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Als die Einführung 1986 erschien, bedeutete dies einen Wendepunkt in der ungarischen Literatur: Esterházy vollendete eine durch die Diktatur zerstörte Entwicklung der Moderne - schon das erste Wort des 900seitigen Buchs war eine Hommage an James Joyce -, und gegen die offizielle Ideologie brachte er eine neue Literatur in Stellung. Anfang 1978 sah ich plötzlich ein ,Gebäude vor mir, ein ,Texthaus , an dem ich bis 1985 arbeitete. Zuerst fing ich an, die einzelnen Räume zu schreiben, also die Zimmer, Säle, breiten Treppenhäuser, und so erschienen die Vor-Bände Indirekt, Wer haftet für die…mehr

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Produktbeschreibung
Als die Einführung 1986 erschien, bedeutete dies einen Wendepunkt in der ungarischen Literatur: Esterházy vollendete eine durch die Diktatur zerstörte Entwicklung der Moderne - schon das erste Wort des 900seitigen Buchs war eine Hommage an James Joyce -, und gegen die offizielle Ideologie brachte er eine neue Literatur in Stellung. Anfang 1978 sah ich plötzlich ein ,Gebäude vor mir, ein ,Texthaus , an dem ich bis 1985 arbeitete. Zuerst fing ich an, die einzelnen Räume zu schreiben, also die Zimmer, Säle, breiten Treppenhäuser, und so erschienen die Vor-Bände Indirekt, Wer haftet für die Sicherheit der Lady?, Fuhrleute, Kleine Pornographie Ungarns, Die Hilfsverben des Herzens. Als ich damit fertig war, begann ich das große Gebäude zusammenzustellen, baute Treppen, Querkorridore, Fenster, kleine Gesimse. Manchmal zeigte es sich, dass das Wort zu wenig war, dann verwendete ich Bilder oder ,graphische Einheiten . Immer wieder hatte ich den Gedanken, das Ganze sei ein Hypertext, ein mehrdimensionaler Raum." (P. E.) Das Buch ist eine Art Enzyklopädie aus 21 selbstständigen Prosateilen, die Esterházy durch Zitate, Marginalien, Fotos, Zeichnungen und Symbolen derart untereinander und mit der Weltliteratur vernetzt, dass es sich zu einem offenen, unbegrenzten literarischen Raum weitet.
Autorenporträt
Péter Esterházy wurde 1950 in Budapest geboren, wo er auch heute lebt, seit 1978 als freier Schriftsteller. Für seinen Roman "Harmonia Cælestis" (BV 2001; BvT 2003) erhielt er unter anderem den Ungarischen Literaturpreis und den Grinzane-Cavour-Preis. 2004 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Zuletzt erschienen im Berlin Verlag: "Eine, zwei, noch eine Geschichte/n" (zusammen mit Imre Kertész und Ingo Schulze) (2008), "Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors" (Bvt 2009) und "Keine Kunst" (2009).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Angetan zeigt sich Christoph Bartmann von Peter Esterhazys "Einführung in die schöne Literatur". Bisher nur in Teilen veröffentlicht, liegt das Werk jetzt vollständig und in einer ausgezeichneten neuen Übersetzung vor. Damit treten für Bartmann die internen Bezüge zwischen den einzelnen Teilen des Werkes hervor und die schriftstellerische Produktion Esterhazys in den 1970er Jahre wird nachvollziehbar. Die Prosastücke des voluminösen Bandes sind nach Ansicht Bartmanns weit entfernt von den Standards des realistischen und klassenbewussten Erzählens. Er sieht in ihnen vielmehr den Abschluss des avantgardistischen Projekts des Formalismus. Dabei unterstreicht Bartmann die Offenheit für grafische und bildliche Erweiterungen des linearen Textraums, die "Splitscreen"-Technik, die mehrere Textkolumnen parallel führt, sowie andere mehrdimensionale, post-narrative Tricks. Das ist nicht immer leicht zu lesen. Nur einige ältere Texte, wie die Joyce-Variation "Flucht der Prosa" muten Bartmann wie "neo-experimentelle Etüden" an.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2006

Ich. Ich. Ich. Und ein Kakadu

Diese Bücher werden Sie sicher durch den Winter bringen. Die können Sie sich schön auf dem Schreibtisch aufbauen, eins neben dem anderen, und es wird sein, als wenn Sie ganze Bibliotheken vor sich hätten. Sie können irgendwo anfangen, auf irgendeiner der insgesamt 4500 Seiten, und Sie werden sich hineinlesen in die unendliche Welt der Literatur. So wie es sein soll, ein Versinken, ein Suchen, ein Finden, ein neues Erahnen und altes Bewahren, ein Immer-immer-weiter-Lesen. So wie es sein soll bei Literaturgeschichten, bei Büchern, die das Schönste aufheben und neu erfahrbar machen und das Schlechte mit schönem Schwung verwerfen.

