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"Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, daß ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschrieben habe", sagt Savinio und stellt damit klar, daß er zu den eigensinnigsten Autoren des zwanzigstens Jahrhunderts zählt. Leonardo Sciascia hat behauptet, man habe es mit "dem größten italienischen Schriftsteller seiner Zeit" zu tun. Das mag eine Übertreibung sein. Fest steht allerdings, daß ihn an Extravaganz keiner übertrifft.
Savinio paßt in keine Schublade. Man kann in ihm einen Traditionalisten, einen Aristokraten sehen. Doch stand er mit der europäischen Avantgarde auf Du und
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Produktbeschreibung
"Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, daß ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschrieben habe", sagt Savinio und stellt damit klar, daß er zu den eigensinnigsten Autoren des zwanzigstens Jahrhunderts zählt. Leonardo Sciascia hat behauptet, man habe es mit "dem größten italienischen Schriftsteller seiner Zeit" zu tun. Das mag eine Übertreibung sein. Fest steht allerdings, daß ihn an Extravaganz keiner übertrifft.

Savinio paßt in keine Schublade. Man kann in ihm einen Traditionalisten, einen Aristokraten sehen. Doch stand er mit der europäischen Avantgarde auf Du und Du, war befreundet mit Picasso, Apollinaire und den Surrealisten, wetteiferte mit seinem Bruder Giorgio de Chirico, und tat sich als Maler, Komponist, Choreograph und Reporter hervor.

Doch vor allem war Savinio ein bedeutender Essayist, und so ist es kein Wunder, daß sein privates Lexikon aus höchst originellen Aufsätzen besteht. Das Alphabet erlaubt es ihm, mit der größten Unbefangenheit von einem Thema zum andern zu springen: von der Allwissenheit zur Amöbe, vom Don Quichotte zum Druckfehler, von der Solidarität zu den Süßspeisen und vom Ziborium zur Zoographie.

Hier wird man nicht sowohl belehrt als überrascht. "Ich unterhielt mich mit meinem Freund B. über Schatten." - "Das Unendliche ist eine Frage der Atmosphäre" - "Die Kunst ist heidnisch" - "Ich habe keine große Erfahrung mit Gefängnissen": Mit solchen Sätzen schlägt der Essayist einen leichten Ton an, der verführerisch ist und uns immer tiefer in das Labyrinth seiner Gedanken lockt.
Autorenporträt
Christine Wolter, geboren 1939, ist Erzählerin, Nachdichterin und Herausgeberin. Lebt in Albavilla, Italien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Apollo war auch nur ein Golfspieler
Meister der Verkleinerung: Alberto Savinios "Neue Enzyklopädie" in einer erweiterten Neuausgabe / Von Henning Ritter

Der kleine Bruder ist er schon lange nicht mehr. Etwa ein Vierteljahrhundert dauerte es nach seinem Tod im Jahre 1952, bis Alberto Savinio aus dem Schatten seines Bruders Giorgio de Chirico endgültig heraustrat. Schon früh hatte sich der Jüngere einen anderen Namen zugelegt, um nicht mit dem älteren Bruder verwechselt zu werden, mit dem er in einer geistigen und künstlerischen Symbiose lebte. 1905 waren die beiden nach dem Tod des Vaters nach München gegangen, der Jüngere studierte dort bei Max Reger Komposition, der Ältere an der Kunstakademie Malerei bei einem Lehrer, der noch nie einen Pinsel in der Hand gehalten hatte. Die Münchner Zeit, die in den Arkaden von de Chiricos frühen Bildern - man darf darin den Hofgarten wiedererkennen - ihre Spuren hinterlassen hat, war für beide eine höchst folgenreiche Episode, nicht zuletzt durch den von beiden geteilten Enthusiasmus für Arnold Böcklin, für Wagner und für die spätromantische deutsche Malerei.

Als sie 1910 gemeinsam nach Paris gingen, erregten de Chiricos Bilder und Albertos Kompositionen und Klavierabende bei der Avantgarde großes Aufsehen. Ihre Entdeckung durch die Surrealisten blieb nicht aus, Savinio fand später sogar Eingang in André Bretons "Anthologie des Schwarzen Humors". Aber treue Surrealisten wurden sie nicht. De Chirico wandte sich von der Avantgarde ab und verschanzte sich in seiner metaphysischen Malerei, während Savinio von Anfang an mit der in seinen Augen biedermännischen Ernsthaftigkeit der Surrealisten - "ein kleiner Stamm steriler Schriftsteller ohne poetische Phantasie" - wenig anfangen konnte.

