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Der Ich-Erzähler, der offenbar wert darauf legt, einem deutschen Stipendiaten der Villa Massimo ähnlich zu sein, berichtet von Rom, von den Ausflügen und Reisen nach Neapel, Apulien und Sizilien. Doch man kann nicht von Tempeln, Kirchen, Fresken und Bildern schwärmen, ohne dass illegale Einwanderer, Prostituierte und Touristen mit in den Blick geraten. Vor dem Hintergrund mythischer Landschaften und antiker Ruinen gewinnen die alltäglich-unalltäglichen Erlebnisse, die Ingo Schulze in diesen Geschichten beschreibt, etwas Exemplarisches und bleiben zugleich vage und ambivalent. Das Heute wird…mehr

Produktbeschreibung
Der Ich-Erzähler, der offenbar wert darauf legt, einem deutschen Stipendiaten der Villa Massimo ähnlich zu sein, berichtet von Rom, von den Ausflügen und Reisen nach Neapel, Apulien und Sizilien. Doch man kann nicht von Tempeln, Kirchen, Fresken und Bildern schwärmen, ohne dass illegale Einwanderer, Prostituierte und Touristen mit in den Blick geraten. Vor dem Hintergrund mythischer Landschaften und antiker Ruinen gewinnen die alltäglich-unalltäglichen Erlebnisse, die Ingo Schulze in diesen Geschichten beschreibt, etwas Exemplarisches und bleiben zugleich vage und ambivalent. Das Heute wird durchlässig für die Schichten der Vergangenheit, auf denen wir uns bewegen. Diese Verknüpfungen gelingen so großartig, dass uns die AS-Roma-Hose, die für eine bessere Behandlung im Krankenhaus sorgt, ebenso in Erinnerung bleiben wird wie ein in Liebe zum Erzähler geratener Oktopus, ein rumänischer Gelegenheitsarbeiter vor dem Supermarkt, der wie in tausendundeiner Nacht fabuliert und doch zum Richter für den Erzähler wird, oder der gegen das Vergessen kämpfende Signor Candy Man, den die Liebe zu einer Frau einst in den Osten geführt hatte. Italienische Skizzen sind auch die Fotografien von Matthias Hoch, der 2003 Stipendiat der Villa Massimo war. Sein Blick auf Italien ist genau und überraschend,doch nie distanziert. Unabhängig voneinander entstanden, führen hier Bild und Text ein Zwiegespräch von spröder Poesie.
Autorenporträt
Schulze, IngoIngo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren. Von 1983 bis 1988 studierte er Klassische Philologie in Jena und arbeitete anschließend als Dramaturg am Landestheater in Altenburg. Im Herbst 1989 verließ Ingo Schulze das Theater, um als politischer Journalist zu arbeiten. 1993 lebte er für ein halbes Jahr in St. Petersburg, wo er half, ein Anzeigenblatt redaktionell aufzubauen. Für sein Debüt »33 Augenblicke des Glücks« erhielt Ingo Schulze 1995 u. a. den Förderpreis des Alfred-Döblin-Wettbewerbs sowie den aspekte-Literaturpreis. Der New Yorker druckte 1997 drei Erzählungen aus dem Band ab - eine Ehre, die unter den deutschsprachigen Autoren zuletzt Max Frisch zukam - und ließ ihn im April 1998 als einen der »Five Best European Young Novelists« von Richard Avedon porträtieren. Für seinen zweiten Erzählband »Simple Storys« erhielt er 1998 den Berliner Literaturpreis. 2001 wurde Ingo Schulze, zu gleichen Teilen mit Thomas Hürlimann und Dieter Wellershoff, der Joseph-Breiten

bach-Preis verliehen. In dem Briefroman »Neue Leben«, in dem er ästhetisch neue Wege geht, erwartet den Leser ein breit angelegtes Panorama des Jahres 1989 und seiner Folgen. »Neue Leben« wurde in die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2006 gewählt. Kulturstaatsminister Bernd Neumann vergab im Juni 2006 an Ingo Schulze das Massimo-Stipendium 2007, das für einen einjährigen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom steht. Im März 2007 erhielt Schulze für seinen Erzählungsband »Handy« den Preis der Leipziger Buchmesse. Mit »Adam und Evelyn« stand er 2008 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ingo Schulze ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2010