Sie schaffen das alle, die vier Literaturgeschichten, um die es hier gehen soll, alle auf ihre Weise. Der ungarische Großschriftsteller Péter Esterházy schreibt eine "Einführung in die schöne Literatur", die schon vor zwanzig Jahren in Ungarn erschienen ist und erst jetzt, als Riesenwerk, den Weg zu uns gefunden hat und ein wunderliches Rätselwerk ist. Walter Muschgs "Tragische Literaturgeschichte" ist noch viel älter, vor beinahe sechzig Jahren zum ersten Mal erschienen, in der Zwischenzeit fast vergessen und jetzt bei Diogenes ganz neu herausgekommen, eine sagenhaft gebildete, buchkundige, stilvolle, streitbare Schrift über alles. Der Göttinger Germanist Wilfried Barner hat, gemeinsam mit seinem Germanistenteam, seine große, längst zum Standardwerk avancierte "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart" auf den allerneuesten Stand gebracht und den Forschungsgegenstand so weit in die Gegenwart hinein verlängert, wie man es von Germanisten fast überhaupt noch nie gelesen hat. Und der "Focus"-Redakteur Rainer Schmitz hat in jahrelanger Sammelwut ein Literaturlexikon zusammengestellt, das die unsinnigsten, überraschendsten, neuesten und ältesten Wahrheiten aus der Bücherwelt enthält, die man sich vorstellen kann.

Die Alge Grass

Fangen wir mit dem mal an. Das ist ein echtes Tarzanbuch, in dem man sich von Begriff zu Begriff hangeln kann, von Buchstabe zu Buchstabe springen, von Geschichte zu Geschichte, und vieles hat man wirklich noch nie gehört, vieles auch zu Recht, weil es sich dabei um schrecklich unsinniges Wissen handelt. Die Häuser welcher amerikanischer Schriftsteller sind abgebrannt? (Morrison, Huxley, Ambler, Lowry.) Welche späteren Bestseller wurden zunächst von Verlagshäusern abgelehnt? ("Potter", "Parfum", "Pipi Langstrumpf".) Welche Alge wurde nach einem Schriftsteller benannt? (Fragilaria guenter-grassii, die 1992 in der Danziger Bucht entdeckt wurde.) Was ist eigentlich ein Buch? ("Nichtperiodische Publikation mit einem Umfang von 49 Seiten und mehr", definiert, bislang fast unbekannt, die Unesco und Jean Paul, sehr bekannt, etwas knapper: "Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde".)

Und so geht es weiter durch das Leben der Bücher. Von Unsinn zu Sinn, zu Lesebeginn und Leseende. Süchtig nach Gummibärchen waren übrigens Erich Kästner und Albert Einstein. Und Dürrenmatts Kakadu hieß Lulu, und als ihr Dürrenmatts zweite Frau im Alter von sechzig Jahren das Fliegen beibringen wollte, stürzte der Kakadu aus sechs Metern zu Tode. Aha, Sie fragen: warum sollte ich über das tragische Schicksal Lulus Bescheid wissen, wenn ich in Wahrheit doch nur Dürrenmatts Bücher lesen will? Berechtigte Frage, aber wenn Sie auf dieser Seite einfach weiterlesen, beim Kalevala-Eintrag unverwandt in die Tiefen der finnischen Volkssagenwelt hineingeraten, in die Sie sich wirklich nicht träumten hineinzugeraten, dann sind Sie auch mit Lulu und der Alge guenter-grassii schnell wieder versöhnt. Sie werden sehen.

