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Produktdetails
  • Verlag: Eichborn
  • Seitenzahl: 54
  • Abmessung: 15mm x 145mm x 252mm
  • Gewicht: 288g
  • ISBN-13: 9783821851099
  • ISBN-10: 3821851090
  • Artikelnr.: 22462346
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2000

Wer nicht hören will, muss lesen!
Unverbindliche Mutmaßungen über die Anfänge der Poesie

Diese fünfzig Seiten Büttenpapier, geziert mit Motiven pompejanischer Wandmalerei, sind die bibliophile Verpackung für zwei CDs, auf denen ein über zweistündiges Gespräch aufgezeichnet ist, das die Rundfunkredakteure Hubert Winkels und Denis Scheck mit Raoul Schrott und Hans Magnus Enzensberger geführt haben. Anlass und Gegenstand dieser "Mutmaßungen" ist die 1997 von Schrott herausgegebene Anthologie "Die Erfindung der Poesie". Am Leitfaden dieser Sammlung führen die Moderatoren ihre Gesprächspartner von der sumerischen Priesterin Enmheduanna des 24. vorchristlichen Jahrhunderts über Sappho, Catull und einen arabischen Preisgesang aus vorislamischer Zeit bis zu Wilhelm IX. von Aquitanien, dem 1127 gestorbenen ersten Troubadour. Die Beispiele rezitiert Schrott in der jeweiligen Originalsprache, bei der Rezitation der Übersetzungen übernimmt auch Enzensberger seinen Part. Der weltliterarische Ansatz überzeugt ihn: "Das ist etwas! Gerade in der heutigen literarischen Situation könnte hier eine Mangelkrankheit, wenn nicht geheilt, so doch ein bisschen gebessert werden - diese armen Ignoranten alle."

Auf die Erfahrung mit Fremdsprachen gründet Raoul Schrott auch den Ursprungsmythos seines eigenen Dichtertums. Er erzählt ihn bereitwillig auf das Stichwort "Sie sind in Tunis aufgewachsen . . ." (und noch einmal schöner zu Beginn eines kleine Essays am Ende des Bändchens): Die Faszination am Klang des Arabischen und des Französischen, von denen der Schuljunge das eine so wenig wie das andere verstand, mag ihn schließlich zur Poesie geführt haben ("da musste man ja immer erraten, was die gerade meinten, bevor man dann die Prügel dafür bezog"). So mysteriös wie der Klang ist für ihn auch das Dichten: "Das ist einfach eine gewisse Art von Haltung, von der man ja nie weiß, ob man sie hat." Maßstab und Hilfe gibt da die Tradition, und Raoul Schrott gesteht nur zu gern, dass Enzensbergers "Museum der modernen Poesie" von 1960 eines der wichtigsten frühen Bücher für ihn gewesen ist. Dort habe er erkannt, dass Lyrik "eine archaische Art der Erkenntnis" sei: "die Poesie lebt von der ewigen Wiederkehr", schreibt er in dem kleinen beigegebenen Essay.

Raoul Schrott hat alle Texte seiner Anthologie selber ins Deutsche übersetzt. "Übersetzen ist dann einfach eine passionierte Art des Lesens und auch eine Art von Egoismus, weil man es immer in seine Sprache bringen will." Das lobt der erfahrene Mentor und unterscheidet zwischen toten und lebendigen Übersetzungen: Die philologischen sind "tadellos, aber tot", während er von Schrotts Texten ohne Zögern sagen kann: "Diese Texte leben."

Hier wagt der Moderator Denis Scheck ein einziges Mal, den Dichter etwas aus seiner Reserve zu locken: "schwindsüchtige Schlampe" und "es treiben" in einer Übersetzung von Catull, "das sind ja nun Beispiele für ein Aktualisierungsverfahren, wie Sie es fast durchgängig in Ihrer Anthologie betreiben?" Es fällt dem Nachdichter nicht schwer, sich von dem Verdacht der kecken Provokation zu befreien, und in der Tat ist Catulls "febriculosi scorti" (fiebrige Hure) eher noch etwas gröber als sein Wiederbelebungsversuch. Aber das stimmt schon, dass ihn die Prüderie früherer Generationen ganz besonders zur Aktualisierung, sozusagen zum aktiven Widerstand reizt.

