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Die Literaturwerdung der "Berliner Schnauze"
Berlin war und ist bis heute von Zuwanderung geprägt und hat sich in der Ausbildung einer besonderen Mundart aller Sprachen bedient und sie einem Metropolen-Dialekt einverleibt, den man gemeinhin "Berliner Schnauze" nennt. Von der Straße, aus den Dienstmädchenkammern und Hinterhöfen fand das Berlinerische seinen Weg auf die Bühnen der Schmalzstullentheater und bald auch in die Schreibstuben der Dichter. Was mit Adolf Glaßbrenners Eckensteher anfing, wurde von Theodor Fontane aufgegriffen, von Erich Mühsam, Max Herrmann-Neiße und selbst von…mehr

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Produktbeschreibung
Die Literaturwerdung der "Berliner Schnauze"

Berlin war und ist bis heute von Zuwanderung geprägt und hat sich in der Ausbildung einer besonderen Mundart aller Sprachen bedient und sie einem Metropolen-Dialekt einverleibt, den man gemeinhin "Berliner Schnauze" nennt.
Von der Straße, aus den Dienstmädchenkammern und Hinterhöfen fand das Berlinerische seinen Weg auf die Bühnen der Schmalzstullentheater und bald auch in die Schreibstuben der Dichter.
Was mit Adolf Glaßbrenners Eckensteher anfing, wurde von Theodor Fontane aufgegriffen, von Erich Mühsam, Max Herrmann-Neiße und selbst von Gottfried Benn. Kurt Tucholsky entpuppte sich als Meister des mundsprachlichen Gelegenheitsgedichtes und Erich Weinert berlinerte noch aus dem Exil gegen die Nationalsozialisten an. Eine Mundart wurde hoffähig mit all ihrer Frechheit und Obszönität.
Diese erste dokumentarische Anthologie, die sich dieser volksnahen Sprache widmet, umfasst über 250 Gedichte - von 1830 bis heute. Entstanden ist eine Berliner Kulturgeschichte "von unten", die fast wie nebenbei auch die deutsche Geschichte der letzten zweihundert Jahre nachzeichnet - vom preußischen Selbstbewusstsein über den kaiserstädtischen Größenwahn, den Klassenkampf der Goldenen Zwanziger, den Jahren im Krieg, wo vielen Autoren allein die Mundart als Stück Heimat blieb, bis hin zur Rückbesinnung in den Jahren deutsch-deutscher Teilung und deren Überwindung.
Autorenporträt
Thilo Bock, 1973 geboren in Berlin, ist Autor und regelmäßiger Gast und Gastgeber auf den Lesebühnen der Hauptstadt.

Wilfried Ihrig ist Literaturwissenschaftler.

Ulrich Janetzki, geboren 1948 in Selm, ist Literaturwissenschaftler. Er leitete bis 2014 das Literarische Colloquium Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017

Ick möchte doch nie nich wat andres sind

Worauf der Berliner besonders stolz ist? Auf seine Sprache. Ein Band versammelt Dialektgedichte aus der Hauptstadt, von 1830 bis heute.

Von Katharina Teutsch

Ich liebe Dir! Ich liebe Dich! / Wie's richtig is, ich weeß es nicht, / Un's is mich auch Pomade!" So dichtete ganz ohne Pomade der Satiriker Adolf Glaßbrenner im Zungenschlag der preußischen Metropole. Er löste das Problem der damals schon grassierenden Fälle-Fehlleistung auf denkbar charmante Weise: "Ich lieb' nicht auf den dritten Fall, / Ich lieb' nicht auf den vierten Fall, / Ich lieb auf alle Fälle."

Auch das muss man nach mehr als vierhundert Seiten Dialektgedichten einsehen, die es jetzt in einer bibliophilen Ausgabe, nach Epochen sortiert, zu goutieren gibt: Der Berliner Gelegenheitspoet, der Eckensteher und Bürgerschreck, sie alle haben ein großes Herz - vor allem für ihre Stadt: "Mir nennen zu dürfen Berliner Kind, / un wickelten se mir in Sammt un in Seide, / Ick möchte doch nie nich wat andres sind." Schon wieder gerät die Grammatik außer Rand und Band. Und mit ihr Theodor Fontane.

Doch was, von einem fettigen Gebäck mal abgesehen, ist ein Berliner? Schon zu Fontanes Zeiten definierte er sich weniger über Blut und Boden als über die Sprache. Typischerweise kam er irgendwo aus Schlesien. Erst wenn er Passanten mit "Pass besser uff!" zurechtwies, so Fontane, war er in der Hauptstadt angekommen. Nicht wenige Wessis, die in den siebziger Jahren ins eingemauerte West-Berlin flohen, hört man heute mit "wa!" und "weeste!" um sich werfen, als seien sie seit Generationen hier verwurzelt.

Erstaunlicherweise ist der Berliner Dialekt mit dem in der Norddeutschen Tiefebene gesprochenen Plattdeutsch verwandt. Linguisten sprechen von der Benrather Linie, an der die Lautverschiebung von dat zu das im frühen Mittelalter zum Stillstand kam. "So besehen ist der Berliner mit dem Kölner Dialekt urverwandt", schreibt Hans-Christoph Buch in seinem Vorwort zum Band. Das muss den Preußen natürlich verdrießlich stimmen. So wie in Georg Böttichers Unjlückstag aus dem Jahr 1899: "Heute jeregnet janzen Tag! / Stube mich eckig jesessen --- / Frühstück, Cijarre - schlecht, übel danach, / Mittags: janz scheussliches Essen!"

