Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 72,00 €
  • Gebundenes Buch

Das moderne Strafrecht soll auf eine komplexer gewordene Wirklichkeit reagieren. Ihm wird jedoch attestiert, diesem Anspruch nicht zu genügen und in einer Steuerungskrise zu stecken. Als Ausweg rückt nun die "Prozeduralisierung" des Rechts in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion. Dieser Begriff steht für die verfahrensförmige Flexibilisierung des Rechts z.B. in zeitlicher und struktureller Hinsicht. In der Prozeduralisierung wird ein "Paradigmenwechsel" gesehen, der zu "neuen Weichenstellungen" in der Steuerung durch Recht führen kann. Vor diesem Hintergrund wird in der neuen…mehr

Produktbeschreibung
Das moderne Strafrecht soll auf eine komplexer gewordene Wirklichkeit reagieren. Ihm wird jedoch attestiert, diesem Anspruch nicht zu genügen und in einer Steuerungskrise zu stecken. Als Ausweg rückt nun die "Prozeduralisierung" des Rechts in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion.
Dieser Begriff steht für die verfahrensförmige Flexibilisierung des Rechts z.B. in zeitlicher und struktureller Hinsicht. In der Prozeduralisierung wird ein "Paradigmenwechsel" gesehen, der zu "neuen Weichenstellungen" in der Steuerung durch Recht führen kann.
Vor diesem Hintergrund wird in der neuen Studie erstmals das Konzept vom prozeduralen Strafrecht grundlegend entfaltet.
Der Autor untersucht, ob im Strafrecht Strukturen eines prozeduralisierten Rechts erkennbar sind. Mit Rücksicht darauf wird das prozedurale Instrumentarium bewertet und zu einer eigenen Steuerungsarchitektur verdichtet. Schließlich wird die prozedurale Programmierung des Strafrechts vom Zweck- und Risikostrafrecht abgegrenzt.
Autorenporträt
Der Autor, geb. 1972, absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft mit strafrechtlicher Schwerpunktausbildung und ist derzeit als Rechtsreferendar tätig. 1998 wurde er mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung/Hamburg ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2011

Ein gefährliches, ja frivoles Spiel

Wie weit reicht die normative Kraft der Rechtssoziologie? Andreas Eicker hat die Steuerung von Gesellschaft im Blick, wenn er fragt, wie sich das Strafrecht noch weiter flexibilisieren lässt.

Feindliche Brüder können einander behilflich sein. Der eine kann am andern seine Eigenart verstehen, sein Profil schärfen oder verwischen, sich in seiner Gegenwart orientieren und sich auf seine Zukunft einstellen.

Andreas Eicker, Strafrechtsprofessor an der Universität Luzern, stellt uns in seiner grundsoliden, umsichtigen und phantasievollen Berner Habilitationsschrift zwei feindliche Brüder vor. Sie gehören zur Familie des Strafrechts. Der ältere hat sich strengen Lebensregeln verschrieben und bezieht aus diesem Gehorsam seine Kraft und seine Würde, der jüngere ist dabei, diese Regeln aufzulösen; sein Banner sind Beweglichkeit und Effizienz. Trügen sie gelehrte Etiketten, so läsen wir beim einen "Formalisierung" und beim anderen "Prozeduralisierung". Dieses Buch ist die Lebensgeschichte des jüngeren Bruders, angereichert mit Voraussagen seiner Zukunft.

Man reibt sich die Augen: Im Strafrecht scheint "Prozeduralisierung" so fehl am Platze wie nirgendwo sonst. Sind nicht gerade die formalisierenden Instrumente, die starre Unbeweglichkeit, die blinde Bindung an Regeln, die ausnahmslose Prinzipienstrenge, Voraussetzungen dafür, dass eine grundrechtssensible Gesellschaft mit einer Einrichtung wie dem Strafrecht leben kann? Haben wir entformalisierte Strafrechtsordnungen nicht mühsam hinter uns gelassen, die der jeweiligen Politik die scharfen Waffen dieses Rechts angedient haben bis hin zur öffentlichen Verurteilung Unschuldiger und zur Todesstrafe? Fährt uns nicht immer noch der Schrecken in die Knochen, wenn in unserer Umgebung ein flexibles Strafrecht den kulturellen Furor einer Gesellschaft noch zuspitzt durch Redeverbote oder Steinigung? Ist die Formalisierung des Strafrechts in einem Rechtsstaat nicht ebenso wichtig wie die Neutralität des Staates gegenüber jedweder Religion? Gehören also die formalisierenden Gebote des Grundgesetzes, das Strafrecht nicht rückwirkend anzuwenden und es so genau wie möglich ins Gesetz zu schreiben, auch wenn das für die praktische Anwendung bisweilen hinderlich oder absurd ist, zum Eingemachten eines anständigen Strafrechts? Hat das nicht zur Folge, dass das Nachdenken über eine Prozeduralisierung des Strafrechts zum gefährlichen, ja zum frivolen Spiel werden kann?

Ich bin überzeugt, dass alles richtig ist, worauf diese Fragen zielen. Es ist aber nicht alles. Wer glaubt, der ältere Bruder sei der einzige in der Familie, kennt die Familie nicht wirklich. Das Buch kann ihm die Augen dafür öffnen, dass Prozeduralisierung nicht erst seit heute ein Kennzeichen auch des Strafrechts ist, dass wir zeitlich und sachlich flexibilisiertes Recht nicht nur bei Planung, Wirtschaft und Umwelt antreffen, sondern auch bei Verbrechen und Strafe, und dass die Beschränkung strafrechtlicher Anweisungen auf Zielvorgaben und selbstregulatorische Prozesse oder dass der Erlass zeitlich begrenzter Regelungen moderne Kriminalpolitik sein kann.

