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Der Schriftsteller Alfred Döblin und der Mathematiker Wolfgang Döblin: Marc Petit zeichnet in dieser literarischen Biografie ein fesselndes Doppelportrait von Vater und Sohn. Als sich die deutschen Truppen im Sommer 1940 dem Vogesendorf Houseras nähern, erschießt sich Wolfgang Döblin, der Sohn des Autors von Berlin Alexanderplatz, als Soldat der französischen Armee. Sein Vater, dem die Flucht in die USA gelingt, erfährt erst nach dem Krieg von seinem Tod. Und es dauert noch viele Jahre, bis man in der Akademie der Wissenschaften in Paris auf einen Umschlag stößt, den der Mathematiker kurz vor…mehr

Produktbeschreibung
Der Schriftsteller Alfred Döblin und der Mathematiker Wolfgang Döblin: Marc Petit zeichnet in dieser literarischen Biografie ein fesselndes Doppelportrait von Vater und Sohn. Als sich die deutschen Truppen im Sommer 1940 dem Vogesendorf Houseras nähern, erschießt sich Wolfgang Döblin, der Sohn des Autors von Berlin Alexanderplatz, als Soldat der französischen Armee. Sein Vater, dem die Flucht in die USA gelingt, erfährt erst nach dem Krieg von seinem Tod. Und es dauert noch viele Jahre, bis man in der Akademie der Wissenschaften in Paris auf einen Umschlag stößt, den der Mathematiker kurz vor seinem Tod dorthin verschickt hat. Der Inhalt offenbart die Lösung für die berühmte Gleichung des Mathematikers Kolmogorow und entpuppt sich so als einer der wichtigsten Beiträge zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mit dem Öffnen des Umschlags beginnt eine Spurensuche, die vom Berlin der Weimarer Republik ins Pariser Exil der Familie Döblin führt. Mit literarischer Raffinesse und detektivischem
Spürsinn öffnet uns Marc Petit die Tür in eine Welt, in der vergilbte Papiere, zu mysteriösen Chiffren geronnene Tintenkleckse und wiederentdeckte Fotos so faszinierend sind wie die Lebensläufe der Protagonisten selbst. Diese fundierte Familienbiografie zeigt die spannungsgeladene Beziehung zwischen den beiden Genies und steht gleichsam exemplarisch für das Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie im 20. Jahrhundert.
Autorenporträt
Marc Petit, Schriftsteller und Übersetzer, wurde 1947 in Paris geboren. Er hat Geschichte an der Ecole Normale Superieure studiert und zahlreiche deutsche Werke ins Französische übersetzt. Heute lehrt er Literaturgeschichte an der Universität von Tours. Auf deutsch sind von ihm die Romane Der Eisarchitekt (1993), Der Riesenzwerg (1996) und Uroboros (1997) erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2006

Quersumme Fremdsein
Postume Begegnung zweier Genies: Marc Petits Doppelporträt von Alfred Döblin und Sohn Wolfgang

Manche Romanstoffe gibt die Wirklichkeit nicht aus der Hand. Der Autor mag daran zerren, wie er will: Er muß um den Stoff herum eine eigene Form erfinden. "Récit", Bericht, hieß dieses aufsehenerregende Buch im französischen Original (F.A.Z. vom 15. Mai 2003). Die deutsche Ausgabe verzichtet ganz auf eine Gattungsbezeichnung, zu Recht. Bei so einer Geschichte kann der Autor sich nur damit begnügen, die historische Wirklichkeit dramaturgisch ins wirkungsvollste Licht zu rücken. Der Romancier, Essayist, Germanist Marc Petit versteht dies vorzüglich, mit jener Redseligkeit, die noch zwischen den entlegensten Details des recherchierten Materials einen möglichen Zusammenhang konstruiert. Wäre dieses Buch ein Drittel kürzer, wir würden nichts Wesentliches vermissen. Doch sein Inhalt trägt auch über fast vierhundert Seiten hinweg.

Die Geschichte beginnt in Petits geschickter Inszenierung an einem regnerischen 21. Juni 1940. Ein fünfundzwanzigjähriger Übermittlungssoldat der praktisch schon aufgelösten französischen Armee, Wolfgang Döblin, irrt durch die Vogesen und schießt sich in einer Scheune eine Kugel durch den Kopf. Alfred Döblin, sein Vater, der ein paar Tage zuvor Paris verlassen hatte, irrt mit einem Koffer in der Hand durch Rodez auf der Suche nach seiner Frau Erna. Diese war mit dem jüngsten Sohn Stefan auf der Flucht vor den Deutschen schon einen Monat früher nach Südfrankreich gereist, sucht nun ihrerseits den nachkommenden Gatten und übernachtet, ohne es zu wissen, im selben Auffanglager, das ihr Mann gerade verlassen hat. Vom Tod Wolfgangs werden die Döblins erst nach Kriegsende erfahren. Eine Geschichte also, wie sie in ihrer tragischen Banalität tausendfach vorkam und erzählt wurde - wäre da nicht die erstaunliche Figur Wolfgangs.