Wie hat sich doch jeder Reiz der Fiktion verloren
Ingo Schulzes italienische Skizzen wollen das Glück in der Fremde einfangen – doch sie leihen sich ihr Licht von der nacherzählten Anekdote
Freiheit ist eine Sache der Füße. Das wusste niemand besser als Johann Gottfried Seume, der vor zweihundert Jahren vom sächsischen Grimma aus zu Fuß in den Süden reiste und darüber seinen „Spaziergang nach Syrakus“ verfasste. Sein Motto lautete: „Es ginge alles besser, wenn man mehr g i n g e .“ Ingo Schulze liebt ihn sehr, seinen mitteldeutschen Landsmann Seume, der sich auch von widrigsten Umständen nicht abhalten ließ, seinen Weg, den Fußweg nach Italien, zu nehmen.
Das erste, kürzeste Stück in Ingo Schulzes „Skizzen“ aus Italien, mit dem Rest scheinbar unverbunden, trägt den Titel „Füße“. Es geht darin um einen Onkel, der als Soldat 1944 in Italien eine schwere Fußverletzung erlitt, auch später nur schwankend zu gehen vermochte und sich aus der Zeit des Lazarettaufenthalts vor allem an eine grässliche Episode erinnert: Mit Krücken unterwegs zur Toilette, stößt er auf eine Bahre, worauf ein zugedeckter Leichnam liegt, nur die Füße schauen hervor und scheinen direkt auf ihn, den Onkel, zu zielen.
Dieses Erlebnis des Onkels in Ferrara, das mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt, betrifft den Neffen ja nun eigentlich nicht. „Trotzdem muss ich oft an seine Erzählung denken, wenn ich – so wie heute, an diesem Februartag in S. Clemente – durch die Schuhsohlen hindurch die sanften Unebenheiten des Fußbodens spüre, diese Tag für Tag, Jahrhundert für Jahrhundert von tausenden von Füßen polierten Marmorplatten, diese farbigen, in geschwungene Ornamente gesetzten Steine der Kosmaten, die Fischgrätenmuster der römischen Ziegel . . . Und jedes Mal möchte ich dann dem Impuls nachgeben, die Schuhe auszuziehen und mich mit den nackten Füßen diesem Boden anzuschmiegen, als wäre er warm.“
Dieses ungläubige Staunen, so leicht und mühelos dort angekommen zu sein, wohin zu gelangen den anderen früher so schwer und gefährlich wurde, grundiert das ganze Buch, dem Schulze den Titel „Orangen und Engel“ gegeben hat. Auch die Orangen stellen eine Reminiszenz dar: Auf die Frage, was er eigentlich da unten vorhabe, hatte Seume geantwortet, er wolle einfach das Vergnügen kosten, eine Orange ganz frisch vom Baum zu essen. In diesem Geist kauft auch Ralf, ein etwas skurriler Freund aus DDR-Tagen, der den Erzähler während dessen Aufenthalts in der römischen Villa Massimo besucht, jeden Tag kiloweise Orangen – er vermag sich, Zonenkind, das er ist, einfach nicht an den Luxus zu gewöhnen, sie jederzeit so wohlfeil haben zu können.
Beide, der Erzähler und Ralf, müssen sich dieses italienische Glück ständig neu unter Einsatz ihrer Nahsinne bestätigen. Sie rufen es sich nicht vor die Augen, sondern vor die Geschmacksknospen und die Tastnerven der Fußsohlen, dass sie, ausgerechnet sie, die Sieger der Geschichte sind, sie, erlöste Nachfahren jener unseligen Generationen, die sich vergeblich nach dem blauen Süden sehnten, oder wenn sie doch hinkamen, verdammt waren, dies als Feinde zu tun.
Nun haben die Erlösung und die Dankbarkeit, welche die Freunde begleitet, das Missliche an sich, ein Zustand zu sein, in dem eigentlich gar nichts mehr geschehen kann; darum lässt sich das Paradies nur mit Einschränkungen als literarischer Gegenstand behandeln. Es glänzt auf in jeder winzigen Wendung und unscheinbaren Begegnung, aber diese als solche haben wenig zu bedeuten. Gerade das profund Unbanale gerät in die größten Schwierigkeiten, seine radikale Differenz zur Banalität sinnfällig zu machen. Gut möglich, dass der Erzähler (Ingo Schulze gibt sich keine große Mühe, ihn vom empirischen Autor und seinem Reisestipendium zu trennen) nie zuvor in seinem Leben einen so glücklichen Augenblick wie diesen erlebt hat:
„Kurz nachdem wir die Engelsburg auf der anderen Tiberseite passiert hatten, fand Alberto eine Parklücke. Von der Uferstraße stiegen wir eine Treppe hinab und wandten uns nach links, wo die Via Tor di Nona als Sackgasse endet. Den Namen des Restaurants weiß ich nicht mehr. Es war ein großer, schmuckloser Raum. Alberto bestellte für uns: Spaghetti mit Scampicreme und danach Kaninchen. Wir tranken keinen Wein, dafür viel Wasser und unterhielten uns über Fußball.“
