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Bliss Broyards Geschichte ihres Vaters, der seine Herkunft verschwieg, um als weißer Literaturkritiker zu einer der einflussreichsten Stimmen im amerikanischen Literaturleben zu avancieren, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, mit welcher Macht die Frage nach der rassischen Herkunft bis in unsere Tage über Lebensschicksale bestimmt. PUBCOMMENTS: Im New Orleans der zwanziger Jahre geboren, wächst Anatole in einer Familie kreolischer Abstammung auf. Die Familie gilt als schwarz. Nach dem Umzug von New Orleans nach New York wechselt er Ende der dreißiger Jahre als junger Mann seine Identität…mehr

Produktbeschreibung
Bliss Broyards Geschichte ihres Vaters, der seine Herkunft verschwieg, um als weißer Literaturkritiker zu einer der einflussreichsten Stimmen im amerikanischen Literaturleben zu avancieren, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, mit welcher Macht die Frage nach der rassischen Herkunft bis in unsere Tage über Lebensschicksale bestimmt. PUBCOMMENTS: Im New Orleans der zwanziger Jahre geboren, wächst Anatole in einer Familie kreolischer Abstammung auf. Die Familie gilt als schwarz. Nach dem Umzug von New Orleans nach New York wechselt er Ende der dreißiger Jahre als junger Mann seine Identität ­– die Hautfarbe ist „hell genug“ dafür – und beginnt eine Laufbahn als weißer Schriftsteller im Künstlerviertel Greenwich Village. Seine Frau weiß von seiner Herkunft, seine beiden Kindern Bliss und Todd ahnen nichts. Sie wachsen wohlbehütet im vornehmen Connecticut auf, besuchen teure Schulen.. Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 bringt es Anatole Broyard nicht über sich, seinen Kindern die Wahrheit zu erzählen. Als Bliss schließlich das Geheimnis von ihrer Mutter erfährt, ist plötzlich alles anders: Nicht nur die Persönlichkeit ihres Vaters steht mit einem Mal in einem völlig neuen Licht da, sondern auch das eigene Selbstbild ist in Frage gestellt. Eine Identitätssuche beginnt. Bliss Broyard begibt sich auf die Spuren ihres Vaters. Die in den Südstaaten der USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts gültige „Ein-Tropfen-Regel“ besagt, dass jede Person, die auch nur eine Spur afroamerikanischer Abstammung in ihrem Stammbaum besitzt, als schwarz zu gelten hat. Es ist dieser eine Tropfen, der das Leben von Grund auf verändert. Bliss Broyard gibt in ihrem Buch nicht nur eindrückliche Einblicke in Geschichte der Rassentrennung in den USA, sondern zeichnet das ebenso kritische wie einfühlsame Porträt ihres Vaters, eines Mannes, der den Widersinn, die Willkür und die Ungerechtigkeit der Rassendiskrimierung in sich verkörperte, indem er sich gegen seine Vergangenheit entschied.

Bliss Broyard lebt als Autorin in New York. Im Berlin Verlag erschien von ihr der Erzählungsband Mein Vater, tanzend (2001).
Autorenporträt
Barbara Schaden, Jahrgang 1959, studierte Romanistik und Turkolgoie in Wien und München. Nach ein paar Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat seit 1992 freiberufliche Übersetzerin, u.a. von Patricia Duncker, Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Jean-Claude Guillebrand, MaurizioMaggiani, Fleur Jaeggy, Kazuo Ishiguro und Cindy Dyson.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Berührt zeigt sich Sylvia Staude von Bliss Broyards Buch über ihren Vater Anatole Broyard, der seine schwarze Herkunft verschwiegen hat, um seine Rolle als einer der bedeutendsten Literaturkritiker der USA nicht zu gefährden. Sie berichtet, dass die Autorin, die erst nach dem Tod Anatoles von ihren schwarzen Wurzeln erfahren hat, Verwandte aufgesucht hat, zu denen ihr Vater den Kontakt abgebrochen hatte, weil sie als farbig erkennbar waren. "Ein Tropfen" erzählt für Staude aber nicht nur die Geschichte von Bliss' Vater sowie ihre weit zurückreichende Familiengeschichte, sie sieht darin auch ein teilweise "herzzerreißend introspektives" Buch und den leidenschaftlichen Versuch Broyards, in die Seele ihres Vaters zu blicken.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009