Denn von ihr muß ja eine Spur in den Lesesaal des Institut de France am Quai de Conti in Paris führen, des Sitzes der fünf großen Akademien Frankreichs, in welchem der Erzähler Petit im zweiten Kapitel, durchs Fenster gerade einer Katze beim Herumstreunen auf den gegenüberliegenden Hausdächern zuschauend, auf die Auslieferung des bestellten Dokuments wartet. "Über die Gleichung von Kolmogoroff - von W. Doeblin", liest er dann auf dem Umschlag. Gelegt wurde diese Spur in Form einer Gleichung im Februar 1940. Der Schriftstellersohn Wolfgang Döblin, mit französischem Namen Vincent Doblin, hatte in Paris gerade sein Mathematikstudium abgeschlossen und die langen Kriegswochen an der Front damit verbracht, eine vom russischen Mathematiker Andrej Nikolajewitsch Kolmogorow 1931 publizierte Gleichung der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu lösen. Im Februar 1940 steckte er sein rund hundertseitiges Manuskript, in dem die künftigen Forschungsergebnisse der Nachkriegszeit zu diesem Problem schon vorweggenommen sind, in einen Umschlag und schickte ihn ans Institut de France.

Dort ruhen seit dem achtzehnten Jahrhundert zahlreiche Einsendungen bekannter oder vergessener Forscher. Wer seine Erfindung oder Entdeckung an diese Adresse schickt, kann sicher sein, daß der Umschlag hundert Jahre lang versiegelt bleibt und nur auf ausdrückliches Verlangen der Erben geöffnet werden kann. So hatte der Mathematiker Jean Bernoulli 1701 sein Forschungsergebnis zu diversen Problemen der Isoperimetrie eingesandt mit der Auflage, es dürfe erst gelesen werden, wenn sein Bruder Jacques sein eigenes Ergebnis vorgelegt habe. Welch eigener Reiz schwebt über diesen beim Öffnen längst überholten Erfindungen und hinfälligen Utopien - geht es dem immer noch vor dem Döblin-Dokument sitzenden Marc Petit durch den Kopf. Vom Inhalt der ihm ausgehändigten mathematischen Arbeit versteht er nach dem ersten Satz keine Zeile mehr. Doch war er ja auch nur gekommen, um Lebenszeichen vom jungen Döblin zu finden, von dem es sonst fast keine Spuren mehr gibt.

Erfahren hatte der Autor von der Geschichte Wolfgangs im Frühjahr 2001, als bekannt wurde, daß dessen Umschlag auf Verlangen des noch lebenden Bruders Claude am Institut de France geöffnet wurde und erstaunliche Ergebnisse freigab. Die Durchsicht der Korrespondenz des Mathematikers Maurice Fréchet, Wolfgangs Lehrer, hatte den Mathematikprofessor Bernard Bru in den frühen neunziger Jahren auf die Fährte dieser Einsendung gebracht. Was eine Fußnote in der Geschichte der mathematischen Forschung hätte bleiben können, wird durch die Erzählbegabung Marc Petits nun zum dokumentarischen Monument einer stumm gebliebenen Vater-Sohn-Beziehung und zur postumen Begegnung zweier Genies, die aneinander vorbeilebten. Dafür mußte der Autor ein eigenes narratives Vorgehen entwickeln. Um dem kurzen, wortkargen Leben des Sohns ohne eigene Hinzuerfindungen etwas abtrotzen zu können, läßt er dessen Profil vexierbildhaft aus dem des mitteilungsfreudigen Vaters erstehen. Das aus Archiven und aus Gesprächen mit den noch lebenden Döblin-Söhnen Claude und Stefan zusammengekommene Material ist eindrücklich.

"Berührungen mit São Paulo ... Mendoza und Tujuba ... indianische Messe ... die Sklavenjagd ... schreiende Papageien ..." liest der Biograph spiegelverkehrt aus der Maschinenabschrift vom Vater auf der Rückseite eines Blatts, dessen Vorderseite mit Gleichungen vom Sohn vollgeschrieben ist. Von den Büchern Alfred Döblins hat Wolfgang, so Marc Petits Vermutung, allenfalls "Berlin Alexanderplatz" gelesen. Für die mathematische Begabung Wolfgangs wiederum konnte Alfred keinerlei Interesse aufbringen. Der Autor Marc Petit fügt, die Erzählung gelegentlich mit Reflexionen über die zahllosen Möglichkeiten der Gattung Biographie unterbrechend, sein eigenes Ich vermittelnd manchmal etwas aufdringlich in den chronologisch vor- und zurückspringenden Fortgang der Kapitel ein.