Doch das innere Licht dieser Szene strahlt nicht durch in die Buchstaben und Sätze. Der Erzähler spürt den Mangel und sucht ihn auf dem Weg der Anekdote zu beheben. Also erteilt er Alberto das Wort: „Die Geschichte ging so.“ Und dann liest man, dass ein verunfallter deutscher Urlauber im römischen Krankenhaus von einem Tag auf den andern vom Personal viel besser behandelt wird, ohne dass er wüsste, warum. Den Grund erfährt er erst, als die Putzfrau beim Anblick seiner Hose „Bravo!“ ruft: Darauf nämlich findet sich das Emblem des ASR, des zweiten, auswärts unterschätzten, aber daheim heißgeliebten römischen Fußballvereins. Und es kommt eine zweite Anekdote, und eine dritte. Alberto ruft dazu: „Gute Geschichte! Gute Geschichte!“
Diese ganzen Geschichten sind jedoch nicht wirklich gut. Das liegt zum einen daran, dass in sie so viel bloß nacherzählte Erfahrung der anderen übernommen ist, des Signor Candy Man etwa, eines älteren Herrn, der im Park sitzt und den Kindern Süßigkeiten spendiert, aber fließend Deutsch spricht, denn er ist mit einer Frau in Rostock verheiratet, eine extreme Fernbeziehung; oder des Richters Augusto, eines Gepäckträgers, der plötzlich auf einem geheimnisvollen nächtlichen Ball sein Urteil über die Tänzer sprechen soll, ein Wettbewerb fast auf Leben und Tod. Vor allem jedoch muss der notwendig novellistische Charakter dieser Episoden dem eigentlich angestrebten Zweck, der Skizze des Glücks in der Fremde, unwesentlich bleiben. Und der Erzähler hat etwas getan, das ein Reiseschriftsteller niemals tun sollte: Er hat seine ganze Familie mitgebracht, seine Frau und zwei Töchter. Es bedeutet gewiss eine persönliche Ideallösung, wenn man das Geliebte und Vertraute mit in ein fernes Land nehmen darf. Literarisch hat es den Nachteil, dass das Familienleben viel von der Aufmerksamkeit abzieht, die sich der neuen Umgebung zuwendet.
Was Ingo Schulze mit seinen italienischen Skizzen gewollt hat, lässt sich vielleicht auf literarischem Weg gar nicht erreichen; eher hat es sich in den Farbfotografien von Matthias Hoch gefangen, die ungefähr ein Drittel des Bandes ausmachen. In ihnen waltet ein immer noch frisch verwunderter, unbefangener Blick, der schlicht festhält, was da ist, und sich dabei weder auf die touristischen Schönheiten konzentriert noch von dem vielen Hässlichen beirren lässt.
Denn das gehört ja zu den Eigenheiten Italiens, die den Reisenden verblüffen: Dass zum Ausgleich für das Übermaß an landschaftlicher und kultureller Anmut dieses Landes das Hässliche immer noch um ein gutes Stück hässlicher ist als bei uns. Die Fotos registrieren es, aber verleumden es nicht: die Architektur des Faschismus, die in Italien weit mehr gestalterische Gelegenheiten bekam als in Deutschland; die Tristesse der Vororte; die für den Autoverkehr abgesägten, weil allzu engen Bögen eines alten Aquädukts. Und dann sieht man wieder das Bild einer Gruppe von Jungs, die auf der Wiese an einer Straße bolzen, schon gegen Abend, wie die langen Schatten erkennen lassen; ohne übertriebenen Eifer, aber mit offensichtlichem Vergnügen, genau so, wie man etwas treiben sollte, das zusammen mit anderen Spaß macht, eine schöne Mischung aus Schwung und Frieden. Dass es auf nichts ankommt, aber alles wunderbar ist – wie sollte dieser Geist des Spielerischen in einen Text eingehen?
Schulze hat dann auch für sein Buch ein eher resignatives Motto gewählt: „Wie hat sich doch jeder Reiz der Fiktion verloren! Dachte ich dann voller Melancholie. Und wie hat sich alle Lust zu sinnhaftem Spiel verloren . . . scheinbar.“ Das stammt von Wolfgang Hilbig, Schulzes großem Mit-Altenburger, der eines freien Glücks in der römischen Abendsonne garantiert unfähig gewesen wäre, weil er seine alte Gequältheit auch dorthin mitgenommen hätte. Schulze setzt seine ganze Hoffnung auf dieses hinterhergeschickte „scheinbar“, wobei er vermutlich ahnt, dass es zu spät kommt und zu schwach ist. BURKHARD MÜLLER
INGO SCHULZE: Orangen und Engel. Italienische Skizzen. Mit 48 Farbfotografien von Matthias Hoch. Berlin Verlag, Berlin 2010. 190 Seiten, 22 Euro.
Ungläubiges Staunen darüber,
so mühelos angekommen zu sein,
grundiert das ganze Buch
Schön, wenn man die Familie
mitnehmen kann auf Reisen,
doch literarisch ist es ein Nachteil
Was dem Schriftsteller missrät, gelingt dem Fotografen: ein unbefangener, frisch verwunderter Blick auf die Widersprüche Italiens – und seien sie auch so gnadenlos kitschig wie diese
Pizza in den Nationalfarben.
Foto: Matthias Hoch
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2010