Der schwarze Rassist
„Ein Tropfen”: Bliss Broyard hat ein Buch über ihren Vater geschrieben, den Literaturkritiker Anatole Broyard, der seine Hautfarbe verleugnete Von Willi Winkler
Im Jahr 1964, unter dem heute wenig geschätzten Präsidenten Lyndon Johnson, wurde Carl Rowan zum Chef der United States Information Agency ernannt; er war der erste Schwarze, der eine große Bundesbehörde leitete. An einem Samstag stand er in Jeans und T-Shirt draußen vor seinem Haus in Washington und mähte den Rasen. Eine Dame kam vorbei und fragte ihn, ob er Zeit und Lust habe, auch bei ihr im Garten zu arbeiten. Er sagte nicht nein, und die Dame, um Fairness und ein gutes Geschäft zugleich bemüht, fragte ihn, was er denn in diesem Haus als Lohn bekomme. Rowan zeigte sich beneidenswert schlagfertig: „Ich schlafe mit der Hausfrau.”
Diese kleine Anekdote aus der Geschichte des Fortschritts, die Günter Diehl überliefert, Bundespressesprecher bei Kurt Georg Kiesinger, könnte noch heute jeder Comedian bringen, denn sie ist nicht nur lustig, sondern auch noch wahr. Als die Regierung vor nicht einmal fünfzig Jahren die Aufhebung der Rassentrennung verordnete, mussten die Schwarzen in den Südstaaten der USA im Bus noch hinten sitzen, und sie durften nicht aus dem gleichen Wasserspender wie die Weißen trinken. Die ersten schwarzen Studenten, die es wagten, eine bis dahin ausschließlich weiße Universität zu besuchen, mussten von der Nationalgarde geschützt werden. Das klingt heute, wo bewiesen ist, dass ein Schwarzer sogar Präsident der noch vor wenigen Jahrzehnten durch und durch rassistischen USA werden kann, wie ein Märchen aus uralten und richtig finsteren Zeiten, und doch ist die Geschichte noch immer nicht aus.
Die 42-jährige Autorin Bliss Broyard erzählt, mit welchem Ingrimm ihr Vater einst auf die schwarzen Kinder reagierte, die in der Nähe seines Hauses spielten. Das war 1990 im sonst fast keimfrei weißen Connecticut, und ihr Vater fürchtete um den Wiederverkaufswert des Hauses. „Du redest wie ein verdammter Rassist!” warf ihm die Tochter vor und entschuldigte ihn zugleich, weil er offenkundig unter der Krebserkrankung litt, der er bald danach erliegen sollte. Dabei hatte sie recht, ihr Vater war ein geborener Rassist. In ihrem Buch versucht sie zu erzählen, wie er dazu kam.
Der Vater liegt auf dem Sterbebett, umgeben von Freunden und Verwandten, noch knapp am Leben gehalten durch die unvermeidlichen Schläuche, und zitiert noch immer Walter Benjamin. „Der Tod war das Cleverste, was er in seinem cleveren Leben tat”, meinte sein Freund Alfred Kazin, der dieses Schauspiel miterlebte. Seine Frau Alexandra fordert ihn immer dringender auf, den Kindern das große Geheimnis seines Lebens zu offenbaren, die Tochter, die doch Schriftstellerin werden will, fleht ihn um die Geschichte an, aber er redet nicht mehr. Schließlich beichtet die Mutter den Kindern das Familiengeheimnis, und die Tochter steht nach dem Tod ihres Vaters vor dem Stoff ihres Lebens.
1920 kommt Anatole Broyard in New Orleans zur Welt. Er hat schwarze und weiße Vorfahren, Franzosen und kreolische Mischlinge aus Haiti sind darunter, sogar Indianer. Als er acht Jahre alt ist, ziehen die Eltern nach Norden, in den New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo es bessere Arbeitsmöglichkeiten gibt und die Rassentrennung längst nicht so strikt gilt wie im Süden. Anatole gehört nirgendwohin; als Kind wird er von Schwarzen wie von Weißen verprügelt. In seiner Geburtsurkunde ist er als „c” für colored ausgewiesen, ein Farbiger, aber er ist hellhäutig genug, um im Zweiten Weltkrieg als Weißer eine schwarze Brigade zu kommandieren. Broyard hat die Grenze, die Schwarz und Weiß damals noch deutlich trennte, eigenmächtig überschritten.
In seinen eigenen Erinnerungen, die posthum unter dem Titel „Kafka Was the Rage” (Verrückt nach Kafka) erschienen, beginnt Broyard seine Biographie nach dem Krieg, in der er sich als ironischen Beobachter des Treibens in Greenwich Village darstellt, voller Neugier auf das Leben der Boheme, auf Bücher, Musik, die Cafés, die Frauen. Die Künstler dort haben keinen Vater und keine Mutter. „Die Leute, die ich kennen lernte, waren dem eigenen Kopf entsprungen oder stammten aus den Seiten eines schlechten Romans, lauter Waisen.” Sein eigener Vater war ein Baumeister ohne große Schulbildung. Ebenso wenig wie die Mutter wusste er, was die New York Times war, die Zeitung, die ihren Sohn 1971 anstellte und damit zu einem der einflussreichsten Literaturkritiker des Landes machte.
Als klassischer Aufsteiger verleugnet Anatole Broyard bald Vater und Mutter als „zu volkstümlich, zu farbenfroh”. Dass er bereits vor dem Krieg geheiratet hatte, dass er sogar eine schwarze Frau aus Puerto Rico geheiratet und mit ihr ein schwarzes Kind hatte, lässt er in seinen Erinnerungen weg. Damit war er auch nicht mehr in die kreolische Gemeinde hineingeboren, sondern erst in Greenwich Village zur Welt gekommen. In dieser neuen Welt beginnt Anatole Broyard zu schreiben. Lange vor Norman Mailer kennt er den „Hipster”, denn er verkehrte in Harlem, aber es ist auch die Welt, die er eben im Begriff ist zu verlassen. Im Belegexemplar einer Zeitschrift schneidet er unter einem Aufsatz über die Situation der Schwarzen die redaktionelle Bemerkung, die den Autor, also ihn, als einen Fachmann vorstellt, der die Materie „aus erster Hand” kenne, mit einer Rasierklinge sorgfältig heraus. Broyard will offensichtlich selber über sein Leben bestimmen, deshalb wird er von einem Tag auf den anderen weiß.
Seine Tochter erzählt diese Lebensgeschichte als Recherche nach der Herkunft ihrer Familie. Ihr Vater konnte sich nie entschließen, die Geschichte seiner Herkunft selber zu erzählen. Die schwarze Verwandtschaft wird einfach abgetrennt. Die Tochter rekonstruiert diese Verwandtschaft bis ins 18. Jahrhundert zurück. Überall in den USA findet sie Broyards, die sich als Weiße verstehen, und andere, die schwarz sind. Bliss Broyard taucht ein in das touristische New Orleans, besucht den Mardi Gras und belastet den Leser mit der tonnenschweren Frage, welches Kleid sie auf welchen Ball anziehen soll. Diese Naivität prägt auch ihre Recherche. Eine Zeitlang labt sie sich in der adelnden Vorstellung, ihre Vorfahren könnten Sklaven gewesen sein, nur um dann festzustellen, dass es unter ihren Vorfahren freie Schwarze gab, die ihrerseits schwarze Sklaven hielten. Das ist alles sehr interessant und in der Gründlichkeit, mit der sie ihre Ergebnisse ausbreitet, recht ermüdend. Offenbar ist der Wechsel von Schwarz nach Weiß für Anatole Broyard ähnlich wichtig gewesen wie seiner Tochter das Anprobieren eines neuen Kleides.
