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Verfassungen haben eine symbolische Funktion. In sorgfältig konzipierten Prachtausgaben eines Grundgesetzes kommt diese Symbolik besonders zum Ausdruck - ihre Gestaltung verrät viel über die Natur und Ideologie des gegebenen Regimes. °°Unter diesem Gesichtspunkt vergleicht László Sólyom, Verfassungsrechtler und ehemaliger Staatspräsident Ungarns, das deutsche Grundgesetz und das neue Grundgesetz Ungarns. Während die deutsche Grundgesetz-Ausgabe in ihrer Schlichtheit den Bruch mit der Vergangenheit ausdrückt und durch den puren Gesetzestext die Herrschaft des Rechts betont, ist die ungarische…mehr

Produktbeschreibung
Verfassungen haben eine symbolische Funktion. In sorgfältig konzipierten Prachtausgaben eines Grundgesetzes kommt diese Symbolik besonders zum Ausdruck - ihre Gestaltung verrät viel über die Natur und Ideologie des gegebenen Regimes. °°Unter diesem Gesichtspunkt vergleicht László Sólyom, Verfassungsrechtler und ehemaliger Staatspräsident Ungarns, das deutsche Grundgesetz und das neue Grundgesetz Ungarns. Während die deutsche Grundgesetz-Ausgabe in ihrer Schlichtheit den Bruch mit der Vergangenheit ausdrückt und durch den puren Gesetzestext die Herrschaft des Rechts betont, ist die ungarische Prachtausgabe ein historisches Bilderbuch, das vor allem auf die Weckung von Nationalstolz zielt, und in dem der Text des höchsten Gesetzes des Landes eine Nebenrolle spielt. Obwohl das ungarische Grundgesetz seitdem ziemlich umfangreich geändert wurde, wird zu seiner Popularisierung weiterhin die originale Prachtausgabe gedruckt und verteilt. Die mit dieser Ausgabe angestrebte Symbolwerdung der Verfassung scheitert also, die Prachtausgabe ist nun höchstens das Symbol der symbolschaffenden Absicht.°°
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2017

Künstliche Symbolik und unfreiwillige Komik
Viktor Orbáns nationale Sendung: László Sólyom hält das ungarische neben das deutsche Grundgesetz

László Sólyom mag das ungarische Grundgesetz nicht. Er findet es konfus und einseitig, sein Zustandekommen unzulänglich legitimiert, seine historischen Bezüge schräg und seine Präsentation schwülstig. Um das vor Augen zu führen, vergleicht der frühere ungarische Verfassungsgerichtspräsident und Staatspräsident die unter Ministerpräsident Viktor Orbán angenommene Verfassung mit dem deutschen Grundgesetz. Der Vergleich soll zeigen: hier künstliche Symbolik, dort echte Neuerung, hier Pomp und unfreiwillige Komik, dort Geschmack und sachliche Klarheit.

Dass Orbáns national-konservative Fidesz-Partei nach dem Wahlsieg 2010 ihre parlamentarische Zweidrittelmehrheit dazu verwendete, eine neue Verfassung zu beschließen, war Sólyom zufolge eigentlich überflüssig. Schließlich sei bereits die "provisorische" Verfassung, die 1989 am Runden Tisch dem noch kommunistisch beherrschten Parlament abgerungen wurde, die rechtsstaatliche Revolution gewesen.

Man hat damals, darauf weist Sólyom hin, nur deshalb darauf verzichtet, förmlich eine neue Verfassung in Kraft zu setzen, weil man diesen Akt dem noch nicht frei gewählten Parlament nicht zubilligen mochte. Das war ein guter Grund, das Dumme war nur: Nach den ersten freien Wahlen fand sich nie wieder ein so breiter Konsens, wie er für eine neue Verfassungsgebung notwendig gewesen wäre. Es blieb bei dem entkernten und demokratisch wieder aufgefüllten, formal aber alten Dokument; und damit hatte die ungarische Verfassung einen sozusagen ästhetischen Makel. Viktor Orbán konnte ihr deshalb den Stempel einer eigentlich immer noch "stalinistischen" Verfassung aufdrücken. Seine Zweidrittelmehrheit war die erste politisch verwertbare Gelegenheit, den alten Vorsatz, Ungarn eine wirklich neue Verfassung zu geben, in die Tat umzusetzen.