Es ist ein Rätsel der Biographie von Alberto Savinio, daß er, der aus dem Schatten des Bruders heraustreten wollte, 1927 plötzlich zu malen und auszustellen begann - Bilder, von denen jedes an die des Bruders erinnerte, doch wie eine freie, leichthändige Paraphrase von dessen Themen und Motiven wirkte. Während das Werk des Älteren immer stummer und verschlossener erschien, war die Malerei des Jüngeren gesprächig im gemeinsamen Idiom. Giorgio der Maler und Alberto der Musiker, diese Unterscheidung gilt schon lange nicht mehr. Mit den Jahren und durch viele Ausstellungen hat sich Alberto Savinios Eigenständigkeit als Maler erwiesen.

Und postum ist auch sein schriftstellerisches Werk in größere Dimensionen gewachsen. Der Mailänder Verlag Adelphi begann Ende der siebziger Jahre, ein Buch von Savinio nach dem anderen herauszubringen - Romane, Szenen, Essays, Zeitungsartikel. Als Journalist hatte Savinio, wie man nun bemerkte, eine Chronik Italiens verfaßt. Als sie nun wie aus Mosaiksteinchen zusammengetragen wurde, erwies sie sich zugleich als das höchst idiosynkratische Werk eines passionierten Literaten. Diesem journalistischen OEuvre entstammt auch die "Nuova Enciclopedia", die jetzt zum zweiten Mal und um einige Stücke erweitert in deutscher Übersetzung erscheint. Die erste Ausgabe unter dem Titel "Neue Enzyklopädie" war 1983 im Insel Verlag herausgekommen, als die Wiederentdeckung Savinios gerade erst begonnen hatte. Das Echo war gering.

Der Titel der Neuausgabe "Mein privates Lexikon" ist nicht schlechter und nicht besser als der alte. Auch er hält sich an die Erläuterung, die der Autor zu seinem Vorhaben gegeben hatte: Wie Schopenhauer sich eine Philosophiegeschichte für seinen privaten Gebrauch schrieb, weil er mit den vorhandenen nichts anfangen konnte, so wollte sich Savinio aus Unzufriedenheit mit den gebräuchlichen Enzyklopädien der Zeit eine eigene für seine privaten Zwecke schreiben. Nun sieht jeder Leser sofort, daß die lexikalische Anordnung nur ein Vorwand ist. Denn was hier unter lexikalischen Schlagworten zusammengetragen wurde, ist nicht zu rubrizieren, und privat ist dieses ein Lexikon in Grenzen.

Was sich unter dem Deckmantel einer ironischen Enzyklopädistik verbirgt, ist eine Chronik der Epoche nach dem Untergang der bürgerlichen Welt. Hineingewebt ist eine Sprachgeschichte des italienischen Faschismus. Im Januar 1941 richtete die berühmte Mailänder Architekturzeitschrift "Domus" eine neue Rubrik ein: "Nuova Enciclopedia", verfaßt von Alberto Savinio, der die einzelnen Stücke auch mit Zeichnungen illustrierte, die in die deutsche Ausgabe neben Farbtafeln von Gemälden Savinios aufgenommen wurden. Dreiundzwanzig Folgen erschienen, zunächst Buchstabe für Buchstabe. Später entledigte sich der Verfasser dieses Korsetts. Es hatte aber eine neue literarische Form erzwungen: von beliebigem Ausgangspunkt ans Ziel zu gelangen. Die Form mußte für alles, auch das Aktuelle, aufnahmefähig sein, das sich hinter den gelehrt und skurril wirkenden Stichworten gut verbergen ließ.