Die Hautfarbe ist in den USA aber keine Faschingsverkleidung. Wie jede Gesellschaft, die angeblich allen die gleichen Rechte und die gleichen Chancen einräumt, legt auch die amerikanische größten Wert auf die feinen Unterschiede. Nichts ist deshalb bezeichnender für den Aufsteiger Broyard als seine neurotische Sorge, die Gegend um sein Haus herum könnte nicht sauber genug sein. Um zu verhindern, dass der Wohnwert des Viertels sinkt, rollt er abends mit dem Mülleimer durch den Häuserblock und sammelt den Dreck ein, der in den Nachbarstraßen liegengeblieben ist, eine Arbeit, die wie die Rasenpflege traditionell von Schwarzen verrichtet wird. Broyard aber hat als Abwehrzauber im Garten seines großzügigen und deshalb unverkennbar weißen Hauses die Holzfigur eines Schwarzen stehen.
Während er sich alle Mühe gab, als wohlhabender Ostküsten-Weißer zu gelten, in renovierten, ehemaligen Bauernhäusern in Connecticut lebte, zum Essen in den Country Club ging, die Kinder auf Privatschulen schickte und die Sommer auf Martha’s Vineyard verbrachte, muss er, so die Tochter, unter einem dunklen Geheimnis gelitten haben, dem Geheimnis seiner kreolischen Herkunft. Der Kampf, den die Südstaaten einst im Bürgerkrieg angeblich um ihre Ehre ausfochten, drehte sich auch um die gottgegebene Überlegenheit der weißen und die natürliche Unterlegenheit der schwarzen Rasse. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wurde alles, was nur annähernd nach gemischter Herkunft aussah, als farbig abqualifiziert; in Virginia genügte „ein Tropfen Blut” (daher der Titel des Buches), um einen Menschen zum Paria zu machen.
Broyard wollte keiner sein, und er wollte aufsteigen in der Welt. Das hätte ihm in der Nachkriegszeit seine Begabung vielleicht auch ermöglicht, aber darauf war weniger Verlass als auf die richtige Hautfarbe. Seine Schwester Shirley, dunkler als er, hatte einen Bürgerrechtsanwalt geheiratet. Ihr Bruder lehnte dagegen grundsätzlich jedes Engagement für die Schwarzen ab, er machte sich sogar lustig über schwarze Literatur und Förderungsprogramme für Schwarze. Dass er bei seinem Aufstieg mit der vorteilhafteren Hautfarbe auftreten konnte, unterschlug er lieber.
Mit dem ihm eigenen Hochmut konnte er sich über Kulturkritik seiner teutonischen Lehrer Erich Fromm, Rudolf Arnheim und Karen Horney an der New School lustig machen und behaupten, er sei der verordneten „Entfremdung entfremdet” gewesen. „Ich war”, schreibt er allen Ernstes, „ein Insider unter lauter Außenseitern”. In Wahrheit war Anatole Broyard ein Muster an Entfremdung. Er führte ein Leben in ständiger Abwehr. Illusionismus mag dazu gehört haben, denn offenbar wussten es selbst bei der New York Times fast alle Kollegen. Während Broyard glaubte, er gehe als Weißer durch, sprachen ihn die anderen aus Diskretion nicht darauf an. Je mehr die Universitäten und das Feuilleton den Kanon erweiterten und beispielsweise Lebensberichte Schwarzer als Literatur akzeptierten, desto entschiedener vertrat Broyard die Bücher der zunehmend verrufenen „toten weißen Männer”, also die klassische abendländische Literatur. Der selbstgeschaffene Broyard gab sich alle Mühe, dem Selbstbild zu entsprechen, äußerte zunehmend reaktionäre Ansichten, freundete sich mit Negerhassern und Befürwortern der Todesstrafe an und gab gern Sprüche von sich, die wie aus der Hüfte eines rechtsradikalen Südstaatlers geschossen kamen: „Wäre New York ohne die Schwarzen wirklich ärmer?”
Hat er damit wirklich nur testen wollen, wie seine linke Umwelt darauf reagierte? So viel die Tochter auch zusammengetragen hat, die wahre Geschichte ihres Vaters entgleitet ihr mit jedem Familientreffen, mit jedem Besuch in der Bibliothek immer mehr. Aufklärung findet sich eher bei Philip Roth, der im „Menschlichen Makel” seine Hauptperson Coleman Silk dem offenbaren Geheimnis nachgebildet hat, das Broyard zum angesehenen Kritiker machte, ohne ihn je von seiner Herkunft erlösen zu können.
Obwohl er auch da dem Klischee des gebildeten New Yorkers entspricht und immer wieder in die Analyse geht, kann sich Broyard nicht zu seiner gemischtrassischen Herkunft bekennen. Jahrelang muss ihn der immergleiche Traum gequält haben. Darin steht er wegen eines Verbrechens vor Gericht, ohne zu wissen, ob er die Tat begangen hat oder nicht. Ein literarischer Traum, so literarisch, dass er wie ein Plagiat wirkt, und wirklich führt ihn die Tochter auf Kafkas „Prozess” zurück, in dem die alteuropäische Entfremdung bereits im ersten Satz zusammenschießt: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.”
Das Böse, die nicht benennbare Schuld, die auch die Schuldlosen quält, kann nicht ausgesprochen werden. Es ist eine amerikanische (und natürlich auch eine deutsche) Erbsünde. Anatole Broyard hat mit der weißen Hausfrau geschlafen. Zeitlebens hatte er eine Vorliebe für blonde Freundinnen, und er heiratete denn auch in zweiter Ehe eine Frau, deren Vorfahren aus Norwegen kamen. Seine Kinder sollten den schwarzen Makel nicht mehr forttragen müssen. Ganz zum Schluss erfährt der Leser, dass Broyards Frau jahrelang im Alkoholismus der Vorstadt versunken war. So haben am Ende beide den Preis für das Verschweigen bezahlen müssen.
Bliss Broyard
Ein Tropfen
Das verborgene Leben meines Vaters. Eine Geschichte von Hautfarbe und Familiengeheimnissen. Aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2009. 608 S., 26 Euro.
Broyard hat die Grenze, die Schwarz und Weiß trennte, eigenmächtig überschritten
In Virginia genügte „ein Tropfen Blut”, um einen Menschen zum Paria zu machen
Anatole Broyard hatte immer eine Vorliebe für Blondinen. In zweiter Ehe heiratete er eine Frau mit norwegischen Vorfahren: Seine Kinder sollten den schwarzen Makel ihrer Herkunft nicht mehr tragen müssen. – Hier zusammen mit seiner Tochter Bliss Foto: Sandy Broyard
Bliss Broyard Foto: Berlin Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2009