Flaneur mit Kinderwagen
Klassik ist gerade jetzt: Ingo Schulzes Skizzen

Von Hubert Spiegel

Zur Standardausrüstung des klassischen Italien-Reisenden des neunzehnten Jahrhunderts gehörte das Skizzenbuch, in dem Landschaftszeichnungen, Veduten, Tempelfriese und andere Impressionen festgehalten wurden. Das Reisen und das Zeichnen waren untrennbar miteinander verbunden, bis die Erfindung der Fotografie das Skizzenbuch fast vollständig verdrängte.

Ingo Schulze ist kein Italien-Reisender im klassischen Sinne. Seine italienische Reise geht auf ein Stipendium zurück, das ihn und seine Familie für ein Jahr in die Villa Massimo nach Rom führte. Seine Anspielungen auf das Motiv der Italien-Sehnsucht, die deutsche Künstler seit Winckelmann in Scharen über die Alpen ziehen ließ, sind zaghaft bis sparsam. Keine kunsthistorischen Schwelgereien, kein ausgestelltes Kennertum, keine prahlerisch vorgeführte Genießerattitüde - Schulze gibt den bescheidenen Otto Normalschriftsteller auf Stipendienfahrt. Wo andere lustvoll oder auch nur pflichtbewusst Bildungsprotzerei betreiben, weil man sich als deutscher Schriftsteller zu der Überdosis Kultur, die Rom jedem Besucher aufzwingt, ja doch irgendwie verhalten muss, bleibt Schulze in seinen "Italienischen Skizzen", von denen der Untertitel des Bandes spricht, ganz gelassen. Ein kleiner Wink mit dem Seume, dessen "Spaziergang nach Syrakus" 1802 erschien und den der Stipendiat als Lektüre in die Villa Massimo mitgebracht hat, das muss genügen.

Schulzes Vatikanische Museen sind die Supermärkte, in denen der Familienvater die Einkäufe besorgt, die er dann im Kinderwagen nach Hause schiebt. Hier hat er seine größten Bildungserlebnisse, und hier macht er die demütigenden Erfahrungen der Halbbildung, der in Rom niemand entgeht. Zwar erkennt er sofort, dass die Gruppe der zugewanderten, meist dunkelhäutigen Männer, die die Einkäufe der Supermarktkunden in Tüten verpacken und zu den parkenden Autos tragen, eine strenge Hierarchie aufweist, aber er vermag das Zeichensystem ihrer Kommunikation nicht zu entschlüsseln. Es geht dem Beobachter im Supermarkt wie manchem Betrachter eines manieristischen Kunstwerks in der Gemäldegalerie: Er weiß, dass er mehr wissen müsste, um mehr von dem sehen zu können, was sich seinem Auge darbietet. Der Betrachter sieht, und er sieht nicht.

