Produktdetails
  • Verlag: Fest
  • Originaltitel: Alivio de luto
  • Seitenzahl: 225
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 365g
  • ISBN-13: 9783828601048
  • ISBN-10: 3828601049
  • Artikelnr.: 24153130
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2001

Kistenweise Dosenbier
Mario Delgado Alparaín unterwandert Uruguays Militärdiktatur

Daß über schlimme Diktaturen nicht mit Witz geschrieben werden dürfe und in Lateinamerika auch nicht geschrieben werde, ist ein frommes Vorurteil. Neuerdings scheint ihm auch Mario Vargas Llosa aufgesessen: Den großartigen "Herbst des Patriarchen" von Gabriel García Márquez hat er unlängst in einem Interview als Karikatur abqualifiziert. Damit hat sich der Peruaner von einer langen Tradition losgesagt. Die großen Meister des Diktatorenromans von Asturias bis zu Roa Bastos, aber auch noch der junge Vargas Llosa, hatten aus dem tragisch Irrwitzigen und barock Bizarren despotischer Herrschaft in den Tropen einige der brillantesten Funken des "magischen Realismus" geschlagen und noch den ärgsten Fratzen des Grauens komische Züge abgewonnen. In Vargas Llosas gefeiertem Historiengemälde der Trujillo-Diktatur ist diese Dimension dagegen ganz untergegangen.

Anders liegt der Fall des neuen Romans von Mario Delgado Alparaín, eines 1949 geborenen Uruguayers, der während der Militärdiktatur von 1973 bis 1984 im inneren Exil der uruguayischen und argentinischen Provinz gelebt hat. Die Retrospektive auf die langen Jahre der Verfolgung, für die Alparaín den Alfaguara-Preis erhalten hat, lebt nicht von der Komik der Täter, sondern - unter anderem - vom Humor der Opfer.

Dieser Humor mußte, mit den Worten des chilenischen Autors Luis Sepúlveda, erst "aus den Verliesen der Diktatur geborgen" werden. Dennoch hat Alparaín den Schmerzensschrei und den Aufschrei des Protests nicht mit draller Witzigkeit übertönt: "Februarmond" ist, anders als der vor fünf Jahren auf deutsch erschienene Erstlingsroman "Die Ballade von Johnny Sosa", ein in erster Linie melancholisches Buch. Sein Rhythmus wird mehr durch den unberechenbaren Gang der Katze Erinnerung vorgegeben als durch die wilden Tigersprünge des "wunderbaren Wirklichen". Im Original trägt es den Titel "Alivio de luto", "Halbtrauer", und es handelt von der Trauer und dem einsamen Widerstand eines Einzelgängers aus der Provinz.

Alparaíns Stil zeugt davon, daß ihm das Urvertrauen in die Erfahrungsfülle einer phantasmagorisch dichten Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Für seine Erzählphantasie nämlich standen zwei Erfahrungen der Leere Pate: das halluzinatorische schwarze Loch, das die "Verschwundenen" ins Bewußtsein der Hinterbliebenen gerissen haben, und das Sinnvakuum, das sich nach Öffnung der Lager- und Gefängnistore für die Insassen aufgetan hat. Sie haben dem Autor andere literarische Ahnen nahegelegt als Faulkner oder die Manifeste des Surrealismus. Wohl nicht zufällig heißt sein weltlos-spargeliger Held Gregorio: Wahrscheinlich hätte er ihn wie Gregor Samsa in ein Insekt verwandelt - wenn der Lauf der Dinge in Südamerika nicht doch immer auch ein Einfallstor fürs Unverhoffte offenhielte.

Zunächst begegnet uns Gregorio Esnal als viellesender Mittdreißiger, der noch immer bei der Mutter lebt, als Taugenichts, halb Widergänger Oblomows, halb anrüchige Hybridgestalt wie Macunaíma, Andrades Held ohne Charakter. Offenbar hatte Alparaín so etwas wie eine uruguayische Variante des Intellektuellen als Paria im Sinn.

Obwohl es keinen Ich-Erzähler gibt, gewinnen alle anderen Personen nur durch diese blutleere, aber von den ersten Seiten an wie eine Legende schillernde Hauptfigur Kontur. Selbst von den Sturmböen der Weltgeschichte - vom Massaker in My Tho bis hin zu "sittenwidrigen Hungersnöten der Indios" - vernimmt man kaum mehr als einen fernen traumatischen Nachhall in den Schrunden dieser eigensinnig-empfindsamen Seele.