Alles über meinen Vater
Der amerikanische Literaturkritiker Anatole Broyard war schwarz und wollte es nicht sein. Jetzt hat seine Tochter Bliss ein Buch über sein Geheimnis geschrieben

Als er starb und sein Geheimnis enthüllt wurde, gab es unter den New Yorker Intellektuellen nicht wenige, die behaupteten, es lange gewusst und nur nicht darüber gesprochen zu haben. Anatole Broyard, ein Schwarzer? Der berühmte Literaturkritiker von der "New York Times" mit seiner weißen Haut, seiner weißen Familie? Mit seinem Leben in Southport, Connecticut, wo er Mitglied eines Yachtclubs gewesen war, welcher nie ein schwarzes Mitglied gesehen hatte? Konnte das denn sein? Zu denen, die bis 1990, kurz vor Anatole Broyards Krebstod, nicht die geringste Ahnung hatten, gehörten seine eigenen Kinder. Broyard war schon schwer krank, als seine Frau ihn am Krankenbett überreden wollte, endlich sein Schweigen zu brechen: "Gibt es etwas, das du deinen Kindern gern sagen würdest, bevor du stirbst?" Aber er sträubte sich, wollte es noch einmal aufschieben, noch einmal darüber nachdenken, wie er es erzählen könnte, denn auf das Wie kam es an. "Ich sag's euch, aber nicht heute."

