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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2001

Ein unerhörtes Merken
Autoinspektion: Walter Seitter wacht an der Pforte des Träumens

Auf dem Vorlegeblatt prangt das Bildnis Goethes: jenes berühmte Frontalporträt von der Hand des Kupferstechers Johann Heinrich Lips aus dem Jahr 1791, das die Augenpartie des Dichters besonders eindrucksvoll hervorhebt. Doch warum Goethe? Um dieses Rätsel zu lösen, muß der Leser weit vordringen, bis zur Seite 242. Dort empfängt ihn ein kursiviertes Textstück Walter Benjamins, das der "Ibizenkischen Folge" aus der Reihe der "Denkbilder" entnommen ist. Gleich eingangs beruft sich Benjamin auf Goethe und schreibt: "Denn was im Traume sich an uns vollzieht, ist ein neues und unerhörtes Merken, das sich im Schoße der Gewohnheit losringt."

Benjamins Traumbestimmung ließe sich als Aphorismus lesen, als eine Art Resümee von Walter Seitters eben erschienener "Kunst der Wacht". Allerdings wird dem Leser die Entscheidung nicht leichtgemacht. Seitter, der mit dem vorliegenden Band seine "Geschichte der Nacht" von 1999 ergänzt und zu einer "Propädeutik der Lebenskunst" vervollständigt wissen möchte, bevorzugt eine mäandernde Art der Darstellung. Entsprechend kunterbunt und unsortiert findet sich nun aufgereiht, was so alles mit den Begriffen "Träumen" und "Wachen" assoziiert werden mag: vielerlei Lesefrüchte, autoanalytische Bekenntnisse, heideggernde Etymologien und ähnliches mehr.

Halbwegs zuverlässige Orientierung bietet einzig die von Seitter mehrfach aufgenommene, der Freud-Kritik Michel Foucaults abgelauschte These, wonach der Traum selber ein Wachen sei, eine, wie es gelegentlich heißt, "exterritoriale Enklave im Schlaf". Mit dieser Konzeption soll ein Zugang zum Problemkomplex des Bewußtseins gewonnen werden, dessen Struktur sich, wie Seitter vermutet, im Traum auf originäre Weise offenbart. Eine gewisse Plausibilität gewinnt dieses nachpsychoanalytische, dieses "tychanalytische" Vorgehen da, wo es dem Verfasser gelingt, den Beobachtungsreichtum der historischen Traumbeschreibungen von der Antike bis zur Romantik in weitläufigen Exkursen zu vergegenwärtigen.

Im übrigen aber und zu ihrem Schaden fehlt dieser "Philosophie des Traums" ganz offenkundig die Umsicht einer gestalterischen Hand. Was Gliederung und Aufbau des Unternehmens betrifft, so muß der Leser mit dem vagen Hinweis auf einen "Faktor der Architektur" zurechtkommen, dem eine "Ringstruktur" zugrunde liege. An Stellen wie dieser legt sich die Nacht über den Text wie ein tiefer, traumloser Schlaf. Dabei hätte Seitter doch gewarnt sein müssen: Argwöhnt nicht schon Goethe, man werde selbst zum Traum, wenn man sich ernstlich auf seine Phantome einlasse? Und spricht nicht auch Benjamin von Alltagserlebnissen, ja von "Bodensatz" und "abgedroschenen Reden"? In Seitters Traktat über die "Kunst der Wacht" wird viel und gern geredet, aber eigentlich recht wenig gesagt.

RALF KONERSMANN

Walter Seitter: "Kunst der Wacht". Träumen und andere Wachen. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin/Wien 2001. 364 S., br., 48,50 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ulrich Raulff lässt sich in seiner Rezension nicht dazu herab, uns zu erklären, was die "Tychanalyse" ist - aber so viel erfährt der gutwillige Leser doch: Seitter ist ein Tychanalytiker, was um so weniger verwundert als er auch der Erfinder des Begriffs zu sein scheint. Versteht man Raulff recht, so versucht die "Tychanalyse" im Unterschied zur Psychoanalyse den Traum weniger zu deuten als ihn zunächst mal zu erzählen, ihn in seiner Insularität als ein zweites "Wachen" zu begreifen, ihn nicht allein auf Sprache, gar auf "Wunscherfüllung" zu reduzieren, sondern auch in seiner "Bildhaftigkeit und Plastizität" zu erfassen". Nebenbei scheint das Buch auch "drei Spaziergänge durch die Geschichte des Traumes im Abendland" zu unternehmen. Raulff schildert mit Sympathie, wo dabei Seitters Vorlieben liegen: bei der Aufklärung, bei Georg Christoph Lichtenberg etwa, weniger bei der Romantik, der Seitter nach dem Bericht des Rezensenten eine Verwischung der Unterschiede zwischen Schlafen, Träumen und Wachen vorwirft, und Seitter liebt die "klar begrenzten Dinge", zu denen er auch den Traum zu zählen scheint.

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