Leider sind die zu Savinios privatem Lexikon versammelten Stücke nicht datiert, so daß der Leser die Zeitbeobachtungen des Autors nicht ihren Anlässen zuordnen kann. An Deutlichkeit läßt aber seine Sprachkritik der "Fünfjahresplan-Kultur" des Faschismus nichts zu wünschen übrig, auch wenn sie eher unterhaltsam als aggressiv sein will. Seine Schilderung der Verfolgung des Wortes "papa", weil es ein Gallizismus sei, schließt mit dem Seufzer: "Wenn doch alle Wörter dieses klare Gesicht, die Aufrichtigkeit, diese Überzeugungskraft hätten." Die Versenkung in Wortgeschichten ist keine Spezialität des Autors, denn alle Spezialitäten und Spezialisten sind von Übel, sondern seine Leidenschaft. Die Etymologie ist sein Glaubensartikel. Der Titel seines Buches hätte auch lauten können: Meine private Etymologie. Den Spuren der Verwandlung der Wörter zu folgen ist für ihn mehr als nur Zeitvertreib.

Wie die Mythologie ist die Etymologie von der Wissenschaft angeblich entkräftet, in Wahrheit aber unberührt zurückgeblieben. Savinio glaubt, mit Hilfe dieser wilden Schwester Blicke in die Seele der Wörter zu tun. Tiefsinn vermeidet er dabei, wie auch in seiner Privatmythologie, die so unbefangen über die antiken spricht, wie es nur Polytheisten tun können. Das Bild Apolls mit Sonnenbrille, das Giorgio de Chirico gemalt hat, entspricht Savinios Porträt des Gottes: "Apollo ist der oberflächlichste der Götter, der eitelste, der unbedeutendste. Apollos sind reichlich unter uns vorhanden . . . Der sogenannte Apollo von Belvedere ist das Bildnis eines Golfspielers." Auch die Diana im Louvre sei eine Sportlerin. Savinios böser Blick sieht in dieser Götterwelt das Verfehlte, das sich in der Melancholie, die über allen liegt, ausdrückt, und meint, daß einige von diesen Göttern "zu weit gegangen" seien.

Wer sich so frei in Mythologie und Etymologie ergeht wie dieser Autor, hat auf Philosophie und Wissenschaft leichten Herzens verzichtet. Denn sie haben alles, was ihn anzieht, in seiner Substanz unberührt gelassen: die Spiele des Zufalls, der Druck- und Setzfehler, die Kalauer und die Fehlleistungen des Alltagslebens. Anders, als Freud meinte, bedürfen sie nicht der Aufklärung - denn ohne sie funktionieren sie besser. Savinio, der Avantgardist, der zum unaufgeregten Antimodernen wurde, bemerkte schon während des Faschismus, wie das Wort "Sanierung" seine Karriere begann und die Sprache, bald auch die Städte und die Vergangenheit zu erfassen und mit einer unaufhaltsamen Verbissenheit zu reinigen begann.

Savinios außenseiterisches Etymologisieren, sein Aufspüren der Zufälle, seine Freude an den Lehren der Druckfehler haben etwas von der Freude des Überlebens. Und mit einem gewissen Behagen beobachtet er, daß, seitdem die Etymologie ihre Autorität und Glaubwürdigkeit einbüßte, die Erklärungen überhandnehmen und immer weniger erklären. Die Verwirrung ist gewachsen, statt geringer zu werden, wie es das Versprechen der Wissenschaft war. Die Etymologie, nicht die Wissenschaft, folgt dem Prinzip der Sparsamkeit. Sie befriedigt das Bedürfnis nach Erklärung und hält Wörter und Dinge zusammen. Der Philologie ist sie durch ihre spielerische Freizügigkeit überlegen, sie zeigt, daß Gewißheit und Vieldeutigkeit einander nicht ausschließen.

Alberto Savinio ist ein Meister der Verkleinerung, darin Robert Walser ähnlich. Alles gerät ihm unterderhand ins Kleine, weil er die Größe und ihre Prätentionen nicht anerkennt. Alles, was groß zu sein vorgibt, muß sich dem Kleinen beugen. Savinio interessiert sich für das Schicksal der kleinen Dinge. Als er beobachtet, wie das Karussell zu verschwinden beginnt, erzählt er die Tragödie eines kleinen Karussells: "Das Karussell", so heißt es am Schluß, "geht zugrunde, weil sich das Leben in ein Karussell verwandelt."