Bliss Broyard war vierundzwanzig, als die Mutter mit der Wahrheit herausrückte. Wenn er es nicht tat, dachte sie, musste sie es tun. "Und mein Bruder und ich lachten", erzählt sie. "Das ist das Geheimnis? Dass Daddy teilweise schwarz ist? Wir waren fast ein bisschen enttäuscht und fragten uns, wie schwarz er denn überhaupt sein könne, da er schließlich gar nicht so aussah. Seine Eltern seien hellhäutige Kreolen aus New Orleans gewesen und hätten sich, um in den dreißiger Jahren in New York Arbeit zu finden, als Weiße ausgegeben, erklärte meine Mutter, was meinen Vater in Verwirrung darüber gestürzt habe, was seine Familie denn nun eigentlich sei. Er war der hellhäutigste der drei Geschwister. Dass seine beiden Schwestern als Schwarze lebten, war einer der Gründe, warum er kaum noch Kontakt zu ihnen hatte. Als Kind in Brooklyn, wohin die Familie zog, als er sechs Jahre alt war, wurde er von schwarzen Kindern genauso ausgegrenzt wie von weißen - den einen war er nicht schwarz genug, die anderen wussten, dass seine Familie schwarz war. Er habe uns nichts von seiner Abstammung erzählt, sagte Mom, weil er seinen Kindern ersparen wollte, dasselbe durchzumachen."