Eine Einführung in die Welt der Literatur ist das Lexikon aber natürlich nicht. Eher eine unendliche Erstaunlichkeitssammlung für Menschen, die mit Büchern leben und die anderen Einwohner dieser Bücherwelt gerne etwas genauer kennenlernen wollen. Aber was führt schon hinein in die Welt der Literatur - die "Einführung in die schöne Literatur" vielleicht, dieses Riesenwerk von Péter Esterházy, dem wunderbaren, ungarischen Großromancier? Aber nein, aber nein. Lassen Sie sich vom Titel dieses Buchklotzes nicht verwirren. Dieses Buch ist eine Hinausführung, ist ein monolithischer Block, der Sie von der ersten Seite an erst mal abschrecken will: Lies mich nicht, Leser, hier verstehst du ohnehin kein Wort. Dieses Buch hat der Autor nur für sich geschrieben und zusammengeklebt.

Auf Seite eins sieht uns ein nackter Damenrücken an, der Rücken liest ein Buch, und oben rechts ist ein Motto hineingedruckt, ins Bild, das womöglich auch das Motto des ganzen Buches ist. Zunächst: "Ich. Ich. Ich. Ich (Gombrowicz)". Dann "Ich - das sind die anderen (nach Sartre)", und dann heißt das erste Kapitel "Flucht der Prosa", und sie flieht erst mal in Eigennamen dahin, die Prosa, und es kann natürlich sein, sie bedeuten alle etwas, diese Namen, "Amme aus Abaliget, Allerliebst aus Acsád, Analyse aus Adács" und so weiter, aber man hat ja nicht sofort Lust, diese rätselhaftesten Rätsel sofort zu entschlüsseln, wenn man gar nicht weiß, wo man nach einem Schlüssel suchen könnte. Hm, das Kapitel beginnt jedenfalls mit dem 16. Juni, dem Bloomsday also, und so heißt es am Anfang sehr schön: "Am 16. Juni, einem Werktagvormittag, zogen der Reihe und dem Namen nach folgende Wörter ein (Auweia, Goldstück, das ist aber ein häßlicher Dampfer!):" - und dann marschiert er los, der Text, mit den Eigennamen und den Wörtern, schön nach Alphabet geordnet, wir schauen mal bei Schmitz unter Bloomsday nach, da heißt es gegen Ende: "Heute nehmen die Fans in Dublin am Bloomsday Nierchen zum Frühstück, kaufen Zitronenseife und genehmigen sich zum Lunch ein Glas Burgunder und ein Gorgonzola-Sandwich." So, und wenn wir jetzt unter ,G' wie Gorgonzola in Esterházys Wortkaskaden nachsehen, dann steht da: ". . . grüßt aus Györ, Genosse aus Gemenc, gut aus Gyöngya, Geige aus Gádoros, Gott aus Gyon (was für eine Frömmelei)" und - nein, da sollen Sie jetzt natürlich nicht für immer das Lesen dieses Buches beenden. Sondern ihm sich anvertrauen, dem Führer durch die Welt seiner geliebten Dichter, seiner geliebten Bücher, langsam, Wort für Wort aus dem Unverständlichen heraus, in ein Verstehen hinein. Das meiste bleibt übrigens trotzdem unverständlich, klingt dann aber immerhin gut. Es geht insgesamt um: "Der ROMAN, der eher gut als wahrhaftig geworden ist, ist eine ungemütliche Mischung aus der Beschreibung eines Romans (das wäre der Roman selbst) und einem Roman (der sozusagen seine eigene Beschreibung enthielte). Ich erzähle, dieses Ich ist aber keine fingierte Person . . . Es war einmal ein Mann", und dann wird der Dichter Esterházy geboren, am 14. April 1950, und das Buch schildert die Geburt dieses Dichters aus dem Geist der Bücher und des Lebens. Zunächst nur für sich. Der Leser kann folgen - wenn er kämpft.