Jedenfalls in unseren Tagen ist Strafrecht nicht mehr die stoische Antwort auf das Verbrechen, sucht es seine Rechtfertigung nicht mehr nur in der gleichmäßigen Vergeltung von Unrecht und Schuld, sondern beruft sich auch auf seine Kraft, die Welt zu verbessern: den Straftäter in die Gesellschaft zurückzuführen, uns alle vom Verbrechen abzuhalten und die Geltung unserer fundamentalen Normen langfristig zu bewahren.

Das ist Prävention. Sie beherrscht unser Denken von der Gesundheit über den Reiseverkehr bis zum Klimawandel; sie verordnet uns Erfolgskontrolle und schickt uns im Strafrecht auf die Suche nach geeigneten Prozeduren jenseits von Strafdrohung und Bestrafung. Prozeduralisierung des Strafrechts kommt heute in mannigfacher Einkleidung daher, und bisweilen muss man überlegen und streiten, ob man nicht statt ihrer einfach ein zu nachlässig, ein zu offen formuliertes Strafgesetz vor sich hat. Viele Konstellationen freilich sind klar: Dass man Grundrechte auch durch Verfahren schützen kann, hat sich herumgesprochen. Dass ein kluger Gesetzgeber nicht nur auf Strafdrohungen setzt, sondern auch auf Prozeduren, die es darauf anlegen, die mögliche Verletzerin eines Rechtsguts zur Verbündeten des Rechtsgüterschutzes zu machen, war die Logik der "Beratungslösung" im Strafrecht der Abtreibung. Dass, etwa beim strafrechtlichen Schutz des Sterbenden, die Balance von Leben und Autonomie weniger durch Gesetzestexte als durch Vertrauen und Erfahrung gesichert werden kann, wird vielen einleuchten.

Aber Vorsicht: Prozeduralisierung ist ein süßes Gift; sie fordert Ausdehnung ihrer gutgemeinten Hilfen und fördert damit eine Auflösung strafrechtlicher Fesseln. Der jüngere Bruder macht sich breit. Das beginnt beim Strafgesetz, wonach der Richter bei der Strafbemessung die Wirkungen für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu berücksichtigen hat. Das setzt sich fort bei der Beteiligung von Banken an der Verhinderung und Aufdeckung von Geldwäsche. Das führt am Ende dazu, dass - im modernen "Sicherheitsstrafrecht" - strafrechtliche Verbote weit im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung ansetzen, dass an Stelle der "Tat" das "Risiko" in den strafrechtlichen Fokus rückt, dass ein gedehntes Strafrecht nur noch symbolisch wirken kann, weil es bedeutend mehr "Vollzugsdefizite" hat als Treffer, oder dass wir heute diskutieren müssen, ob wir ein "Feindstrafrecht" neben unserem alten "Bürgerstrafrecht" einrichten sollten. Das kommt davon, dass man in Zeiten von Unsicherheit vom Strafrecht mehr erwartet, als es leisten kann, und dass man die Schärfe seiner Instrumente nicht in Rechnung stellt.

Eicker buchstabiert das alles durch. Der glitzernde Gegenstand liegt bei ihm in guten Händen. Er urteilt klar, überlegt, mit weitem Blick und auf breiter literarischer Basis. Nur: Die Idee von einem "Paradigmenwechsel", die auch den Einschätzungen dieses Buchs zugrunde liegt und es bis in den Untertitel geschafft hat, leuchtet mir nicht ein. Wir haben es hier nicht mit einer wissenschaftlichen Revolution zu tun, wie sie die Lehre vom Paradigmenwechsel weiland beschrieben hat; hier geht es um Recht, Politik und Gesellschaft. Vor allem aber verbindet sich mit diesem Konzept der falsche Wegweiser; ein Paradigmenwechsel des Strafrechts hin zu einer Prozeduralisierung wäre verhängnisvoll. Nein: Beide Brüder müssen als Brüder überleben, denn nur gemeinsam sind sie erträglich. Der jüngere darf den älteren nicht überwinden und verjagen, und allein auf den jüngeren dürfen wir niemals setzen. Nur ganz selten und nach genauer Prüfung sollten wir auf ihn hören - in einer formalisierten Strafrechtsordnung mit klaren Abmessungen.

WINFRIED HASSEMER.

Andreas Eicker: "Die Prozeduralisierung des Strafrechts". Zur Entstehung, Bedeutung und Zukunft eines Paradigmenwechsels.

Nomos in Gemeinschaft mit Stämpfli Verlag, Bern, u. Linde Verlag, Wien 2010. 432 S., geb., 85,40 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Vorsicht ist geboten laut Wilnried Hassemer, der uns das formalisierte und das prozeduralisierte Strafrecht als zwei vielfach von einander abhängige Brüder vorstellt. Vorsicht, wenn wir meinen, der eine Bruder käme ohne den anderen aus. Dafür, dass ein solch ausgewogenes Rechtsverständnis wirksam ist und bleibt, scheint ihm Andreas Eickers Habilitationsschrift eine gute Basis zu sein. Grundsolide und fantasievoll zugleich, auf breiter Materialbasis setzt ihm der Strafrechtsprofessor die Verhältnisse auseinander. Nur: einen Paradigmenwechsel hin zur Prozedualisierung, wie ihn der Autor heraufziehen sieht, möchte Hassemer eben gerade nicht erkennen noch wollen.

© Perlentaucher Medien GmbH