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Das Nachdenken über Gewalt in ihren unterschiedlichsten Spielarten, im Individuellen und im Gesellschaftlichen, bildet das zentrale Thema dieser deutsch-polnischen Anthologie.Wie wird Gewalt sich selbst und der Welt gegenüber gerechtfertigt? Kündigen Rechtfertigungen kommende Gewalt an? Sind sie wie ein Seismograph, an dem sich der Stand einer Gesellschaft ablesen lässt? Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist ein historisch belastetes, ein lange von Gewalt geprägtes. Auch Geschichten über Gegenwärtiges lassen sich nicht erzählen ohne das Bewusstsein von Schuld, von Fragen nach Opfern…mehr

Produktbeschreibung
Das Nachdenken über Gewalt in ihren unterschiedlichsten Spielarten, im Individuellen und im Gesellschaftlichen, bildet das zentrale Thema dieser deutsch-polnischen Anthologie.Wie wird Gewalt sich selbst und der Welt gegenüber gerechtfertigt? Kündigen Rechtfertigungen kommende Gewalt an? Sind sie wie ein Seismograph, an dem sich der Stand einer Gesellschaft ablesen lässt? Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist ein historisch belastetes, ein lange von Gewalt geprägtes. Auch Geschichten über Gegenwärtiges lassen sich nicht erzählen ohne das Bewusstsein von Schuld, von Fragen nach Opfern und Tätern in historischen Prozessen, die bis heute fortwirken. Fünf deutsche und fünf polnische Autoren schreiben über Gewalt. Die Wunden und Gespenster des Zweiten Weltkriegs, der Völkermord in Ruanda, neue Konflikte an den Grenzen Europas und die Brutalität im zwischenmenschlichen Alltag bringen sie dazu, sich an der Welt zu reiben. Allgegenwärtige Bilder der Gewalt provozieren die Frage,wie die Literatur darauf antworten sollte. Welche Verpflichtungen der Schriftsteller hat. Und welche Chancen. Polnische und deutsche Künstler und Autoren waren eingeladen, sich mit diesen Fragen vor dem Hintergrund ihrer Biographien und ihrer geschichtlichen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Volker Braun, Durs Grünbein, Matthias Göritz, Silke Scheuermann sowie Salinia Stroux beteiligten sich von deutscher Seite, Jacek Dehnel, Wojciech Jagielski, Marian Pankowski, Wojciech Tochmann, Olga Tokarczuk und Magdalena Tulli von polnischer. Mehrere Generationen kommen zu Wort, vom 1919 geborenen Pankowski, der als Häftling Auschwitz überlebte, über Volker Braun, der im Jahr des Kriegsbeginns geboren wurde, bis hin zu den Jüngsten, die zur Jahrtausendwende noch nicht dreißig waren.
Autorenporträt
Der HerausgeberStephan Stroux, geb. 1945, studierte Regie und Schauspiel am Max Reinhardt Seminar in Wien; arbeitete als Schauspieler, Übersetzer, Regisseur. Mehr als 60 Inszenierungen an deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern, außerdem in den Niederlanden, Portugal, Brasilien, Chile, Namibia, Kanada. Arbeit mit freien Theatergruppen, Organisation von Festivals.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2011

Die Durchreise als Dauerzustand
Weit weg und plötzlich ganz nah: Eine deutsch-polnische Anthologie reflektiert Krieg und Gewalt

Es wird immer deutlicher spürbar, dass das Denken über das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen nicht mehr allein vom Zweiten Weltkrieg geprägt ist. Wenn Literaten beider Länder gemeinsam über Krieg und Gewalt nachdenken, ist ihr Blick genauso oft auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart gerichtet. Das gilt auch für die zehn Autoren, deren Texte sich zur Anthologie "Das wahre Ende des Krieges liegt vor seinem Anfang" fügen: Fünf Polen und fünf Deutsche unterschiedlichen Alters reflektieren sowohl kriegerische Auseinandersetzungen als auch andere Spielarten der Gewalt, doch ihr zeitliches und geographisches Spektrum reicht vom Zweiten Weltkrieg über den Massenmord in Ruanda bis hin zum Alltag in einer deutschen Großstadt. Das Buch ist also kein neuer "Versöhnungsakt" und auch keine separate Aktion, sondern der Abschluss des multimedialen Projekts "Virtuelle Brücke in der Weichsel", das den Dialog zwischen Künstlern beider Länder beleben sollte.

