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Weihnachten 1943 singt ein kleines Mädchen, vier Jahre alt, Heilige Nacht für die Soldaten der Wehrmacht. In der Ferne detonieren Bomben. Es ist Ingrid Cavens erster Auftritt. Ein halbes Jahrhundert später - inzwischen hat sie in Fassbinders Filmen gespielt und als Sängerin die Pariser und New Yorker Bühnen erobert - gibt sie ein Konzert in der Zitadelle von Jerusalem. In ihrer Kindheit an der Saar von Krankheiten gezeichnet und fast erblindet, zeigt sie sich als Frau im Rampenlicht "mit der Kaltblütigkeit eines Toreros, der Konzentration eines buddhistischen Mönchs und der Vitalität einer…mehr

Produktbeschreibung
Weihnachten 1943 singt ein kleines Mädchen, vier Jahre alt, Heilige Nacht für die Soldaten der Wehrmacht. In der Ferne detonieren Bomben. Es ist Ingrid Cavens erster Auftritt. Ein halbes Jahrhundert später - inzwischen hat sie in Fassbinders Filmen gespielt und als Sängerin die Pariser und New Yorker Bühnen erobert - gibt sie ein Konzert in der Zitadelle von Jerusalem. In ihrer Kindheit an der Saar von Krankheiten gezeichnet und fast erblindet, zeigt sie sich als Frau im Rampenlicht "mit der Kaltblütigkeit eines Toreros, der Konzentration eines buddhistischen Mönchs und der Vitalität einer Animierdame aus dem Rotlichtmilieu." Sie ist die Heldin eines Romans, dessen Register vom Märchenton bis zum Comic strip, vom Dokumentarischen bis zur Feerie reicht. Bald lakonisch, bald ausschweifend, führt Jean-Jacques Schuhl ein Maskenspiel vor, dem es an schwarzem Humor nicht fehlt und in dessen Hintergrund ein Schrecken lauert, der nicht vergehen will. Neben Rainer Werner Fassbinder, mi t dem Ingrid Caven verheiratet war und der kurz vor seinem Tod ein rätselhaftes Manuskript über sie verfasst hat, treten viele andere auf, die ihren Lebensweg kreuzten: Yves Saint Laurent, ein "jüdischer Hugenotte" namens Charles, Produzenten, Selbstmörder, Süchtige, Stars und Verlierer ... Kann eine Frau deutscher sein als Ingrid Caven, die es im Nachkriegsdeutschland nicht ausgehalten hat und ihre Triumphe eher in Frankreich und in Amerika feierte als hier? Mit Schuhls Buch, das in Paris einen riesigen Überraschungserfolg erlebte, kehrt diese Abwesende mit ihrer Stimme, ihrem unverwechselbaren Ton zu uns zurück.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.10.2000

