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In den Archiven Venedigs liegt ein handgeschriebenes Tagebuch über eine Reise von Bassano di Grappa über Tirol nach Deutschland, dort kreuz und quer bis in den Norden und sogar nach Dänemark und Schweden hinein. Entdeckt hat diese kulturgeschichtliche Kostbarkeit eine Romanistin und Kunsthistorikerin, die den Text aus dem alten Venezianisch übersetzte und aus heutiger Sicht erläutert und kommentiert. Sinn und Zweck der Reise bleiben ebenso unklar wie die Person des Autors, wahrscheinlich begleitete er einen Kaufmann. Doch von Geschäften ist kaum die Rede, dafür von Sehenswürdigkeiten und…mehr

Produktbeschreibung
In den Archiven Venedigs liegt ein handgeschriebenes Tagebuch über eine Reise von Bassano di Grappa über Tirol nach Deutschland, dort kreuz und quer bis in den Norden und sogar nach Dänemark und Schweden hinein. Entdeckt hat diese kulturgeschichtliche Kostbarkeit eine Romanistin und Kunsthistorikerin, die den Text aus dem alten Venezianisch übersetzte und aus heutiger Sicht erläutert und kommentiert. Sinn und Zweck der Reise bleiben ebenso unklar wie die Person des Autors, wahrscheinlich begleitete er einen Kaufmann. Doch von Geschäften ist kaum die Rede, dafür von Sehenswürdigkeiten und Bräuchen, von den - oft sehr tristen - Bedingungen einer solchen Reise, von Straßen und Wirtshäusern, von Empfängen in Adelspalais, von Frauen am Pranger, von Kanalisation und - sehr viel - von Befestigungsanlagen (war der Autor ein Spion der Serenissima?), von Obst- und Gemüsegärten vor den Toren der Städte und den Galgen daneben, an denen die Gehenkten verfaulten. Das Büchlein ist eine Entdeckung für die Wissenschaft, hier wird es für jeden an Kulturgeschichte und an historischen Reiseberichten Interessierten aufbereitet und mit zeitgenössischen Bildern illustriert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2000

Reisen auf die langsame Tour
Das große Warten: Ein Venezianer in Bonn und anderswo

In Augsburg bewunderte er die Blumen und die Damen, in Nürnberg einen künstlichen Hirsch mit Röhrautomatik. In Würzburg begann er zu frieren. In Hanau neppte man ihn so übel, dass er notierte: "In Deutschland wird jeder, der als Fremder erkannt wird, wie ein Trottel behandelt." Frankfurts Herbergen waren wegen der Messe so überfällt, dass er nur mit Mühe ein Zimmer fand. Am Morgen erwachte er vom Einsturz des Hauses nebenan. Trotzdem amüsierte er sich köstlich: bei Wein, Rebhühnern, Konfekt und Kaffee. Am Rhein regnete es. Tropfnass musste er in Bonn drei Stunden vor dem Stadttor warten. Nicht zuletzt des Wetters wegen eilte er in Köln von Kirche zu Kirche. In Wetzlar bewunderte er gewaltige Kohlköpfe, in Kassel einen Pavian "mit karmesinrotem Hinterteil". Im großzügig gebauten Leipzig genoss er den Messetrubel und - wiederum - die Cafés.

In Berlin besichtigte er ausgiebig das Schloss, das Zeughaus, das Raritätenkabinett und den Tiergarten. Er sah zwei riesige Moschusochsen, später die königliche Familie beim Diner. In Hamburg schneite es. Er kaufte sich einen Bärenpelz. Im Hafen fielen ihm die Gezeiten auf, in den Kirchen die Lust am überlauten Singen, in Altona das friedliche Nebeneinander der Konfessionen. In Itzehoe machte ihm das Kraut zu schaffen, auf der Überfahrt zur Insel Fünen der Seegang. Doch eine dänische Dame flößte ihm Branntwein ein. In Kopenhagen gefielen ihm die Pelzmützen der Wachsoldaten, auf der Weiterfahrt nach Schweden die Seebären an der Küste. In Malmö schockierte ihn die Sitte, den Sekt mit Eigelb und den Tee mit Schnaps und Wein zu mischen. Das Wetter wurde immer schlechter, die Herbergen ebenfalls. Durch Stürme und tiefen Schnee gelangte er am 6. Dezember 1708 nach Karlsstad am Vänersee. "Steifgefroren", protokollierte er. Dann brechen seine Aufzeichnungen abrupt ab. Von wem war die Rede?