Die Anthologie beginnt mit der von Glaßbrenner gesetzten Figur des Eckenstehers Nante. Der war notorisch arbeitslos, schnapsnasig und schnodderig, aber auch immer ein bisschen melancholisch. Eine gewisse Respektlosigkeit vor der Obrigkeit in prekären Zeiten ist sein Markenzeichen. Und im Grunde gibt er damit den Ton an für viele Berlin-Gedichte, die früher oder später auch als Gassenhauer ihren Weg an Volkes Ohr fanden, egal, ob der Pickelhauben-Preuße aufs Korn genommen wird ("Wir retten Preußens Macht und Ehr' / Durch unser treues Militär"), die Inflation Thema ist ("Durchhalten bis uff Herz und Knochen - / So dacht' im Kriej ick jedet Jahr: / Wenn erst der Frieden ausjeborchen /, Wird alles wieder so wie't war") oder die kolonialen Ambitionen der Deutschen in Afrika aufgespießt werden ("Vorne ein paar drockne Halme, / In de Mitte eine Palme / Un ein Sandfleck hinten - siehste / Wie de bist: det nennt man ,Wüste'!).

Aufschlussreich ist nicht nur der Blick auf die Politik. Der Satiriker Alexander Moszkowski verhandelt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen virulenten Alltagsdiskurs: Angst vor den endlich erklärbaren Infektionskrankheiten. "Nee, ick sag' schon! Von Bakterien / Hat man früher nischt jewußt, / Da war's Essen noch 'ne Freude / Und det Trinken war 'ne Lust; / Aber seit man die Bazillen / Und dergleichen Zeugs erfund, / Is der Mensch total jelifert, / Allen is jetzt unjesund."

In den Zwanzigern bekommt das Dialektgedicht durch Klabund, Claire Waldorff, Kurt Tucholsky oder Alfred Kerr Auftrieb aus der Literatenszene. Auch die Gedichtzeile "Ick kieke, staune, wundre mir" über einen Klops-Esser namens "Icke" entsteht in dieser Zeit. Aus der politischen Gemengelage ragt ein böses Gedicht von Max Herrmann-Neiße heraus, in dem ein ausgebufftes Mädchen den Papa verführt - mit einer Schaukeleinlage ohne Schlüpfer: "Ick sehe, er jlüht immer röter vor Glücke, / womöglich zerplatzt er in tausend Stücke."

Als die NS-Zeit vorbei ist, liegt Berlin in Trümmern. "Meine Mutter sagt, es hat 'ne Zeit jegeben, / Wo die Häuser alle janz jewesen sind. / Viele Bäume standen manchmal dicht daneben, / Und im Frühling rauschten die dann so im Wind", erinnert sich Helmut Brasch. DDR- und Mauer-Kritik gibt es in erstaunlicher Offenheit bei Jurek Becker: "Et jibt da so'n paar Leute, / wenn ick die frag: ,Wie spät?' / da nehmen die't Zentralorjan / und kieken, wat da steht." In West-Berlin verkam die Berliner Schnauze unter dem Einfluss der Mauer zur Proletensprache. In Ost-Berlin wurde sie zum Distinktionsmerkmal der Intellektuellen. Und nach der Wende? Wolf Biermann trifft einen Berliner mit Schnauze ausgerechnet in Tel Aviv und lässt ihn per Langgedicht von vor dem Krieg erzählen: "Det Komische is: Nu bin ick alt / Jetzt kommt dis Berlin mir wieder. / Ick sitz manchmal morgens in mein Bett / Und sing deutsche Kinderlieder."

Die heutige Berliner Schnauze blafft vornehmlich auf Poetry Slams. Hier und da melden sich etablierte Autoren wie Kathrin Schmidt oder Peter Wawerzinek zu Wort, allerdings hat nicht nur die moderne Lyrik, sondern auch das Dialektgedicht den schönen Endreim hinter sich gelassen, und so berlinert es mitunter etwas sperrig vor sich hin. Man könnte das Schlusskapitel damit als den Hinkefuß dieser Anthologie bezeichnen. Die Aktualität gibt entweder wenig Brauchbares her oder findet nicht ans Ohr der Herausgeber. Neuere Vermischungen von Dialekt mit dem Zungenschlag der Berliner Hip-Hop-Türken kommen nicht vor. Das alles scheint vielleicht auch wegen des mündlichen Status noch nicht reif für seine Archivierung. Fest steht seit Glaßbrenner jedenfalls: "Man spricht das Deutsch, wie stets mir schien, / Am leichtesten doch in Berlin." Merkt euch das, Kölner!

"Ick kieke, staune, wundre mir . . .". Berlinerische Gedichte von 1830 bis heute.

Hrsg. von Thilo Bock, Wilfried Ihring und Ulrich Janetzki. Vorwort von Hans Christoph Buch. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 465 S., geb., 42,- [Euro].

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