Die Biene Kracht

Einen Kampf ganz anderer Art erfordert dieses 1300seitige Großwerk, Wilfried Barners "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart", das germanistische Standardwerk zum Thema. Auf den ersten 900 Seiten hat sich im Vergleich zur ersten Auflage, die 1994 erschien, nicht viel geändert. Aber dann kommen die Neunziger. Und da kann man schon staunen, wie dicht die Germanisten sich jetzt schon an die Gegenwart herantrauen. Wo Barner selber schreibt, ist das Buch auch ungeheuer lebendig, schnell, klug und, jenseits aller Germanistenklischees, fast schon journalistisch geschrieben. Ein Buch, das ganz offenbar wirklich den Ehrgeiz hat, Studenten zu erreichen und nicht auf den Zwang des Lehrplans zu hoffen. Leider schreibt Barner nur das Kapitel über das "Literarische Leben der neunziger Jahre". Die Wertungen, also das Kapitel, in dem diese Geschichte ihre Urteile in den Marmor klopft, überläßt er anderen. Die Erzählprosa zum Beispiel dem Kollegen aus Paderborn, Manfred Durzak. Und der ist in seinem Kapitel vor allem mit Abwehrkämpfen beschäftigt. Fegt mühsam mit grobem Besen aus der Gegenwart hinaus, was ihm die Feuilletons so hineingefegt haben in den Bezirk der beachteten Gegenwartsliteratur. Und da ist es mit der Zeit schon recht lustig zu sehen, wie hilflos die Germanistik dann doch ist, wenn sie die Gegenwart beurteilen will. Die Begriffe, mit denen Durzak Ralf Rothmann hineinmeißelt in die Geschichte und Matthias Politycki wieder wegmeißelt, mit denen er Judith Hermann hineinklopfen und Christian Kracht hinausschlagen will, die sind vom Feuilleton geborgt und wirken durch die Gesetzesattitüde des Germanisten unangemessen, traurig bemüht und manchmal sogar komisch. Wenn er über Krachts Sprache schreibt, daß sie "mehr als einmal die Stilblüte streift", dann würde man mit Herrn Durzak zwar gerne einmal das Bienchen Kracht beobachten, wie es das macht, wiegend im Wind, die Stilblütchen streifen, aber in Wirklichkeit muß man dem Herrn Germanisten hier einmal deutlich sagen: Wer andere beim Stilblütenpflücken ertappen will, sollte die eigene Sprache doch ganz besonders fest im Griff haben.

So wie Walter Muschg. Seine tragische Literaturgeschichte ist die reichste, kunstvollste, gelehrteste und originellste ihrer Art. Wie der Titel andeutet, ist diese Geschichte eine Unheilsgeschichte. Während des Weltzusammenbruchs Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre in der Schweiz geschrieben, läuft die Geschichte der Literatur auf das letzte Unheil hinaus. Das mit Novalis, Heine und dem Einbruch des Journalismus in die Literatur begonnen hat. Wie hier Grillparzer, der frühe Mörike und immer wieder Goethe verehrt und das Werk Thomas Manns mit Verve, Wut und letzter Überzeugung in den Boden gestampft werden, das ist königlich, ungerecht und möglicherweise wahr: "In der deutschen Literatur verkörpert Thomas Mann den geistigen Bankrott des Bürgertums unübertrefflich."

Muschg sucht die Wahrheit und die wahre Kunst. Seine Empörung gegen alle, die das Handwerk an die Stelle der reinen, wahren Kunst setzen, kennt keine Grenzen. Nur das tragische Werk ist ein wahres Werk, nur der tragische Dichter ein wahrer Dichter. Und "tragisch will auch als menschlich verstanden werden", schreibt er gleich zu Beginn und damit die Wahrheit über alle wahre Beschäftigung mit Literatur heute und immer: "Nach so vielen Leitbegriffen, denen die Literaturgeschichte von außen her unterworfen wurde und deren Unzulänglichkeit zutage liegt, ist das Menschliche der einzige Gedanke, an den wir die Dichtung ehrlicherweise noch anknüpfen können. Sie menschlich verstehen heißt: sie in ihren nächstliegenden, sicher immer vorhandenen und doch wohl tiefsten Ursachen begreifen und ernst nehmen, also nicht nur historisch oder philosophisch oder soziologisch, sondern als Ausdruck des persönlichen Lebensgefühls, das in den großen Dichtern vor uns steht."

VOLKER WEIDERMANN

Wilfried Barner (Hrsg.): "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart". C. H. Beck, 1295 S., 49,90 Euro

Péter Esterházy: "Einführung in die schöne Literatur". Berlin-Verlag, 890 S., 60 Euro

Walter Muschg: "Tragische Literaturgeschichte". Diogenes, 751 S., 29,90 Euro

Rainer Schmitz: "Was geschah mit Schillers Schädel?" Eichborn, 1828 S., 39,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2006