Allerdings ist der letzte Krieg immer noch der stärkste zeithistorische Akzent im deutsch-polnischen Verhältnis, und er wirkt bis heute fort - als gemeinsame geschichtliche Erfahrung, die immer noch Teil individueller Biographien ist. Am deutlichsten lässt sich das an vier Texten ablesen: Marian Pankowski, ehemaliger KZ-Häftling und Autor unzähliger Prosabände, konfrontiert eine Holocaust-Überlebende mit einer jüdischen Gemeinde in Amerika. Die junge Frau wird herzlich empfangen, doch als sie anfängt, Einzelheiten ihrer Rettung zu schildern, stößt sie zunehmend auf Unverständnis. Vor allem das Verhalten ihrer Mutter, der sie ihr Leben verdankt, weil diese, einen Streit vortäuschend, sie aus einem Transportzug stieß, erscheint ihnen "so entsetzlich, dass es beinahe unglaublich ist". Magdalena Tulli, Tochter einer Polin und eines Italieners, hält Momente aus ihrer Kindergartenzeit im poststalinistischen Polen fest, in der sie nicht nur die Strenge der Betreuer, sondern auch die Schikanen der Gleichaltrigen ertragen musste. Sprüche wie "Eure ganze Familie ist zum Verbrennen" gehörten wie selbstverständlich zu ihrem Vokabular. Olga Tokarczuk lüftet mit der Beschreibung einer Tante, die im Krieg Liebesverhältnisse mit einem Russen, einem Deutschen und einem Ukrainer hatte, ein lang gehütetes Familiengeheimnis. Ihre Geschichte wurde peinlichst verschwiegen, und in ihrer späteren Krebserkrankung sah man eine gerechte Strafe. Matthias Göritz schließlich thematisiert den Krieg als Gegenstand des modernen Filmgeschäfts. Sein Erzähler trifft einen Produzenten, der eine publikumswirksame Verfilmung des Überfalls auf den Sender Gleiwitz plant.

Ansonsten versammelt diese von Regisseur Stephan Stroux herausgegebene Anthologie Texte von sehr verschiedener Thematik und leider auch unterschiedlicher literarischer Qualität. Silke Scheuermann beschreibt raffiniert akzentuiert einige Stunden im Leben einer Frau, die Zeugin der sexuellen Nötigung ihrer Tochter wird und aus Unsicherheit oder falscher Diskretion nicht eingreift. Wojciech Jagielski liefert eine spannende Reportage über zwei Brüder, polnische Einwanderer in Südafrika, von denen einer unter den Einfluss eines Apartheid-Verfechters geriet und Mandelas Weggefährten Chris Hani erschoss. Und Salinia Stroux steuert einen emotionsgeladenen Bericht über die Villa Azadi bei, eine griechische Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge. Sie stammen aus Afghanistan, Somalia oder dem Irak und betrachten den Ort als ein Transitlager, doch oft "wird die Durchreise zum Dauerzustand, zu einem Gefühl der Gefangenschaft, das sich still immer tiefer in die Knochen und noch tiefer in die Seelen gräbt". Daneben steht Durs Grünbeins Dankesrede für den Samuel-Linde-Preis, der man neben der Beteuerung, dass sein "Verständnis für Polens bedrängnisvolle Geschichte sich vor allem seinen Dichtern verdankt", vor allem Banalitäten entnimmt. Und Volker Brauns moderne Version von "Michael Kohlhaas", die Geschichte eines Mannes, dessen Leben durch den Klau seines Landrovers im deutsch-polnischen Grenzgebiet ruiniert wird, strotzt auch nicht gerade vor Originalität.

Der eindrucksvollste Text des Bandes stammt von Wojciech Tochman. Er handelt vom Massenmord in Ruanda, dessen grausamsten Teil, das Massaker an den Kindern, Tochman mit gnadenloser Präzision protokolliert: "Fidele Ingabire, neun Jahre, Kopfschuss. Ariane Umutoni, vier Jahre, Messer ins Auge. Filette Uwase, zwei Jahre, gegen die Wand geschmettert." Parallel dazu schildert er die Reaktionen des Publikums bei einer Lesung in einem nordeuropäischen Land. Manche sind von seiner Reportage entzückt, manche erstaunt. Die Tragödie der Tutsi liegt für sie weit weg - wie die Erlebnisse der osteuropäischen Holocaust-Überlebenden für die Amerikaner. Wie das Drama afrikanischer Flüchtlinge für uns alle. "Das wahre Ende des Krieges liegt vor seinem Anfang" ist eine schöne deutsch-polnische Illusion, ein gutgemeintes, doch, wie Volker Braun sein darin auch enthaltenes Gedicht überschrieben hat, "trügliches Zeichen".

MARTA KIJOWSKA

Stephan Stroux (Hrsg.): "Das wahre Ende des Krieges liegt vor seinem Anfang".

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Aus dem Deutschen von Jakub Ekier. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 389 S., br., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Marta Kijowska stellt bei der Lektüre der deutsch-polnischen Anthologie fest, dass der Zweite Weltkrieg nicht den alleinigen, aber immer noch einen wichtigen Bezugspunkt deutsch-polnischer Beziehung darstellt. Vier der zehn Texte, die von fünf polnischen und fünf deutschen Autoren verfasst wurden, beziehen sich auf diese Zeit, daneben wird aber auch vom Völkermord in Ruanda oder aus einem griechischen Flüchtlingslager oder einer deutschen Großstadt erzählt, stellt sie fest. Der überwiegende Teil des Bandes scheint ihr gefallen zu haben, sie hebt sieben Geschichten positiv hervor. Nur Durs Grünbeins enthaltene Dankesrede für den Samuel-Lind-Preis und Volker Brauns Geschichte um einen Mann, dem im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen der Landrover gestohlen wird, wirft sie "Banalität" oder fehlende Originalität vor. Als beeindruckendsten Text des ganzen Bandes aber hebt sie Wojciech Tochmans Essay über den Massenmord in Ruanda heraus, der nicht nur in grausamer Genauigkeit die Gräueltaten festhält, sondern auch die erschütternden weil indifferenten Reaktionen eines nordeuropäischen Publikums bei einer Lesung.

© Perlentaucher Medien GmbH