Man braucht ihm nicht in allen Einschätzungen zu folgen. Wieweit die Schlachthausszenen in "Berlin Alexanderplatz" die nationalsozialistischen Exterminierungslager vorwegnehmen, bleibe dahingestellt. Auch ob Döblins "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende" eine späte Konfrontation mit dem verstorbenen Sohn sei, ist Ansichtssache. Wenn Petit aber, mit Abschweifungen unversiegbar, Wissenswertes und Kurioses aus den präzis recherchierten Details zusammenfügt und beim immer krummen Gang durch Archive und Städte Stimmungen aufsteigen läßt, entsteht ein ganz eigenes Genre der biographischen Literatur. Dem auf gemalten Darstellungen stets farbtot wirkenden Berlin zu Jahrhundertbeginn, einer freudlos, scheinbar nur aus Pflicht ihre Reichshauptstadtrolle erfüllenden Stadt, antwortet in Petits Bericht die Kleinstadt-Melancholie Marbachs, malerisch und altmodisch unter dem eisigen Wind von der Schillerhöhe herab, wo "früher ein Galgen gestanden haben muß, wenn man die Zahl der Raben bedenkt, die sich eingenistet haben und mit ihrem Krächzen die schweigsam über ihre Tische gebeugten Forscher unten im Literaturarchiv zur Arbeit anhalten".

Der besondere Reiz dieses Buchs liegt darin, daß das Faktische anders als bei bekannten Beispielen der dokumentarischen Literatur wie Peter Härtlings "Hölderlin"-Roman oder Jürg Ammanns Robert-Walser-Buch "Verirren" hart am Phantastischen wohnt. In seinen früheren Romanen "Riesenzwerg" oder "Goethes letztes Geheimnis" hat Petit das Modell einer literarischen Realitätsüberhöhung entwickelt, die manchmal an Jorge Luis Borges denken läßt, jedoch stets diesseits der Demarkationslinie zur Fiktion stehenbleibt. Das psychologische und künstlerische Profil Alfred Döblins, das aus diesem Buch hervorgeht, bringt keine subtil herausgearbeiteten neuen Züge zutage. Es wirkt allein aus der banalen Alltäglichkeit eines Pariser Exilantendaseins im engen Familienkreis.

Bei aller Verschiedenheit trafen Döblin Vater und Sohn einander im selben Fremdheitsgefühl gegenüber dem Leben - Marc Petit spricht von einer gemeinsamen "Idiotie", die den einen zur literarischen Wirklichkeitscollage, den anderen zum sonderbarsten Zweig der Mathematik auseinandertrieb. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund wirkt das verbindende Fremdbleiben in diesem souverän übersetzten Buch extravagant, unterhaltsam und zugleich etwas bedrückend.

Marc Petit: "Die verlorene Gleichung". Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin. Aus dem Französischen übersetzt von Antoinette Gittinger. Eichborn Verlag, Frankfurt 2005. 397 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großer Faszination und Anteilnahme bespricht Rezensent Joseph Haniman dieses "extravagante" Buch des französischen Romanciers, Essayisten und Germanisten Marc Petit über Alfred Döblin und seinen Mathematiker-Sohn Wolfgang, der sich 1940 das Leben nahm. Den Rezensenten begeistert diese "posthume Begegnung zweier Genies" nicht nur als "dokumentarisches Monument einer stumm gebliebenen Vater-Sohn-Beziehung", sondern auch als ganz "eigenes Genre der biografischen Literatur". Das zusammengetragene Material findet Haniman eindrücklich und präzise recherchiert, die"historische Wirklichkeit" von Alfred Döblin und seinem hochbegabten Sohn dramaturgisch wirkungsvoll dargestellt. Besonders beeindruckt den Rezensenten Petits Fähigkeit, noch zwischen den entlegensten Details Verbindungen zu konstruieren. Gelegentlich wohnt das "Faktische" dabei "hart am Phantastischen", allerdings ohne je die "Demarkationslinie zur Fiktion" zu überschreiten, schreibt Hanimann und macht darin einen besonderen Reiz dieses Buches aus, das er im Übrigen "souverän" von Antoinette Gittinger ins Deutsche gebracht findet.

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