Verkokst
Ein Roman über Ingrid Caven
gewinnt den Prix Goncourt
Jean-Jacques Schuhl, früher hauptberuflich Zeitungleser, jetzt hauptberuflich Ehegatte, hat seine Zeit nicht verplempert. Er hat bloß die letzten zwanzig Jahre nichts geschrieben. Mit 31 veröffentlichte er seinen ersten Roman – „Rose poussière” –, der wie der zweite, vier Jahre später erschienene „Télex no 1” von den sechziger Jahren und ihren Berühmtheiten handelt. Berühmt wurden beide Bücher nicht, die Kritiker nahmen sie allenfalls wohlwollend zur Kenntnis. Danach kam lange Zeit nichts, was dem 1941 in Marseille geborenen Autor durchaus zu liegen scheint: „Keine Heirat, keine Kinder, fast kein Beruf. Nichts. Null. ” – gab er einmal als Biographie an.
Wenn schon nichts tun, dann am besten in New York, dachte sich Schuhl also, und offenbar konnte er davon ganz gut leben. Denn eine Deutsche war in sein Leben getreten, die verkörperte das Rätsel, das seine Seelenkompassnadel zum Tanzen brachte – eine Sängerin, ein Star, Ingrid Caven ihr Name, die Frau von Rainer Werner Fassbinder.
Als der deutsche Filmemacher starb, fand man neben ihm einen Zettel, auf den er die Stationen von Ingrid Cavens Leben gekritzelt hatte, samt der abschließenden Prognose: „Pleite in der Music Hall, Bruch mit Jean-Jacques. ” Das hat sich allerdings in zwei Jahrzehnten nicht bewahrheitet: Die Caven machte eine Riesenkarriere in der Music Hall, und sie ist immer noch mit Schuhl zusammen, dem rätselhaftesten und unbekanntesten der französischen Gegenwartsschriftsteller, der jetzt – kurz vor seinem 60.  Geburtstag – den Prix Goncourt für eine Biografie der Caven erhielt.
Es ist natürlich keine Biografie im klassischen Sinn – der Goncourt wird nur für Romane verliehen. Aber bei einem so romanhaften Leben braucht man nichts zu erfinden. Die meisten Figuren tragen ihre richtigen Namen (nur Schuhl heißt Charles). „Ingrid Caven, roman” (Editions Gallimard, 300 S. , 110 Franc) ist gleichwohl ein durch und durch literarisches Werk, Ergebnis einer raffinierten Stil- und Perspektivmontage, einer kinematografische Methode, die der Autor mehr liebt als bloßes Erzählen.
Trotzdem handelt es sich auch um erzählte Geschichte, aus der ein merkwürdiger Modergeruch aufsteigt. Szenen wie beispielsweise jene, in der sich Fassbinder und Caven aus Angst, entführt zu werden, vor den RAF-Terroristen verstecken (einmal rennt die Caven auf Stöckelschuhen weg, während ihr unbekannter Gegenüber schon die Betäubungsspritze aufzieht), atmen den Geist einer dekadenten Romantik, die einzig ein französischer Autor dieser Sache zuschreiben kann. Das Motto des Buchs – „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . .” – gibt die Tonart allzu deutlich vor.
Der Affekt der Ablehnung der unästhetischen Gegenwart gegenüber, den Schuhl mit so vielen Schriftstellern teilt, hat auch bei ihm die verzehrende Vorstellung erzeugt, die Menschen von Bühne und Leinwand würden auf höhere Ebene, mit größerer Intensität leben. In Wirklichkeit nehmen sie bloß mehr Koks. Jean-Jacques Schuhl kann sich immerhin sagen, dass er mit einer solchen Traumfrau lebt, und um dessen etwas gewisser zu sein, musste er sie mit diesem üppigen Text umfangen, der in seiner abgründigen Deutschtümelei hierzulande – wenn er einmal übersetzt werden sollte – sicher etwas komisch wirken wird.
Aber der Prix Goncourt ist eben durch und durch französisch. Dabei gab es dieses Jahr ausnahmsweise keinen Krach, keine Skandale oder Coups, sondern einfach vier Kandidaten, die verschiedener nicht sein konnten: Mit im Rennen waren gewesen der 73-jährige Schwarzafrikaner Ahmadou Kourouma, der die Geschichte eines zum Militärdienst gezwungenen Kindes erzählt, die belgische Diplomatentochter Amélie Nothomb, die mit 33 schon zwei Dutzend Romane verfasst hat, sowie das Ex-KP-Mitglied François Salvaing mit einem Schlüsselroman über seine Partei.
BURKHARD MÜLLER-ULLRICH
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2000

Niemand hat sie je gelesen
Alle werden sie lesen: Ingrid Caven wird zur umjubelten französischen Romanfigur

PARIS, im Oktober Als Rainer Werner Fassbinder starb, fand man neben seiner Leiche ein mit Kaffee- und Nikotinflecken beschmutztes Blatt Papier. Mit "gebrochener Schrift" hatte Fassbinder auf der Rückseite ein paar Stichworte zu Papier gebracht, numeriert von eins bis achtzehn - die letzten Aufzeichnungen des Sterbenden. Die einzelnen Punkte stehen für die Etappen einer Existenz, sie resümieren das Leben Ingrid Cavens. Sie hatte in seinen Filmen gespielt, mit ihr war er eine Zeitlang verheiratet gewesen.

Die Notizen sind der erste Entwurf für ein Szenario: "Geburt + Haß der Mutter + Ausbruch der Allergie." Unter Punkt vier werden das Studium und die Entscheidung für eine Analyse aufgeführt. "Liebe mit dem Psychiater", Ende der Liebe. Siebter Punkt: "Kurze Zeit allein, mit vielen Männergeschichten." Erste Schritte auf dem Theater. Es folgen: "Heirat, Schrecken der Ehe, Scheidung." Afrika, die Politik, der wegweisende Auftritt im Pariser Pigall's. Szene dreizehn: "Jean-Jacques Schuhl und einige schlechte Filme."

Tatsächlich lebt Ingrid Caven zum Zeitpunkt von Fassbinders Tod mit dem französischen Schriftsteller Jean-Jacques Schuhl zusammen, einer Ausnahmeerscheinung seiner Generation. Den Mai '68 erlebte er nicht auf den Barrikaden - von seinem Balkon aus beobachtete er die Straßenschlachten. Die Wohnung verließ er nur, um seinen Stammnachtklub aufzusuchen. 1972 veröffentlichte er den Roman "Rose Poussière", vier Jahre später "Télex no 1". Sie vermitteln das Lebensgefühl der siebziger Jahre. Danach - während der ganzen Zeit an der Seite von Fassbinders geschiedener Witwe - schrieb Schuhl nichts mehr. Erst ein Vierteljahrhundert später bricht er sein Schweigen: mit einem Buch über seine Lebensgefährtin. Sein Titel ist ihr Name - "Ingrid Caven". Der Autor nennt es einen Roman. Zu seinen Höhepunkten gehört die Schilderung von Fassbinders Begräbnis, das mit einem leeren Sarg inszeniert wird. Denn die Polizei hatte die Leiche noch nicht freigegeben.