Orbán hat seine Wahl von 2010 zu einer "Revolution in den Wahlkabinen" stilisiert. Mit ihr sei die Fremdherrschaft, die seit dem Einmarsch der Wehrmacht 1944 und dann der Roten Armee bestand, erst wirklich abgeschüttelt worden. Diese Erzählung hat die Regierung Orbán in mancher Weise ausgestaltet, in Reden, Denkmälern und eben auch in der Verfassung. Sie läuft auf eine bewusste Delegitimierung von zwanzig Jahren Demokratie hinaus, in denen übrigens nicht nur die "Kommunisten" - wie Orbán bis zum heutigen Tag die ungarische Linke gern qualifiziert - regierten, sondern acht Jahre auch die Rechte.

Aber die Fidesz-Leute verweisen darauf, und das gar nicht einmal zu Unrecht, dass vielfach die alten Eliten in Wirtschaft und Verwaltung, Medien und Justiz weiter an den Schalthebeln saßen. Auf diese Positionen zielte eigentlich Orbáns "Revolution". Und daher rührt auch die Erbitterung seiner Gegner, die von Anfang an gepflegt wurde, und viele haben dann tatsächlich ihre Jobs verloren. War dieser brachiale Austausch legitim? Und selbst wenn, stellte er nicht ein Einfallstor für ein neues Feudalsystem mit Hang zur Korruption dar? Das wäre eine eigene Betrachtung wert.

Orbáns Partei Fidesz, schreibt Sólyom, versprach "das ausgefallene Gemeinschaftserlebnis der Verfassungsgebung und als dessen Ergebnis eine neue, von allen respektierte, zum nationalen Symbol werdende Verfassung". Was stattdessen kam, skizziert der Autor formal sachlich. Nur manchmal springt der zwischen den Zeilen steckende Sarkasmus offen heraus. Er erzählt, wie eine Kommission aus allen Fraktionen ins Leben gerufen und dann links liegen gelassen wurde. Wie der Text stattdessen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschrieben und ohne große Anteilnahme durchs Parlament gebracht wurde. Wie die fehlende Beteiligung der Öffentlichkeit durch eine von oben verordnete Massenverbreitung und Auslage in allen Ämtern ersetzt wurde.

Besonders liebevoll boshaft geht der Autor auf die mit historisierenden Bildern des neunzehnten Jahrhunderts angereicherte Prachtausgabe ein, die Abiturienten erhalten. Die Illustrationen passen manchmal zum daneben stehenden Text wie die Faust aufs Auge. "Ein Gemälde zeigt zwei Magnaten, die 1671 wegen Hochverrats zum Tode durch Enthauptung verurteilt wurden und nun, sich grämend, auf ihre Hinrichtung warten. Auf der Gegenseite steht die Verfassungsbestimmung über die Zwangspensionierung der Richter, demnach sie mit 62 statt wie früher mit 70 in Rente gehen müssen. Dies kam einer Enthauptung des Richterstands gleich."

Dieser ungarischen Variante eines Gelsenkirchener Verfassungsbarocks stellt Sólyom den Bauhausstil des deutschen Grundgesetzes gegenüber, symbolisiert durch den Unterzeichnungsort, die Pädagogische Akademie Bonn. Mag sein, dass das Bauhaus ein gutes Symbol für das Grundgesetz ist, das übrigens ausdrücklich als Provisorium gedacht war. Der Unterzeichnungsort ergab sich aber aus schlichten Notwendigkeiten im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Man musste nehmen, was heil war. Und offensichtlich wollte man nicht wieder im Museum Koenig die ausgestopften Giraffen verhängen müssen wie bei der Eröffnung des Parlamentarischen Rates.

László Sólyom war nicht ein Parteigänger der Post-Wende-Sozialisten. Der Staatsrechtslehrer, der während der kommunistischen Zeit an der Budapester Lórand-Eötvös-Universität eine Professur innehatte, kam über das konservative MDF in die Post-Wende-Politik. Er ist auch deshalb ein glaubwürdiger Kritiker Orbáns. Sein Büchlein steckt voll interner Kenntnisse und Beobachtungen. Unbefangen ist er aber nicht, wenn es um die von ihm wesentlich mitgestaltete alte Verfassung geht, und auch nicht mit Blick auf seinen glücklosen Nachfolger als Präsidenten des Verfassungsgerichts. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte seine Kritik in die Gestalt eines offenen Pamphlets gekleidet statt in die Form eines fußnotensatten Traktats.

STEPHAN LÖWENSTEIN

László Sólyom: "Das Gewand des Grundgesetzes". Zwei Verfassungsikonen - Ungarn und Deutschland.

Berliner Wissenschafts-

Verlag, Berlin 2017.

38 S., Abb., br., 14,- [Euro].

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