Enzensberger, der nun wirklich über das Verfassen von Lyrik genug öffentlich nachgedacht hat, bleibt an der Oberfläche, wenn zentrale Begriffe der Poetik auftauchen: "Ja, man muss ein bisschen vorsichtig sein mit diesem lyrischen Ich. Das ist so ein Begriff aus dieser ganzen poetischen Theorie. Das ist natürlich eine ganz komplizierte Konstruktion." Raoul Schrott schürft auch nicht tiefer, als langweilte ihn die Wiederholung von etwas, das er schon geschrieben hat. Den Troubadour Wilhelm IX. (seine Namensform ist übrigens nicht Guihelm, sondern Guilhem), der zuerst arabische Reime nachgeahmt habe, stellt er so vor: "Dann merkt er, mit der Zeit geht ihm einfach die Luft aus, und dann bildet sich die Strophe heraus, weil man halt öfter den Reim wechseln muss. Dann gibt es eigene semantische Einheiten. Ich denke mir, dass das doch ziemlich klar ist. Übrigens Guihelm, weil man sich das so schlecht vorstellen kann, hat 1071 bis 1127 gelebt und war vor allen Dingen der Urgroßvater von Richard Löwenherz." Einmal gehört, sind solche Anmerkungen womöglich akzeptabel, wenn sie auch nicht viel Aufschluss über Wilhelms Strophenkunst und Schrotts Poetik geben; bibliophil gedruckt, fallen sie in die Sparte unfreiwilliger Humor.

Die Moderatoren zeigen gern, dass sie keine Ignoranten sind, sondern Schrotts Buch genau gelesen haben. Die Gesprächsanregungen haben häufig die Form von Prüfungsfragen, die Raoul Schrott auch als solche beantwortet: "Nun hat Catull auch ein sehr interessantes Leben geführt . . . Vielleicht können Sie ein bisschen davon erzählen, Herr Schrott." Manchmal antwortet er dann auch einfach etwas Falsches, zum Beispiel über das Okzitanische, und niemand korrigiert es: "Können Sie sprachgeschichtlich ganz kurz sagen, was ist das für eine Sprache?" Da umfasst das Okzitanische auch das Rätoromanische, und es ist "die erste Sprache, die nicht direkt indoeuropäischen Ursprungs ist, . . . aus der letztlich dann das Französische wie, sagen wir, aus dem Gotischen das Deutsche". Wie viele Dichter vor ihm beklagt Raoul Schrott, dass das Deutsche "mit Konsonanten überfrachtet ist". Aber wer so empfindlich auf Klänge und Tonfälle ist, muss doch nicht im Wort "Schnaps" sechs Konsonanten zählen, wo es nur vier hat?

Dass jede mündliche Rede voller Anakoluthe und anderer Regelwidrigkeiten steckt, weiß man, und es gehört zum Reiz eines jeden Interviews. Aber dass gerade zwei deutsche Dichter, der eine auf der Höhe des Ruhms, der andere auf dem besten Wege dazu, sich so nonchalant ausdrücken, ist ihrem Gegenstand nicht zuträglich. Freilich ist jeder einzelne Lapsus, jede einzelne schwache Formulierung verzeihlich, aber muss man sie dann auch noch buchstabengetreu drucken? Raoul Schrott, der ja Latein kann, sagt zum Beispiel regelmäßig "der Textkorpus". Ärgerlicher ist, dass er ausschließlich und immer wieder von "oraler" Poesie spricht. Im Deutschen steht "oral" in Medizin und Psychologie in Entsprechung zu "anal", in der Linguistik zu "nasal" und "guttural". Was man im Französischen "poésie orale" nennt, heißt auf Deutsch "mündliche Poesie". Wer mit vielen Sprachen umgeht, ist anfällig für solche Interferenzen. Dass Inhalt und Ausdruck des mit viel Sorgfalt gemachten Büchleins so oft nicht auf dem Niveau dieser Gestaltung sind, muss man bedauern; vielleicht haben die Redakteure ihren Gästen und alle vier der Poesie einen Bärendienst erwiesen haben.

HANS-HERBERT RÄKEL

"Mutmaßungen über die Poesie". Herausgegeben von Denis Scheck und Hubert Winkels. Lesungen und ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger und Raoul Schrott. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 67 S., 2 CDs, geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwei CDs, die ein langes Interview enthalten, das zwei Rundfunkredakteure mit Raul Schrott und Hans Magnus Enzensberger geführt haben, schält Hans-Herbert Räkel aus bibliophilem Büttenpapier mit etwas Text und viel pompejanischer Wandmalerei. Zunächst spürt man noch das große Wohlwollen des Kritikers gegenüber dem Projekt, das aber bald deutlicher Enttäuschung weicht. So folgt Räkel erst noch willig Schrotts Ausführungen über die "Erfindung der Poesie", ärgert sich dann aber zusehends über die selbstverliebte Oberflächlichkeit und eine zur Stilblüte neigende Geschwätzigkeit des Dichters, dem die Interviewer nichts entgegen zu setzen hätten. Ihre Gesprächsanregungen seien häufig auf dem Niveau von Prüfungsfragen. Auch Enzensberger "der nun wirklich über das Verfassen von Lyrik genug nachgedacht hat" enttäuscht den Rezensenten. Am Ende hält er die schöne Hülle in den Händen und stellt erschüttert fest, dass "Inhalt und Ausdruck ... sooft nicht auf dem Niveau dieser Gestaltung sind".

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