Bis diese Böen eines Tages - als nämlich der Freund Milo Striga verschwindet und kurz darauf die Todesmeldung eintrifft - den Damm Gregorios brechen und das Psychodrama einer sechsmonatigen schweren Depression entfesseln. Alparaíns leicht anverwandelnder und doch ironisch gebrochener Erzählton, in dem sich exzentrisch-schrille (vom Übersetzer präzise getroffene) Sprachbilder aus der Lexik des Borderline-Phänotyps und nachdenklich-melancholische Szenen von beklemmender Schönheit glücklich die Waage halten, läßt uns an den sukzessiven Stadien dieser Depression intim Anteil nehmen.

Als Voyeure der erlebten Rede wohnen wir wie durchs Schlüsselloch einem in den eigenen vier Wänden verbarrikadierten und nackt in seine schmutzigen Laken gewickelten Wahlaussätzigen in seinen Anwandlungen eines Scheintoten bei. Wie er sich mit Kisten von Dosenbier betäubt oder scheinbar wahllos in historischer oder prähistorischer Lektüre vergräbt - aber auch sein gnadenloser Gottfried-Benn-Blick auf den eigenen Körper und die abergläubische Hingabe an die Stimme des Radiosprechers als nie verstummender Kassandra eines wüsten Weltgeists: Es sind Episoden und Motive aus der Geschichte der münchhausengleichen Mimikry, mit der lateinamerikanische Intellektuelle in düsteren Zeiten sich über Wasser zu halten gelernt haben und die Alparaín hier im Stil einer traurig-komischen Arabeske erzählt.

Dennoch spielt sich unterm schwarzen Schatten Saturns schwerlich ein Schelmenroman ab. Der kann sinnvollerweise nicht einsetzen, bevor nicht wenigstens, einem alten Brauch gemäß, zum gedeckten Rot der gemilderten Trauer (der "Halbtrauer") übergegangen werden darf. Als echter Pícaro outet sich Esnal also erst, nachdem er darüber ins Bild gesetzt worden ist, daß Milo nicht tot ist, sondern nur eingelocht - nun kann er seine eingemottete Jakobinermütze des gestrandeten Moralisten gegen die taktische Narrenkappe eines donquixottesken Kämpfers wider das Vergessen eintauschen. Zu schön ist die Idee - eine List der Phantasie -, auf die er in der respektiven abenteuerlichen Geschichte von der Ehrenrettung der Striga-Sippe verfällt, um hier preisgegeben zu werden. Und natürlich zu dreist, als daß der Autor es vermeiden könnte, ihn dem Freunde in den Knast auf dem Fuße folgen zu lassen.

Da freilich der Intellektuelle, nicht der Arbeiter Alparaíns Hoffnungsfigur ist, gelingt es Esnal, dank seinen Einsamkeitsexerzitien, auch hier wiederum als einzigem, eine Brücke zur Freiheit zu schlagen. Womit uns diese denkwürdige Gefühlserziehung indes, auch nach Amnestie und politischer Öffnung, mitnichten ein glückliches Ende beschert - sondern nur wieder eine weitere Metamorphose mit offenem Ausgang. Wird die vakante Stelle des Diktatorenromans also neuerdings vom satirischen Künstler- und Bildungsroman besetzt? Man dürfte es jedenfalls begrüßen.

HANNO ZICKGRAF

Mario Delgado Alparaín: "Februarmond". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Enno Petermann. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 226 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Hanno Zickgraf klingt zufrieden. Er ordnet das Buch im weitesten Sinn dem Genre "komischer Diktatorenroman" zu, dem er eigentlich nicht viel abgewinnen kann. Allerdings stellt dieser Roman für den Rezensenten insofern einen Quantensprung dar, als er nicht "von der Komik der Täter", sondern "vom Humor der Opfer" lebt. Dennoch habe Alparaín den "Schmerzensschrei und den Aufschrei des Protests" nicht mit "draller Witzigkeit" übertönt. In erster Linie fand Zickgraf die Geschichte vom viellesenden Mitdreißiger, den der Mord an einem Freund in eine sechsmonatige Depression (und wohl auch in die Realität der Diktatur) stürzt, melancholisch. Den Ton, in dem die Geschichte erzählt wird, findet er "leicht anverwandelnd und doch ironisch gebrochen". Exzentrisch-schrille Sprachbilder halten sich seiner Meinung nach mit nachdenklich-melancholischen Szenen von "beklemmender Schönheit" die Wage. In diesem Zusammenhang wird auch die Übersetzung als "präzise" gelobt. Als "satirischer Künstler- und Bildungsroman" besetze der Roman die "vakante Stelle des Diktatorenromans" neu.

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