Wer ist dieser Autor? Ein von seiner Zeit Enttäuschter, der sich in die Vergangenheit zurücksehnt, ein Nostalgiker? Nichts von alledem, denn er sieht auf die Vergangenheit wie auf die glatte Oberfläche des Meeres. Das Vergangene zu kritisieren sei sinnlos, meint Savinio und hält es auf der anderen Seite für so veränderlich wie die Mythen und Wörter. Ihre Verwandlungen füllen seine Gegenwart aus. Savinio ist auf der Jagd nach den kleinen Erleuchtungen, zu denen es auf den Wegen der Mythologie, der Etymologie oder des Zufalls kommen kann und für die auch die Chronik seiner Epoche reiches Material bot.

In der Haltung dieses Chronisten, in seiner Wahrnehmung, die jeder Reglementierung abhold ist, ist die des Avantgardisten von einst, der die Souveränität der Phantasie ausrief, noch erkennbar. Er hat einmal in der vordersten Linie gestanden, mit den Jahren aber seinen avantgardistischen Furor abgelegt, ohne zum Renegaten zu werden - ein geläuterter Avantgardist.

Alberto Savinio: "Mein privates Lexikon". Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter. Aus dem Italienischen übersetzt von Christine Wolter und Karin Fleischanderl. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005. 490 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2005

