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Produktdetails
  • Verlag: Wieser
  • Seitenzahl: 161
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 181g
  • ISBN-13: 9783851293272
  • ISBN-10: 3851293274
  • Artikelnr.: 09401120
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Das Rauchen der Navajos in Kärnten
Corinna Soria und die unheimliche Unsterblichkeit des Heimatromans / Von Lothar Müller

Grenzenlos weit erstreckt sich das Hinterland des Unglücks. Unübersehbar ist das Heer der Hilfstruppen, die es gegen das Glück ins Feld führt. Ideal für Abstürze und Hinterhalte sind die Wege ins Gebirge, hinauf zu den Wallfahrtskapellen, wo auf Wandmalereien gepeinigte Gestalten das eigene Schicksal verkünden, noch höher hinauf bis an die Ränder der Gletscher, wo drohend der Abgrund lockt. So ist die Welt nicht überall. Aber so ist sie in diesem Buch. Es ist das Buch einer verfinsterten Kindheit. Sein Schauplatz ist die österreichische Provinz, irgendwo in den Bergen Kärntens, manchmal auch in Klagenfurt.

Aber schwanden nicht die Reservate der unheimlichen Heimatliteratur Österreichs seit den fünfziger und sechziger Jahren unaufhaltsam dahin, samt der barock-grausamen Herrgottswinkelwelt? Überall Seilbahnen und Tunnel, Elektrifizierung und Straßen bis an die Gipfel, vollautomatisierte Ställe mit Sauna und Satellitenschüssel für die Ferien auf dem Bauernhof. Schnell kommt man mit dem Turbo in die Stadt.

Leicht fertig mit der Provinz werden nur Globalisierungstheorien und Metropolenberauschte. Die Literatur nicht. Das zeigt sich in diesem erstaunlichen, dunkel glänzenden Debüt einer Autorin des Jahrgangs 1962. Statt vom Aufwachsen in einer Zeit der beschleunigten Modernisierung erzählt sie von einer Kindheit und Jugend im Schatten des Kreuzwegs. Statt von Popmusik sind die Erinnerungen von Rosenkranzgemurmel unterlegt. Das Buch ist unter einem Pseudonym erschienen, um darin vorkommende Personen zu schützen, so wenig ausgestorben ist die alte Provinz. Es ist, wie so viele seiner Vorläufer, ein Produkt der Notwehr. Aber Originalitätsgebote verfangen gegenüber der Wucht dieses Buches nicht.

Ja, es ist eine alte Geschichte: Sie handelt vom Kind einer ledigen Mutter, die von ihren frommen Verwandten verachtet wird. Ja, es ist altbekannt, daß in der unaufgeklärten Provinz der Wahnsinn nistet. Aber die alten Geister fragen hier nicht, ob sie in die neue Zeit noch passen. Periodisch erfassen sie die Mutter und schütteln sie wie ein Sturm, lassen sie erstarren wie in einem Kälteeinbruch. Das Kind fällt durch die Krankheit mit der Mutter aus der Welt, gerät hinein in eine Gegenwelt, eine Unterwelt, den "Orkus". Die Mutter kämpft darin verbissen gegen bedrohliche Strahlen an. Kiloweise muß sie Lebensmittel entsorgen, um der Vergiftung zu entgehen. Zudem ist das Kind gegen filigrane Entführungskomplotte des Vaters zu verteidigen. Bald schon verliert sie ihre Arbeit, versinkt im Elend, das Kind mit ihr.

Aber anders als die Mutter hat das Kind Bundesgenossen in der Not, Fluchthelfer aus dem Orkus: die Bücher. Gedichte von Friedrich Rückert, die Romane Karl Mays und Coopers, die Bibel mit der Apokalypse des Johannes und dem Kohelet, daneben Donald Duck oder irgendwelche Balladen aus der Schule. Seit dem "Anton Reiser" des Karl Philipp Moritz, dem Grundbuch der verfinsterten Kindheit, werden die Bücher wie kleine, palisadenbewehrte Schanzen gegen die Übermacht des Unglücks in Stellung gebracht. So auch hier: Den Mohikanern und Indianern, den Rittern des alten Habsburg und den unablässig memorierten magischen Versen Rückerts verdankt das Kind, daß es nicht untergeht.

Aus ihrem Rosenkranzetui nimmt die Mutter wie aus einem Telefon Ratschläge eines geheimen Retters entgegen. Für die Tochter verschwindet sie immer mehr in der Unerreichbarkeit. "Erzählung" steht über dieser Geschichte aus der Provinz, doch nie mündet in ihren Sätzen die Kindheit ins Imperfekt. Die Gegenwart des Ich, das hier erzählt, ist nahezu ungreifbar. Es geht ganz darin auf, in den Orkus der Erinnerung hinabzusteigen. Das atemlose, dramatische Präsens zoomt die Kindheit heran, statt sie im Gestus des Erzählens einzurahmen. Die rhythmische Sprache, in der Rosenkranz und Litanei ein höhnisches Echo finden, peitscht das Unglück vor sich her, von Station zu Station, manchmal mit allzu großer Lust an Wortzusammenballungen: das Leben mit den Dämonen bis zur Einlieferung der Mutter in die Psychiatrie; das Unterkommen bei Verwandten auf dem Lande bis zur Wiederkehr der scheinbar geheilten Kranken; das Erreichen des Umschlagspunktes, an dem die Tochter in die Sorgepflicht für die Mutter hineinwächst, hinein in den lähmenden Rhythmus von Abflauen und Aufflackern der Krankheit. Hinein auch in das schlechte Gewissen, die Mutter der Anstalt ausgeliefert zu haben.

