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Was ist Wahnsinn? Wie wurden Geisteskrankheiten im Lauf der Zeit wahrgenommen? Welche Behandlungsmethoden wurden angewandt? Edward Sorters beantowrtet diese Fragen auf ebenso spannende wie anschauliche Weise. Von ihren Anfängen in den finsteren Verliesen des 18. Jahrhunderts über die humaneren Anstalten des 19. Jahrhunderts bis hin zu den diskret verborgenen Sanatorien unserer Tage verfolgt er die Entwicklung der Psychatrie - und legt damit eine faszinierende Kulturgeschichte der menschlichen Seele vor.

Produktbeschreibung
Was ist Wahnsinn? Wie wurden Geisteskrankheiten im Lauf der Zeit wahrgenommen? Welche Behandlungsmethoden wurden angewandt? Edward Sorters beantowrtet diese Fragen auf ebenso spannende wie anschauliche Weise. Von ihren Anfängen in den finsteren Verliesen des 18. Jahrhunderts über die humaneren Anstalten des 19. Jahrhunderts bis hin zu den diskret verborgenen Sanatorien unserer Tage verfolgt er die Entwicklung der Psychatrie - und legt damit eine faszinierende Kulturgeschichte der menschlichen Seele vor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2000

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie Foucault
Pillen machen vernünftig: Bei Edward Shorter hat der Psychiater für alles eine Medizin

Schon 1890 stellte Theodor Kirchhoff in seinem "Grundriß einer Geschichte der deutschen Irrenpflege" fest, dass die Psychiatriegeschichte ein bedeutendes "Licht auf die Culturgeschichte der Menschheit wirft". Es ist das Licht aufblitzender Schwerter, denn die Psychiatriegeschichtsschreibung ist einer der umstrittensten Schauplätze, auf denen der Kampf um das vorherrschende Menschenbild ausgefochten wird. Im Zweikampf zwischen dem Psychiater und seinem Patienten steht nicht weniger auf dem Spiel als die Frage, ob die Vernunft den Sieg über die Geschichte davontragen wird oder umgekehrt. Daher erklärt sich die allegorische Anziehungskraft der Psychiatriegeschichte für die Kulturgeschichte der Menschheit, die sich noch dort ex negativo niederschlägt, wo die anonymen Verwaltungsstrukturen des psychiatrischen Apparates an die Stelle der personifizierten Vernunft in der Gestalt des Anstaltsdirektors getreten sind.

Gleich eine doppelte Kriegserklärung hat der kanadische Medizinhistoriker Edward Shorter mit seiner "Geschichte der Psychiatrie" vorgelegt: Sie ist antipsychoanalytisch und antiantipsychiatrisch. Ihre erklärten Gegner sind Henry F. Ellenberger und Michel Foucault. Allerdings gleicht Shorters Herausforderung zum Duell der Geste, dem Gegner den Fehdehandschuh hinzuwerfen und ihn im selben Augenblick für nicht satisfaktionsfähig zu erklären, hält Shorter doch die Argumente der Psychiatriegeschichten von Ellenberger (1970) und Foucault (1961) im Einzelnen für kaum der Prüfung wert, ja er kennt weder Foucaults Selbstkritik in der "Archäologie des Wissens", "Wahnsinn und Gesellschaft" allzu romantisch als tragische Selbstverkennungsgeschichte der Vernunft geschrieben zu haben, noch wichtige psychiatriehistorische Studien Foucaults wie "Macht-Wissen" von 1975.

Shorter schreibt seine Psychiatriegeschichte im Gegensatz zu Foucault nicht als Geschichte einer Ausgrenzungsgeste, durch die sich die Vernunft ihrer Selbstmächtigkeit versichert, indem sie ihr Anderes wissenschaftlich und administrativ objektiviert und vergegenständlicht, sondern als Geschichte der zunehmenden Integration von Geisteskranken, die vorübergehend nicht Herr ihrer selbst sind und durch ihre zusehends angemessenere, endlich psychopharmakologische Behandlung wieder als funktionstüchtig in die Gesellschaft eingegliedert werden. Folgerichtig setzt Shorters Darstellung erst mit der Medizinisierung der Asyle im neunzehnten Jahrhundert ein, die die reinen Verwahranstalten ablösten.