Niemand weiß es. Trotz intensiver Recherchen konnte die Herausgeberin den vornehmen Venezianer nicht identifizieren, der am 1. September 1708 von seiner Heimatstadt zu der eben skizzierten Reise aufbrach. Dass sein Tagebuch im Museo Civico Correr lagert, spricht wohl dafür, dass auch er nicht verloren ging, sondern irgendwann glücklich heimkehrte. Tragik würde auch nicht zu ihm passen. Zu gern besucht der (tier-)freundliche Genießer die Kaffeehäuser, kostet er gute Weine, erfreut er sich an städtischen Attraktionen und exotischen Raritäten. Für einen Venezianer des achtzehnten Jahrhunderts ist er erstaunlich solide (oder verbirgt sich hinter jener mysteriösen, nicht identifizierbaren Firma, deren Filialen er in jeder großen Stadt aufsucht, doch kein Bankhaus?). Er geht regelmäßig zur Messe und staunt über die deutschen Gottesdienstbräuche. Überhaupt sieht er viel und versteht wenig. Seine Perspektive bleibt touristisch. Politische Reflexionen liegen ihm fern. Wo er Daten angibt, stimmen sie selten.

Irene Schrattenecker hat das Manuskript im Archiv entdeckt und in ein wunderschönes Buch verwandelt: in eine mustergültige zweisprachige Edition mit akribischen, keine Frage offen lassenden Anmerkungen, mit einer intelligenten, unterhaltsamen Einleitung und gut gewählten, wiederum kundig kommentierten Illustrationen auf jeder der großformatigen Doppelseiten. Man glaubt es kaum: so viel liebende Mühe für ein so harmloses Textchen! Hätten die wichtigen Reiseautoren der Epoche, ein Pöllnitz, Blainville oder Keyßler, doch irgendwann einmal ähnliches Glück! Gleichwohl - das Buch liegt vor, und jeder, der sich für den Alltag oder die Fürstbischöfe des Barocks interessiert, wird das eine oder andere darin finden. Und für Bekannte aus Berlin, Dänemark oder Schweden ist es ein wirklich nettes Mitbringsel.

GERRIT WALTHER

Anonimo Veneziano: "Eine deutsche Reise anno 1708". Herausgegeben und aus dem Italienischen von Irene Schrattenecker. Haymon-Verlag, Innsbruck 1999. 174 S., 111 Abb., geb., 58,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Der Rezensent mit dem Kürzel "A. W." ist begeistert von dieser Entdeckung eines fast dreihundert Jahre alten Reisetagebuchs eines unbekannten Venezianers. Zwar wisse man über ihn selbst nichts, aber trotzdem vermittelt sich nach Ansicht des Rezensenten das Bild eines "bildungshungrigen Mannes, den alles interessiert, was ihm begegnet". Durch seine Schilderungen von Menschen, Städten, Kirchen, Gärten, Sitten und vielem mehr sowie seine persönlichen Eindrücke entsteht nach Ansicht des Rezensenten ein lebendiges Bild von Deutschland im frühen 18. Jahrhundert, in dem auch Religionsstreitigkeiten oder die Folgen des Dreißigjährigen Krieges deutlich werden, aber auch das, was gerade neu entsteht. Bedauerlich findet "A. W." lediglich, dass man nicht weiß, wie es dem "Verfasser auf seiner weiteren Fahrt ergangen ist".

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