Weil das Hinterland des Unglücks so groß und seine Hilfstruppen so zahlreich sind, ist dies ein so episodenreiches Buch: Da ist die Katastrophe des Plüsch-Grizzly, da sind die Freunde, die nur auftauchen, um bald aus dem Blickfeld zu verschwinden, da sind die Rituale des Unkrautjätens, des Kirchgangs und die kleinen Fluchten in den und aus dem Schulalltag. Und immer wieder die selbstgebauten Palisaden: "Dunkel ist es am Morgen, dunkel den ganzen Tag, das Zimmer bleibt verfinstert, die Sonne, die Wolken, das Blau, nein, sagt sie, man beobachtet uns von allen Seiten, man will uns Böses. Ich wende mich ab und steige auf den Rappen. Die Sonne brennt am Horizont, die Prärie gleißt, Staub wirbelt unter den Hufen, und nachts werde ich auf den Dächern der Navajo sitzen und die Friedenspfeife rauchen mit der glänzenden Kugel dort droben im Dunkelblau."

Dies Kaleidoskop einer scheinbar abgelebten Welt dreht sich mitten in der Gegenwart. Aber es will ihr nichts beweisen. Kein psychologisierendes Räsonnement mildert die Schläge des Unglücks, keine Ideologiekritik die Darstellung von Ordnungsfanatismus und geistiger Enge. Ja, Kärnten ist Haider-Land. Aber nicht weil das Klischee der unselig-rechten Provinz es will, hat sie Angst, vergast zu werden, erinnert sie sich an den Krieg und die Gerüchte über die Juden und die Seife. Es ist nur so, daß das Kind die Erinnerungen der Mutter erben muß, bis hinein in die Angst, daß, wenn dies wahr ist, auch alles andere aus dem Kopf der Mutter wahr sein kann. Ohnehin hat die Mutter der Mutter, die vor Hitler erschauerte, selbst Seife gemacht, als sie das Gerücht hörte. Aber auch wenn sie Hitler-Anhängerin gewesen wäre, hätte sie in diesem Buch nichts bewiesen.

Corinna Soria: "Leben zwischen den Seiten". Erzählung. Wieser Verlag, Klagenfurt und Wien 2000. 161 S., br., 27,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Hans-Peter Kunisch bespricht zwei Werke der Romanistin, die unter dem Pseudonym Corinna Soria veröffentlicht. Man muss schon beide Werke lesen, meint der Rezensent, um die Autorin besser zu verstehen. Denn das eine sei ihr Leben früher, das andere ihr Leben jetzt.
1) Corinna Soria: "Leben zwischen den Seiten"
Geschichten über unglückliche Kindheiten in der österreichischen Provinz gibt es eigentlich genug, meint Kunisch. Aber Sorias Geschichte ist für den Rezensenten unverwechselbar. Denn sie hat keine "klassisch lamentierende Kinder-Leidensgeschichte" verfasst, sondern die autobiografisch angelegte Geschichte der Beziehung zwischen einer an Schizophrenie erkrankten Mutter und ihrer Tochter, die zum Schutzschild der Mutter gegen die bedrohliche Welt wird. Sehr geschickt verstehe es die Autorin, die Perspektiven zu wechseln. Mal erzählt die Tochter als Kind, mal rückblickend als Erwachsene. Der "schillernd pathetischen Sprache" wird so immer wieder eine überraschende Beweglichkeit verliehen, denkt der Rezensent. Das Debüt der 1962 in Salzburg geborenen Autorin hat Kunisch überrascht. Ihn beeindruckt vor allem die Sprache, mit der Soria versuche, zum Geschehenen Distanz zu finden.
2) Corinna Soria: "Briefe nach Welfare Island. Lyrik von 1985 bis 1995"
Mit einen Teil ihrer Gedichte ist Soria in eine alte Sprache eingetaucht und hat so Erstaunliches hervorgebracht, findet Kunisch und denkt dabei an den "kühlen Pathos" von Ingeborg Bachmann. So ganz will er aber Soria nicht mit Bachmann vergleichen. Ihr Pseudonym Soria sei vielmehr eine Hommage an den spanischen Dichter António Máchado, der lange Zeit in der Provinzstadt Soria gelebt hatte, informiert der Rezensent. Besonders gut hat ihm das erste Gedicht des Bandes gefallen, eine Liebeserklärung an den Emigranten Albert Ehrenstein. Ein Text voller "rhythmisierter Brüche", den Kunisch aber in sich so schlüssig findet, als habe man ihn nur so schreiben können.

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"Mit dem Erwachsenwerden muß sich das Kind Zoe der Lebensrealität der Mutter stellen – und damit der eigenen. Keine Anklage, kein wehleidiges Lamentieren ist da zu erleben, sondern ein schleichender Prozeß zwischen Anpassung und Emanzipation, zwischen Liebe und Angst, zwischen Wahn und Wirklichkeit; ein Prozeß, an dessen Ende das Kind die Verantwortung für die Mutter übernehmen wird." Bayerisches Fernsehen