So leuchtet er mit sich selbst voran
Ein Lehrer und Freund seines Lesers: Alberto Savinio öffnet sein „privates Lexikon”
Das Lesen ist, so scheint es, zu einer dermaßen lobenswerten Tätigkeit verkommen, dass ihm alle Beiläufigkeit, alle Leichtigkeit, alle Beliebigkeit ausgetrieben ist. Der „Welttag des Buches” ist ein Verhängnis für das Lesen, weil es diese Beschäftigung, die doch die freieste aller Tätigkeiten sein kann, in ein Verdienst verwandelt, und die Fleißkärtchen sind dabei nicht fern. Und überhaupt: Wie selten ist es, dass einer, der liest, nur liest. Er liest dann und wann, gewiss, aber er träumt auch, geht seinen Gedanken nach, lässt seinen Phantasien freien Lauf. Und der eine Satz, dem man dem so Befreiten nicht zumuten kann, lautet: „Wie schön, dass du liest.” Er klingt, als gäbe es eine Zensur für das Glück.
Eines der beglückendsten - und glücklichsten - Bücher der Literaturgeschichte hat sich als Enzyklopädie verkleidet. „Mein privates Lexikon” heißt dieses jetzt in der „Anderen Bibliothek” neu herausgegebene Werk des Malers, Musikers und Publizisten Alberto Savinio, des Bruders von Giorgio de Chirico. Entstanden ist es größtenteils in den frühen vierziger Jahren, während des Zweiten Weltkriegs, in Gestalt von Skizzen oder Kolumnen für die berühmte italienische Architekturzeitschrift Domus. So beglückend ist es, weil es die schönste Erfahrung des Lesens, eben jenes inspirierte, durch die Lektüre beherrschte und vorangetriebene intellektuelle Herumschweifen, zu seiner literarischen Form gemacht hat. Das setzt viel voraus: eine große Bildung und eine unerschöpfliche Phantasie, dramaturgisches Können und am Ende auch Strenge. Alberto Savinio, geboren 1891 als Sohn eines italienischen Eisenbahningenieurs in Griechenland, gestorben 1952 in Mailand, scheint all diese Eigenschaften besessen zu haben, und noch einige mehr: ein großes Talent zur Freundschaft, auch mit dem Leser, und eine übergroße Freigebigkeit.
„Giraffe” lautet ein Eintrag in diesem Lexikon. Er beginnt mit einem Besuch im Zoo, wo der Autor feststellt: „Zebaoth war ein Schludrian. Seine Sintflut war nur eine große Wäsche und nicht das große Reinemachen, das sie sein sollte. Die Erde ist voll von vorsintflutlichen Tieren.” Eines davon ist die Giraffe mit ihrem kleinen Kopf und ihrem langen Hals, was aussieht, als trüge ein großer Tierkörper eine lange Stange mit einem Mikrophon vor sich, auf dem oben zwei Rasierpinsel befestigt seien. Die Beobachtung geht dann über in eine Reflexion über das Verhältnis von Leib und Kopf und endet bei den Märtyrern, die ihren Kopf in der Hand tragen, sowie mit einem Zitat aus Dante: „So leuchtet er mit sich selbst voran.” Nur zwei Seiten ist dieser Eintrag lang und doch nicht nur ein Exkurs über Proportion und natürliche Komi, sondern auch ein Sinnbild für den Körper in seinem Verhältnis zum Denken, ein mit ausschließlich physiognomischen Mitteln gearbeitetes kleines Denkstück.
Enzyklopädien sind in aller Regel alphabetisch organisiert. Ihre Aufgabe ist es, das Wissen ihrer Zeit nach einheitlichen Kriterien zu organisieren und darzustellen. Das Organisationsprinzip behält Alberto Savinio eine Zeit lang bei - als seine Mitarbeit in der Zeitschrift prekär wurde, auch aus politischen Gründen, gab er es auf -, das einheitliche Kriterium aber besteht weder im Stoff noch im Denken seiner Zeit, sondern aus einem starken „Ich”. Das Lexikon ist hier Anlass, Stichwortgeber, Lieferant von Schauplätzen für intellektuelle Auftritte, und was dann kommt, sind grandiose Versuche, die Bestände des Wissens persönlich zu überformen, zuzuspitzen, sie in das Herz des Lesers treffen zu lassen - manchmal mit weniger Ernst, wie bei der Giraffe, manchmal mit großem Pathos, wie in den Exkursen wider die Deutschen und ihren Benito Mussolini oder in der Kritik an einer Avantgarde, der er vorwirft, längst den kleinbürgerlichen Klüngel und ästhetischen Idealismus zu reproduzieren, denen er eigentlich hätte entkommen wollen.
Etymologien, richtige und falsche, spielen eine große Rolle in diesem Lexikon, denn auch sie sind Stichwortgeber, Tippfehler, Damenschuhe, historische Gestalten, mythische Figuren, Zeitgenossen mit und ohne Bart. Wie nebenbei entsteht so eine Chronik, nein, eine historische Physiognomie der Jahrhundertmitte in Italien, einer Zeit, in der das Bürgertum schon fast verschwunden war und der entfaltete Kapitalismus sich noch nicht vollends durchgesetzt hatte. Und es entstehen freie, verblüffende, immer wieder schlagende Urteile über die Welt, in der wir leben: darüber, warum man den „Don Quijote” eigentlich nicht lesen kann (Besserwisserei), worin die Schwäche Marcel Prousts besteht (ein Chronist) oder warum der Schmerz kein künstlerisches Potential hat (mangelnde Tiefe). Und das alles ist klug und hat immer einen Grund.
THOMAS STEINFELD
ALBERTO SAVINIO: Mein privates Lexikon. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter. Aus dem Italienischen von Christine Wolter und Karin Fleischanderl. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005. 492 Seiten, 32 Euro.
Metaphysische Malerei auch dies: Alberto Savinios „Wiederkehr des Wunderkinds” (1930)
Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Eines der beglückendsten - und glücklichsten - Bücher der Literaturgeschichte" kommt in der Verkleidung eines Lexikons daher, jubelt ein vollkommen begeisterter Thomas Steinfeld. Hier sind Beiträge für die Architekturzeitung "Domus" versammelt, die Alberto Savinio, Bruder des berühmten Malers Giorgio Chirico, während der 40-er Jahre verfasst hat, und sie erweisen sich als "inspiriertes", in Literatur übertragenes "intellektuelles Herumschweifen", schwärmt der Rezensent. Er preist Savinios Wissen, seine Fantasie, sein Gespür für Dramaturgie und auch seine "Strenge", wodurch berückende "kleine Denkstücke" entstanden seien. Der Text zum Stichwort "Giraffe" etwa, die der entzückte Steinfeld zur Illustration seines überschwänglichen Lobes heranzieht, versammelt auf gerade mal zwei Seiten neben den Beobachtungen zum Zusammenhang von "Proportionen und natürlicher Komik", Betrachtungen zum Verhältnis von Körper und Geist. Savinios größtenteils alphabetisch geordneten Einträgen ergeben zusammen eine Chronik der Mitte des letzten Jahrhunderts in Italien, sie fällen "schlagende Urteile" unserer Lebenswelt und sie sind stets "klug", so Steinfeld hingerissen.

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