Die verleugnete Familie

Achtzehn Jahre ist das jetzt her, und in all diesen Jahren hat Bliss Broyard sich an dem über alles geliebten Übervater abgearbeitet, an einem Mann, der nicht nur ein gefürchteter Literaturkritiker, sondern auch ein großer Charmeur und Dandy gewesen sein muss, ein ausgezeichneter Tänzer und eine schillernde Figur schon im Greenwich Village der vierziger Jahre, wo er einen unerhörten Vorschuss für einen Roman kassierte, den er nie schrieb, von dem aber alle wussten, dass er angeblich daran arbeitete. Anatole Broyard, das war die Verkörperung amerikanischer Selbsterfindung, wie man sie aus Fitzgeralds "Der große Gatsby" kennt, einer, der sich buchstäblich gemacht hatte. Wie unerbittlich er sich dafür von der eigenen Familie loszusagen bereit war, sie verleugnete, konnte die Tochter erst nach seinem Tod erahnen. Bliss fuhr nach New Orleans, spürte noch die entferntesten Verwandten auf und landete immer bei derselben Frage: "War das, was meinen Vater antrieb, Selbsterhaltung oder Selbsthass? War er ein Held oder ein Schurke?"

"Ein Tropfen. Das verborgene Leben meines Vater" heißt das Buch über "Hautfarbe und Familiengeheimnisse", das aus ihren Recherchen hervorgegangen ist. Es ist sechshundert Seiten dick - und beinahe ungeduldig wartet man beim Lesen darauf, dass die Vatergeschichte endlich beginnen möge, eine Geschichte, von der es immerhin heißt, dass sie, da war Broyard schon gestorben, von Philip Roth in "Der menschliche Makel" weiterphantasiert worden sei. Doch wählt Bliss Broyard nicht den direkten Weg, schreibt keine bloße Erinnerung, kein "memoir", wie man das in Amerika nennt. Was sie erzählt und, das leuchtet schnell ein, erzählen muss, um die kreolische Herkunft des Vaters zu ergründen, ist eine Geschichte der Südstaaten, die sie mit der unverhohlenen genealogischen Obsession, in ihrer eigenen Familie einen schwarzen Sklaven als Ahnen zu finden, bis vor den amerikanischen Bürgerkrieg zurückverfolgt. Erst ein Sklave, meint sie, könnte die Familie als "schwarz" legitimieren. Aber sie findet keinen. Die Vorfahren stellen sich als "free blacks" heraus, freie Schwarze, die in New Orleans zur Mittelschicht gehörten. Und so wirft die Autorin ihre voreilige Geschichtsromantik schnell wieder über den Haufen.