Dabei sieht Shorter die Geschichte der Psychiatrie gänzlich vom Widerstreit zweier Richtungen geprägt, der neurowissenschaftlichen, "biologischen Psychiatrie" auf der einen und der dynamischen, "biopsychosozialen Psychiatrie" auf der anderen Seite. Schon in Shorters Wahl der Bezeichnungen trägt jene den Sieg über diese davon. Diesem Widerstreit übergeordnete Fragestellungen - etwa wie verschiedene historisch sich wandelnde Normalitätskonzepte in der Psychiatrie sich zueinander verhalten - werden nicht berücksichtigt. Das trägt zwar zur Gradlinigkeit und zum zügigen Tempo der Darstellung bei; als bloße Kadenz von Fortschritten und Rückschlägen der biologischen Psychiatrie, die von der Befreiung der Irren aus den Ketten, ihrer "moralischen" oder "Gemütsbehandlung", über den Widerstreit zwischen den "Psychikern" und "Somatikern" schließlich zur Psychopharmakologie führt, nimmt sich ihre Geschichte aber doch arg monoton aus.

"Fritz, du hast mit zwei Pillen die psychodynamische Festung zerstört, an deren Bau ich fünfzig Jahre gearbeitet habe", soll Ludwig Binswanger, Begründer der Daseinsanalyse, zum jungen Psychiater Fritz Flügel gesagt haben, als dieser erfolgreich einen psychisch erkrankten Verwandten von Binswanger pharmakologisch behandelt hatte. Dass Binswangers Kreuzlinger Klinik Bellevue 1980 ihre Tore schließen musste, führt Shorter als Indiz für die unaufhaltsame Erfolgsgeschichte der Psychopharmakologie an. Die Vernunftgläubigkeit, mit der diese Erfolgsgeschichte gepriesen wird, zeigt sich geschichtsblind für die Instrumentalisierbarkeit der Psychiatrie im Dienst der Politik. Die nationalsozialistische Euthanasie fasst er in einem einzigen Absatz zusammen, dem bezeichnenderweise ein zweiter folgt, in dem der Psychiatriehistoriker seinem Bedauern darüber Ausdruck gibt, dass durch die von der Eugenik nahe gelegte Verwechslung von Degeneration und Erblichkeit "die Diskussion über eine genetische Psychiatrie in der zivilisierten Welt jahrzehntelang" tabuisiert worden sei.

Den äußersten Gegenpol zu Shorters Psychiatriegeschichte bildet das - von ihm trotz seiner bewunderungswürdigen polyglotten Belesenheit in der angloamerikanischen, deutschen, französischen und italienischen Psychiatriegeschichtsschreibung nicht berücksichtigte - Buch von Robert Castel über "Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens" (1976, dt. Übers. 1983). In dieser Darstellung beschränkt sich das Herrschaftswissen der Psychiatrie vor ihrer Medizinisierung und Professionalisierung darauf, abweichendes Verhalten symptomatologisch zu klassifizieren und durch ihre Behandlungsverfahren die Ordnung wieder herzustellen. Die Medizinisierung selbst erlaubte gleichzeitig, "im Stile eines wilden Kolonialismus" neues Wissen zu sammeln und diese soziale Funktion weiter auszuüben: "Die eigentümliche Zähigkeit des Irrenwesens zu begreifen heißt auch die eisige Poesie seiner Laboratorien-Friedhöfe zu verspüren, wo im Schatten hoher Mauern ein geduldiges Experimentieren am Menschen statthat. Heißt auch zu zeigen, dass es eine Symbolik des Ausschlusses gibt, eine negative Markierung, eine Stigmatisierung, die auf ihre Art ebenso viel eingebracht haben wie die positiven Resozialisierungs- und Heilprogramme, in deren Mantel sie gegangen sind."

