Ihr Mann hat sie betrogen, die Mutterschaft hat sie enttäuscht. So stürzt sie alle ins Verderben.

Dann tritt der Wandel ein. Mo bleibt allein die Tochter, und die beiden Beraubten raufen sich zusammen. Die Figuren schrumpfen von mythischer Größe auf Menschenmaß: Da ist eine Alleinerziehende mit wechselnden Männerfreundschaften, die sich in der Diktatur irgendwie durchschlagen muss. Und da ist Borka, die Tochter, die den toten Bruder und den toten Vater immer mit sich trägt. Sie entwickelt sich zu einem Mädchen, das überall aneckt - im Kindergarten, in der Schule und bei Mos Lieblingslover Endre.

"Wenn Endre bei uns war, verlor Mo ihre Moichkeit. Genosse war nämlich gar nicht sein richtiger Name." Endre wird Borkas Nilpferdbecher zertrümmern: die letzte Erinnerung an den Vater. Er schlägt sie, wenn sie mit schlechten Noten nach Hause kommt. Er macht politische Fehler, benutzt Mo als Rettungsring und verschwindet wieder, als es um seine Position besser steht.

Diese recht gewöhnliche Beziehungsgeschichte mit ihren Höhen und Tiefen grundiert Forgó mit der Schilderung der Lebensbedingungen im kommunistischen Ungarn: Druck und Angst sind allgegenwärtig. So besucht Borka etwa heimlich den Religionsunterricht - bis der Priester abgeholt wird. Dann wieder zieht Mo die richtigen Strippen, damit Borka auf das beste Gymnasium kommt. Der Leser erlebt Festtagsreden und Arbeiteraufmärsche aus der Sicht der Heranwachsenden, die zwischen Anpassung, Ablehnung und Widerstand schwankt, Gedichte schreibt, von Jungs phantasiert, aber auch von einer heilen Welt. Und so, wie Borka allmählich ihre Vergangenheit verliert und sich kaum mehr an die Gesichter von Vater und Bruder erinnern kann, verliert der Roman gewissermaßen die seinige. Die mit allzu großer Geste entworfene Urszene von Geburt und Tod kann über den charmanten Teenager-Tagebuchschnipseln durchaus vergessen werden.

Diese Darstellungsweise ist weit entfernt von derjenigen des ebenfalls 1973 geborenen ungarischen Autors György Dragomán. Diesem gelingt in seinem soeben auf Deutsch veröffentlichten Roman "Der weiße König" die Darstellung einer geschlossenen Welt des Grauens (in Rumänien); Forgó entscheidet sich dagegen für eine quasiwestliche Öffnung. Ab und an wird die Perspektive des Kindes und der Jugendlichen durchbrochen. Wenn Forgó, selbst dreifache Mutter, ihre Gören-Heldin die typischen und vollkommen unpolitischen Kinder- und Backfischkatastrophen durchstehen lässt, franst die Geschichte oft einfach aus, bleiben lose Fäden unverknüpft. Das Buch gewinnt damit zwar nicht gerade an historisch-politischer Bedeutung, aber durchaus an Leichtigkeit. An solchen Stellen wirkt Forgós Buch wie ein beschwingter Budapest-Roman.

Doch leider konnte es die gelernte Dramatikerin bei dieser zurückgenommenen Dramatik nicht belassen. Am Schluss liegt Borka, von Endre im Rausch geschwängert - man denke an "Die Marquise von O." - pressend im gleichen Kreißsaal wie zuvor ihre Mutter: Wir sind vom Marienhof zurück und wieder bei Medea. Borka flüstert sogar die gleichen, urfeministischen Worte wie einst ihre Mutter: "Ich will nicht mehr gebären!" Und wir wollen nicht mehr lesen.

ALEXANDRA KEDVES

Léda Forgó: "Der Körper meines Bruders". Roman. Atrium Verlag, Zürich 2007. 333 S.,

geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2008

Die Feinfühligkeit der Toten
Léda Forgós phantastischer Roman vom Ungarnaufstand
Die Ungarin Léda Forgó ist eine mutige Frau. Mit Verve erzählt sie aus unmöglicher Perspektive die Geschichte vom „Körper meines Bruders”. Das beginnt damit, dass die Ich-Erzählerin Borka ihre Mutter bei der Schwerarbeit der eigenen Geburt beobachtet. Borka wurde 1953 geboren, etliche Stunden und ein Tag später als ihr Zwillingsbruder Palkó. Das schreckliche Leben beginnt 1956 während des Ungarnaufstands. Auf der Suche nach dem Vater gerät Mo, die Mutter, mit den Kindern auf dem Rücken in eine Schießerei. Borka fühlt etwas Warmes und sieht neben sich roten Urin. Es ist Blut. Palkó, der Bruder, ist tot und Borka kann allein „nichts so richtig”. „Tot, tot, tot” flüstert der verzweifelte Vater, und Borka denkt an das Lied, das ihr Vater oft gespielt hat: „Nur nicht aus Liebe weinen . . . ” Das ist Sentimentalität, oder Léda Forgós artistische Umwandlung von Verzweiflung in die ungarische Variante von Verzweiflung.
Die 1973 geborene Léda Forgó lebt in Berlin und seit 14 Jahren in Deutschland. Sie hat Theaterstücke und eine Novelle geschrieben, ihren ersten Roman auf Deutsch verfasst und wurde dafür mit dem Adelbert von Chamisso-Preis ausgezeichnet. In einer Schlussbemerkung dankt Léda Forgó dem „wundersamen György Dalos”. Glückliches Ungarn, das Schriftsteller hervorbringt, die dem Schrecken ihrer Geschichte das Lächeln der Weisen entgegensetzen.
„Der Körper meines Bruders” ist ein Roman über das Leben in Budapest während des Aufstands 1956, über die kommunistische Planwirtschaft, den Irrsinn eines Machtapparats, über die Gefühle eines heranwachsenden Mädchens, das ihren Bruder verloren hat und während der Kämpfe ihren Vater. Léda Forgó schildert Borkas Verlangen, die eigenwillige Mutter, die in einer Konservenfabrik arbeiten muss, in eine liebevolle Mutter zu verwandeln. Und sie erzählt von einem Mädchen, das sich seine eigene Realität erfindet, in der sie mit ihrem toten Bruder lebt. Borka führt ein Leben zu zweit, geht mit ihrem Bruder „rück- und himmelwärts gedreht” durch die Straßen und überlässt ihm den besseren Part, denn er ist der „Feinfühligere”. Léda Forgó zwingt ihre Hauptfigur, mit unverfrorener Subjektivität auf ihre Umwelt zu reagieren.
Das Mädchen Borka nimmt mit Erschrecken die Veränderungen ihres Körpers wahr, der ihr endgültig vor Augen führt, dass sie nicht ihr Bruder ist. In burschikoser Abwehr gegen die Ablösung hält sie sich Tanten und Lehrer vom Hals und gibt sich der Phantasie hin, irgendwo in der Menschenmenge ihren Bruder und ihren Vater wiederzufinden. Während des Einmarschs der Russen in die Tschechoslowakei dröhnt es in Budapest wieder vom Lärm der Panzer. Léda Forgó holt zum großen Finale aus, der Liebhaber der Mutter wird der Liebhaber der widerspenstigen Tochter. Mit Alkohol gefügig gemacht, wird Borka unwissend in den Zustand versetzt, der Marquise von O. zur berühmtesten Schwangeren der Literaturgeschichte machte.
„Der Körper meines Bruders” ist eine anrührende Analyse von Liebesverlust, von Lebens- und Realitätsverweigerung und vom unweigerlichen Erwachsenwerden. Die Lächerlichkeit eines kraftmeierischen Kommunismus wird darin vorgeführt und die Macht der Phantasie. Da sich Léda Forgó den Tücken der deutschen Sprache ausgesetzt hat, kann man nicht verschweigen, dass sie ihr nicht ganz gewachsen ist, was an altertümlichen Formulierungen, die aus dem direkten knappen Stil herausfallen, und an grammatikalischen Loopings abzulesen ist. Aber, und das ist bestechend, Léda Forgó kann erzählen, und sie hat ein Thema: Die Folgen der Ideologien und der Kampf gegen die Illusion und um die Identität.VERENA AUFFERMANN
LÉDA FORGÓ: Der Körper meines Bruders. Roman. Atrium Verlag, Zürich 2007. 333 Seiten. 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Mit tiefer Bewunderung hat Rezensentin Barbara von Becker diesen Roman gelesen, der vor der malerischen Kulisse der Stadt Budapest die düsteren Zeiten unter der Knute des Sozialismus und seine lähmende Hoffnungslosigkeit beschwört. Erzählt werde die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter, der titelgebende Bruder wurde als Kind während des Volksaufstandes von 1956 von einem Querschläger getötet, in dessen Verlauf sich auch der Vater das Lebben nimmt. Einen Teil seiner Suggestivkraft bezieht das Buch augenscheinlich durch seine Perspektive - die Geschichte ist aus dem Blick der Tochter erzählt, der Beschreibung der Rezensentin zufolge in einer eindringlich, altklugen Weise. Aber auch der wilde Lebensmut der beiden Protagonistinnen bewegt die Rezensentin sehr, die das Buch insgesamt für seine "kraftvoll leidenschaftliche Sprache" und als "eindrucksvolles bewegendes Panorama einer schwer lastenden Zeit" feiert.

© Perlentaucher Medien GmbH