"Über Familiengeheimnisse zu schreiben", erzählt Bliss Broyard in Brooklyn, wo sie, mittlerweile 42 und gerade schwanger, mit ihrer eigenen kleinen Familie lebt, "ist allein schon eine delikate Angelegenheit, bei der es darauf ankommt, dass man sich nichts in die Tasche lügt, sich selbst gegenüber aufrichtig bleibt. Dass es bei diesem Geheimnis auch noch um Hautfarbe geht, macht es nicht einfacher. Man muss sich sehr genau befragen und nichts verhehlen, finde ich."

Das enthüllte Geheimnis

Die amerikanische Kritik war damit nicht nur einverstanden: "Was sollen wir mit der atemberaubenden Bemerkung anfangen, dass, als Bliss Broyard von ihrer schwarzen Herkunft erfährt, sie begreift, warum sie schon immer eine fabelhafte Tänzerin war?", fragte ein Rezensent, als wolle er ihr positiven Rassismus unterstellen. "Warum meint sie, bemerken zu müssen, dass sie ,unerklärlich froh' war, als O. J. Simpson, den sie für schuldig hält, freigesprochen wurde?" Dabei liegt in der bewussten Blöße, die sie sich gibt, die Stärke ihres Buchs. Denn natürlich stellt sich Bliss Broyard vor den Spiegel, sucht bei sich Spuren eines väterlichen Erbes, mit dem sie nie rechnen konnte. Was, fragt sie sich, habe ich von ihm - so, wie es jeder tun würde, wenn die eigene Identität plötzlich in Frage steht. Wer bin ich, wenn er auch das war, was er mir verheimlichte? "Ein Tropfen", benannt nach der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den Südstaaten geltenden "Ein-Tropfen-Regel", die besagte, dass jede Person, die auch nur eine Spur afroamerikanischer Abstammung im Stammbaum habe, als schwarz gelte, erzählt den Prozess dieser Reflexion als eine Selbsterprobung vor dem Hintergrund von Geschichte und Gegenwart. Es ist Anatoles, aber es ist vor allem auch Bliss Broyards Geschichte.

Als der Vater gerade gestorben war, gab es für sie keine schlimmere Vorstellung als die, jemand anderes könne den Vater zum Gegenstand einer öffentlichen "Enthüllung" machen. Es saß aber schon jemand in den Startlöchern, rief sie an, um bei Broyards Tochter Erkundigungen einzuholen. Bliss weigerte sich, Auskunft zu geben, was Henry Louis Gates, Leiter des Instituts für afroamerikanische Forschung in Harvard, nicht davon abhielt, seine detaillierte und gut recherchierte Broyard-Erkundung 1996 im "New Yorker" zu veröffentlichen, die sicher auch Philip Roth gelesen haben wird ("Der menschliche Makel" erschien 2000). Da war das Geheimnis, das für manche angeblich gar keines war, dann gelüftet.

Schwer vorstellbar, wie Anatole Broyard reagiert hätte, wenn zu seinen Lebzeiten jemand darüber geschrieben hätte. Einmal konnte er es verhindern: Um 1950 hatte Broyards Freund und Trauzeuge Chandler Brossard damit begonnen, einen Schlüsselroman über Greenwich Village in den vierziger Jahren zu schreiben: "Henry Porter, hieß es, war ein Neger, der die Seiten gewechselt hatte. Aber das wusste man nicht mit Sicherheit", lauteten die ersten Sätze des Manuskripts, die er dem Freund zeigte und gegen die Broyard sich auflehnte. In der Version, die schließlich veröffentlicht wurde, war Henry Porter einfach nur ein uneheliches Kind - und die Freundschaft der beiden Autoren zerbrochen. Brossard hatte den wunden Punkt berührt: In seiner Darstellung war Henry Porter/Broyard keiner, der sich selbst erfand, sondern einer, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht war. Genauso sah es Broyards Familie.