Davon will Shorter nichts wissen. "An der Neurosyphilis war absolut nichts gesellschaftlich konstruiert": Mit solchen Brand-Sätzen trägt er die "Science Wars" in die Pschiatriegeschichtsschreibung. Dabei scheint Shorter durchaus ein gemäßigtes Verständnis des Begriffs "soziale Konstruktion" zu teilen, wie ihn der kanadische Wissenschaftshistoriker Ian Hacking umrissen hat, erkennt er doch an, dass "die Art und Weise, wie die Kranken selbst solche Zustände erleben und wie die Gesellschaft sie deutet, durchaus dem Einfluss von Kultur und Konvention unterliegen". Hier hätte man sich zur genaueren Untersuchung dieses Einflusses die Einbeziehung konkreter Fallgeschichten gewünscht.

Doch Shorter möchte mit geradezu purgatorischem Eifer die Psychiatriegeschichte von der Psychoanalyse reinigen. Das jüdische Verhängnis der Psychoanalyse sieht er in der Profilneurose, mit der sich diese - zum Schaden der Patienten - der Psychosen bemächtigen wollte. Doch Gott sei Dank ist die Psychoanalyse im Niedergang begriffen. Die glückliche Assimilation der Juden in den Vereinigten Staaten soll diese in der psychoanalytischen Bewegung überproportional vertretene Volksgruppe endlich von solchen Selbstbestätigungsnöten entbunden haben. Der Rezensent enthält sich der Spekulationen, weshalb sich Shorter zu einer solch extravaganten Argumentation genötigt sieht. Immerhin gibt sich darin zu erkennen, wie politisch seine eigene, vermeintlich objektive Psychiatriegeschichtsschreibung ist.

MARTIN STINGELIN

Edward Shorter: "Geschichte der Psychiatrie". Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999. 592 S., geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Einen ausführlichen und wütenden Verriss hat Ludger Lütkehaus diesem Buch gewidmet, denn ihm zu Folge lässt der Autor weder die Antipsychiatrie der 60er und 70er Jahre noch überhaupt Psychoanalyse oder psychotherapeutisches Arbeiten dieser oder jener Richtung gelten: Freud sei unwissenschaftlich und gefährlich, die Analyse eine jüdische Erfindung für hysterische Jüdinnen. Ein weiterer "Lieblingsgegner" Shorters, so Lütkehaus, ist Foucault; und alle Arten und Abarten feministischer und antikapitalistischer Kritik sind ihm nur noch Hohn und Spott wert. Zwar sind nach Meinung des Autors in den alten Anstalten der Psychiatrie die "maximal invasiven Techniken" - sprich Lobotomie, Insulinkoma, Elektroschocks - auch nicht immer der vernünftigste Umgang mit dem Wahnsinn gewesen, aber durch die "Revolution der zweiten biologischen Psychiatrie", sprich Psychopharmakologie, sind und werden sie längst ersetzt und zusammen mit der hirnphysiologischen Diagnostik daher alle lösbaren Probleme auch lösen. Eine "Festschrift der Psychopharmakologie", empört sich Lütkehaus, der sich selbst durchaus kritisch zu Antipsychiatrie und Psychoanalyse stellt. Warum eine so ausführliche Beschäftigung mit Shorter, wenn sein Buch passagenweise zum reinen "Pamphlet" abgleitet? Offenbar, weil der Autor in ernstzunehmender Weise - bisher jedenfalls - in der Fachliteratur zitiert wird. Man ahnt: er repräsentiert einen Trend des Revisionismus und hätte vom Rezensenten hierzu gerne mehr gehört.

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"Ein Muß für alle, die in irgendeiner Weise an Sozial- und Kulturgeschichte interessiert sind."(Library Journal) "Eine ebenso erhellende wie bilderstürmende Darstellung."(Pubishers Weekly)