Immer wieder sind es Alltagsbeobachtungen und Zufallsbegegnungen, die Ingo Schulze ins Zentrum der neun Texte stellt, die dieser Band versammelt: Ein alter Mann im Park, der den Töchtern des Erzählers Gettoni für den Spielautomaten schenkt; der zunächst indisch anmutende Tagelöhner im Supermarkt namens Gustl, der daheim in Rumänien von den Nachbarn Deutsch gelernt hat; oder Alberto, der für das deutsche Fernsehen als Kameramann arbeitet - sie alle sind zufällige Gesprächspartner eines deutschen Schriftstellers in Rom, der die intellektuellen Kreise der Stadt kaum je erwähnt. Und sie alle haben ihre Geschichten, überraschend bis verstörend und geheimnisvoll, die der Erzähler genüsslich wiedergibt, denn sie sind die eigentlichen Entdeckungen seiner Reise. Schulze will das Italien der Gegenwart erkunden, am Alltag teilhaben und ihn einfangen, zugleich aber in Allerweltsbegebenheiten das Außerordentliche, wo nicht gar das Unerhörte aufblitzen lassen - ein Widerspruch, an dem die Texte mitunter schwer zu tragen haben.

Schulzes Erzählerfigur ist kein schlechter, aber doch ein unfreier Beobachter, der sich selbst immer wieder misstrauisch ins Visier nimmt. Die Furcht, sich falsch zu benehmen, gegen einen fremden Verhaltenskodex zu verstoßen, ist der ständige Begleiter dieses rücksichtsvollen Reisenden, der an der kurzen Leine seiner eigenen Befangenheit läuft. Diese altmodisch anmutende Zurückhaltung ist durchaus sympathisch, aber sie fordert ihren Preis: Ein Flaneur, der bei jedem zögernden Schritt den Fehltritt fürchtet, gibt ein seltsames Bild ab.

Aber das freie, lässig-ziellose Umherstreifen in der Ewigen Stadt ist ohnehin nicht Schulzes Element. Nicht das Fremde an sich ist sein Thema, sondern die Vielzahl der kleinen Verfremdungen, die das eigene Alltagsleben bei dem Versuch erfährt, es unter veränderten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Der Leipziger Fotograf Matthias Hoch, ebenfalls zeitweiliger Bewohner der Villa Massimo, hat zu diesem Band knapp fünfzig Fotografien beigesteuert, die das beiläufig Alltägliche der Texte atmen, ohne ihren mitunter im Anekdotischen strandenden Novellenehrgeiz nachzuahmen.

Ingo Schulze: "Orangen und Engel". Italienische Skizzen. Mit Fotografien von Matthias Hoch. Berlin Verlag, Berlin 2010. 192 S., geb., Abb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Großes intellektuelles Vergnügen hatte Helmut Böttiger bei der Lektüre dieses Italienbuchs. Das fängt für ihn schon mit dem chamäleonhaften Erzähler an, der so tut, als sei er Ingo Schulze, es aber definitiv nicht ist. Deshalb sei auch die ihm beigegebene Familie nichts als ein geschicktes trompe l'oeil. Geschickt unterlaufe der Erzähler die ewig durch Goethe determinierten Erwartungen an ein Italien-Buch wie dieses. Locker würden konkrete Details in den Blick genommen und daran ein zeitgenössischen Erfahrungswelten angepasstes Italienbild entworfen, das Böttiger nichtsdestotrotz emphatisch wie das Johann Wolfgang von Goethes findet. Hochpassend findet der Kritiker auch die dem Band beigegebenen Fotos von Matthias Hoch, die für ihn nach dem gleichen Prinzip wie Schulzes Texte mit ihrem knappen und nüchternen Zugriff auf die Sujets funktionieren. Schließlich lehnt Böttiger mit Schulzes Erzähler lässig an den Säulen einer Kirche von Syrakus, wo auch Platon schon gelehnt haben könnte und freut sich, das er mit Schulze erleben durfte, dass das Erhabene vom Lächerlichen stets nur einen Knopfdruck entfernt ist.

© Perlentaucher Medien GmbH