1963, Anatole Broyard war mit seiner Familie aufs Land gezogen, brachte das Fernsehen Abend für Abend Bilder von der Bürgerrechtsbewegung. In Birmingham, Alabama, wurden schwarze Teenager mit Wasserwerfern und Hunden in die Flucht geschlagen; Martin Luther King führte Hunderttausende Männer und Frauen auf den Marsch nach Washington; Krawalle legten Harlem und Bedford-Stuyvesant lahm. Und Broyard passte das alles nicht. Er weigerte sich, Rasse zu einer Bewegung zu machen, sich mit dem Programm einer Gruppe zu identifizieren. Freunde begannen bei ihm damals, eine neue Schärfe in Rassenfragen wahrzunehmen. Oft sagte er jetzt "Nigger" und "Bimbo" und machte abfällige Bemerkungen über Schwarze. Der Schriftsteller Charles Simmons hält daran fest, diese Bemerkungen seien ironisch gewesen. Doch ging Broyard auch später in Buchkritiken mit schwarzen Autoren viel strenger ins Gericht als mit weißen. Da war er, der Selbsthass. Die andere, abgründige Seite der Idee der Selbsterfindung.

Brief an Philip Roth

Warum sie Roth' Roman in ihrem Vaterbuch gar nicht erwähne? Die Parallelen mit Roth' Figur des Coleman Silk, einem Professor schwarzer Herkunft, der sich als Weißer ausgibt und wegen einer eigentlich unbedeutenden Äußerung als Rassist verfolgt wird, seien doch unglaublich, gerade in der Beschreibung seiner charismatischen Erscheinung? "Ich habe keinen Kontakt zu Roth", sagt Bliss Broyard. "Einmal habe ich ihn kennengelernt, auf meiner ersten Literatur-Party, ich war sehr jung, und es ist lange her. Ich wollte die Geschichte auch nicht mit Roth aufbauschen, wollte bescheiden bleiben", wobei sie dann ganz unbescheiden hinzufügt, sie habe, als das Buch fertig war, Philip Roth einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob er ihr nicht ein paar Zeilen für den Klappentext schreibe. Aber es kam nie eine Antwort.

Liest man Roth' zum Niederknien großartigen Roman noch einmal, jetzt, wo man Broyards Geschichte kennt, hat man fast den Eindruck, ihn untergründig, möglicherweise unbewusst, in Bliss Broyards Beschreibungen wiederzufinden: Die Tochter, meint man, hat noch einmal alles aufgesogen, was über ihren Vater geschrieben wurde und was er selbst schrieb; "Verrückt nach Kafka" heißt ein nach seinem Tod erschienenes Buch, Kafka war seine Lieblingsreferenz. Und nun projiziert sie Kafkas "Prozess", Kafkas "Verwandlung" oder eben auch Roth' Coleman Silk zurück auf den Vater, macht aus ihm eine Art literarische Figur, ohne ihn zum Mythos werden zu lassen. "Mein Vater", erzählt sie, "beurteilte Menschen nach ihrer Bibliothek, das war es, was für ihn zählte. Er war ein vollkommen ästhetisch orientierter Mensch, politische Romane interessierten ihn wenig. Er ging auch nie zur Wahl." - "Dann wäre er, hätte er noch gelebt, auch nicht zur Wahl gegangen und hätte Barack Obama gewählt?" - "Wahrscheinlich nicht." - "Und wie, meinen Sie, hätte er auf Obamas Wahlsieg reagiert?" - "Ich weiß nicht, ich traue ihm zu, dass er gesagt hätte, schwarz bin ich auch!" So beschreibt das Buch auch das Ende einer Ära. Mit Barack Obama ist das beklemmende Geheimnis von Anatole Broyard in gewisser Weise Geschichte geworden. Man atmet auf.

JULIA ENCKE

Bliss Broyard: "Ein Tropfen. Das verborgene Leben meines Vaters". Berlin-Verlag, 608 Seiten, 24 Euro

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