Die Lady und ihr Galan
Péter Esterházys „Einführung in die schöne Literatur”
Vom 10. Dezember 1981 bis zum 15. März 1982 hat Péter Esterházy einen Roman abgeschrieben. Zum siebzigsten Geburtstag seines Landsmannes Géza Ottlik kopierte er dessen Roman „Die Schule an der Grenze” auf ein Zeichenblatt von 57 x 77 cm, was ungefähr 250 Stunden in Anspruch nahm. Die Geste des Abschreibens, von der Esterházy in seinem Prosawerk „Kleine Pornographie Ungarns” erzählt, erinnert zum einen an die Praktiken minimalistischer Künstler wie On Kawara oder Hanne Darboven, zum anderen an eine geläufige Verfahrensweise in den Zeiten der Zensur und des Samizdat. Was nicht gedruckt werden durfte, das musste man kopieren, und das hieß im Zeitalter vor Xerox: man schrieb es ab, wenngleich nicht notwendigerweise mit der Hand. Dass Ottliks Roman, einer der Klassiker der ungarischen Moderne, keineswegs verboten war, gibt Esterházys Hommage die besondere Note. Kein dissidentischer Akt war das, sondern eine Eingebung aus artistischer Willkür, die freilich unter totalitären Bedingungen nicht geringer wiegt als jede politisch eindeutige Äußerung.
In diesem Reich der poetischen Zweideutigkeit, des gerade in seiner Immanenz politisch anstößigen Spiels, hatte sich Péter Esterházy in den späten siebziger Jahreneingerichtet. Damals entstand das Buch, das nun auf Deutsch als voluminöser Prachtband mit dem listenreichen Titel (und dem identischen Untertitel) „Einführung in die schöne Literatur” vorliegt. Heute, da Esterházy ein europäischer Großschriftsteller und -preisträger geworden ist, nimmt sich solch ein Auftritt wie selbstverständlich aus. Vor zwanzig Jahren, als das Buch in Budapest herauskam, hatte der Titel durchaus noch den Charakter einer Tarnung; denn die Art schöner Literatur, in die das besagte Buch einzuführen verspricht, war Lichtjahre entfernt von realistischen und klassenbewussten Erzählstandards. Schon damals waren freilich die Einzelteile dieser Einführung nicht neu: sie waren, großteils zumindest, in den Jahren 1978 -1984 publiziert worden und wurden es später, dank der Ausdauer des Residenz Verlags, auch in deutscher Sprache. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde Esterházy durch Bücher wie „Die Hilfsverben des Herzens”, „Wer haftet für die Sicherheit der Lady?” oder eben „Kleine Pornographie Ungarns” im deutschen Sprachraum als eine der geist- und fintenreichsten literarischen Stimmen des östlichen Mitteleuropa bekannt.
Diese zunächst separat erschienenen Bücher gingen, mit anderen kurzen und langen, publizierten und nicht publizierten Texten in die „Einführung” ein und liegen nun, in alten und neuen, durchweg glänzenden Übersetzungen, auf Deutsch vor. Nicht nur, weil manches bisher unveröffentlicht war, ergibt die „Einführung” mehr als die Summe ihrer Teile. Auch die internen Bezüge zwischen den einzelnen „Kapiteln” werden nun auf andere Weise wahrnehmbar. Und schließlich sieht man, was, neben dem Abschreiben, so alles zum Umfang von Esterházys schreiberischen Okkupationen gehört.
Der schönen Literatur, wie sie sich hier präsentiert, ist kein Darstellungsmittel fremd. Zu ihren Vorlieben zählen die graphische und bildliche Erweiterungen des linearen Textraums, die „Splitscreen”-Technik, die mehrere Textkolumnen parallel führt und andere mehrdimensionale, post-narrative Tricks – darunter an vorderster Stelle die allgegenwärtigen, meist anonymen Gastauftritte anderer Autoren. Nicht alles in Esterházys „Einführung” liest sich gleich flüssig; vor allem den älteren Texten, so etwa der Joyce-Variation „Flucht der Prosa” (von Terézia Mora virtuos ins Deutsche gebracht), haftet etwas vom Charakter einer neo-experimentellen Etüde an. Esterházys Buch zeigt, wie sich seine Schreibweise öffnet, wie sie Persönliches und Subjektives zunehmend in den Text einfließen lässt, ohne ihre linguistischen Prämissen aufzugeben. „Die Hilfsverben des Herzens”, das letzte Buch der „Einführung”, die mit Handke- und anderen Zitaten operierende Erzählung vom Tod der Mutter, führt im Titel zusammen, was die Spannweite dieses – inzwischen schon klassisch zu nennenden – Textes wie der „Einführung” insgesamt ausmacht.
Im Klappentext (einem Genre, das Autoren sonst eher Anderen überlassen) berichtet Esterházy, wie er Anfang 1978 plötzlich ein „Gebäude” vor sich gesehen habe, ein „Texthaus”. „Damals”, schreibt er, „konnte man noch glauben, dass der Computer einen starken Einfluß auf die Literatur haben wird”. Aber es kam, nicht nur in seinem Fall, anders; und so gab Esterházy diese „Arbeitsmetapher” wieder auf. „Es blieb bei Raum, Dimension, Gebäude.” Seine mathematischen Ursprünge hat Esterházy in den Dienst der Architektur gestellt. „Gebäude” heißt das Schlüsselwort, freilich kein Roman-Gebäude von konventioneller Machart, auch kein neu-experimentelles Bauhaus aus nichts als Sprachlaboren, sondern eine ebenso üppige wie haltlose (aber wahrscheinlich allen Erfordernissen der Statik genügende) Konstruktion mit – man kommt nicht an M. C. Escher vorbei – Zimmern, Sälen, Treppenhäusern sowie „Treppen, Querkorridoren, Fenstern, kleinen Gesimsen, Leisten, Lappen, Zinnen”.
So also soll das Haus der schönen Literatur aussehen, denn anders wäre es nicht schön, sondern vielleicht nur praktisch oder nur ausgeklügelt. Im Ungarn der achtziger Jahre müssen solche souverän-zweckfreien Architekturphantasien als Provokation gewirkt haben. Wer sollte in solchen feudalen Text-Palästen wohnen, und für welchen Inhalt sollten sie überhaupt ein Gehäuse sein?
Ein Asyl für die Hilfsverben
In der schönen Literatur, die Esterházys „Einführung” im Titel führt, gibt es keine Inhalte, die unabhängig von ihrer Darstellung gedacht werden könnten. In der Strenge seines Formalismus schließt sein Buch das Programm der Avantgarden ab, in der heiteren Verfügung über ein unbegrenztes Formenrepertoire öffnet es zugleich den Raum des postmodernen Erzählens. Die Themen der „Einführung” sind vielfältig, aber es gibt sie nur im Modus des Zitats, in der Überschreibung von schon Geschriebenem. Die sieben langen Texte des Buches – fünf von ihnen waren vor 1986 bereits erschienen, zwei noch unveröffentlicht – verbindet weniger ein motivischer Zusammenhang als das Spiel mit internen Korrespondenzen, so etwa der durchgehende Hinweis auf das doppelte Schlüsseldatum 16. Juni. Es ist der „Bloomsday” in Joyces „Ulysses” und zugleich der Tag der Hinrichtung von Imre Nagy, des Hoffnungsträgers im Ungarn-Aufstand von 1956.
Das modernistische Programm dieses Buches, sein an Derrida und Barthes anknüpfendes Dementi einer Welt außerhalb des Text-Hauses, gewinnt seine Pointe dadurch, dass innerhalb des Textgehäuses die Welt sehr konkret Gestalt annimmt. Es ist eine ungarische – „An Ungar is an ungar is an ungar?” – Welt, geprägt von Gewalt, Unfreiheit, Ideologie, Revolution und Gegenrevolution.
Es könnte scheinen, als hätte Esterházy mit seinem Texthaus ein Asyl für eine Sprache schaffen wollen, die unter den herrschenden ideologischen Bedingungen sonst nicht geduldet wurde. Aber man wird diesem Autor kaum gerecht, wenn man ihn als Oppositionellen, als Anti-Ideologen beschreibt; dafür ist seine Sprache zu reich und seine Souveränität zu groß. Die Freiheit, von dieses Buch „handelt” und von der es auf hinreißende Weise Gebrauch macht, erschöpft sich nicht in irgendeiner Widerrede. Es gibt anderes im Leben als die Politik. „Wer haftet für die Sicherheit der Lady?” – die Sicherheit ist das eine, die Lady das andere. Wenn es eine literarische Sprache für Erotisches gibt – vom Handfesten übers Frivole bis hin zum mathematischen Kalkül –, dann hier, in Péter Esterházys großer, schwieriger, unüberbietbarer „Einführung in die schöne Literatur”.
CHRISTOPH BARTMANN
PÉTER ESTERHÁZY: Einführung in die schöne Literatur. Aus dem Ungarischen von Bernd-Rainer Barth, György Buda, Zsuzsanna Gahse u.a. Berlin Verlag, Berlin 2006. 892 Seiten, 48 Euro.
Péter Esterházy in seiner Wohnung.
Foto: Martin Fejer/ostphoto
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