Die Handlung beginnt mit einer Weihnachtsnacht im Kriegsjahr 1943. Auf einem Schlitten wird ein vierjähriges Mädchen zu den Soldaten gebracht. Mit wunderbarer Stimme singt es ihnen auf Wunsch des Vaters "Stille Nacht, Heilige Nacht". Die Flucht zurück erfolgte in einem Zug, der bei der Deportation zum Einsatz gelangt war. Es ist ein Chanson der Rita Mitsouko, das den unaufhaltbaren Fluß der Bilder aus dem Unterbewußtsein auslöst - "immer und immer wieder fuhr der Zug in meinem Erinnern".

Der französische Schriftsteller schreibt einen deutschen Lebenslauf durch den Nachkrieg. "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . ." hat Schuhl dem Roman als Motto vorangestellt und dazu ein Zitat aus Kleists Text über das Marionettentheater. Am Rande entsteht ein Porträt der frühen Bundesrepublik. Es folgen die Jahre des Protests und der bleiernen Zeit. Während einer Woche steckt jeden Tag ein Zettel unter dem Scheibenwischer von Fassbinders BMW: Ulrike Meinhof will ihn treffen. Die Aufforderungen werden immer drohender. Der Filmemacher hat Angst, er befürchtet eine Entführung. Ingrid Caven geht alleine hin: "Was wollt ihr von Rainer?" Der Verbindungsmann zückt eine Spritze. Auf ihren "etwas zu hohen Stöckelschuhen" rennt sie zum Auto. An diesem Abend schläft das Ehepaar nicht zu Hause, sondern in einem Münchner Hotel. Am nächsten Tag flüchten sie nach New York. Als 1977 eine im Flugplan nicht vorgesehene Lufthansa-Maschine in Mogadiscio landet, befindet sich Ingrid Caven bereits in Paris. Der Couturier Yves Saint-Laurent schneidert ihr ein Kleid mit der Schere hautnah auf den Körper. Die Schauspielerin und Sängerin hat ein neues Leben begonnen.

Es verläuft anders, als es der über die Scheidung und den Tod hinaus eifersüchtige Fassbinder entworfen hatte. Er sah für Ingrid ein schnelles Ende voraus, das seinem eigenen ähnlich sehen sollte: "Zeit der Einsamkeit, Sehnsucht nach Suizid, Drogen, Schnaps . . ., Pillen, Tod + ein Lächeln." Dieses Lächeln steht in Fassbinders Skizze für den Schluß. Schuhl, der unter Punkt dreizehn in ihrem Leben Einzug gehalten hatte, wurde an der nahtlosen Wende in die Projektion wieder ausgebootet: "Vierzehntes: Pleite in der Music Hall, Bruch mit Jean-Jacques."

Schuhl, Nachfolger ohne Eifersucht und Stellvertreter voller Hochachtung, hat seinen Roman, den er ohne Fassbinders Notizen wahrscheinlich nie geschrieben hätte, wie einen Film konzipiert. Einstellung um Einstellung entsteht das Mosaik eines Lebens. Der Verfasser, der für Ingrid Caven - die in diesen Tagen eine neue CD veröffentlicht - viele Liedertexte geschrieben hat, hält sich zurück, scheint stellenweise nachgerade zu verschwinden. Die Aufgabe des Testamentsvollstreckers von Fassbinder hat ihn nach fünfundzwanzig Jahren wieder zum Schreiben erweckt. Aus jeder Zeile spürt man sein Glück an der Seite Ingrids. Ihr Körper verzückt ihn so sehr, daß er Ingrid Caven in eine literarische Kunstfigur verzauberte.

Ingrid Caven empfindet den Roman nicht als Belastung. "Schuhl hat Rainer gekannt", erzählt sie, "aber es war schwierig. Rainer hat gespürt, daß das nicht eine kurzfristige Sache war, und Schuhl erkannte die Traurigkeit, die in Rainer steckte." Schuhl war offenbar sehr hartnäckig, "wenn er etwas wissen wollte. Manchmal fragte ich mich, ob er über mich schrieb oder einer Figur folgte, die ihn irgendwohin führte. Aber ich habe Vertrauen in die Schriftsteller und die Komponisten, mehr als in mich selbst. Ich wußte, daß das Buch weder voyeuristisch noch verräterisch werden würde . . . Wenn mich die Leute über meine Vergangenheit ausfragen, kann ich ihnen jetzt antworten: Lest das Buch, es sagt alles mit sehr viel weniger Lügen, als ich es tun könnte."

Der Roman erscheint bei Gallimard in der von Philippe Sollers betreuten Sammlung "L'Infini". Er kam umgehend auf die Listen für die Literaturpreise des Herbsts. Die Presse ist entzückt, die Kritiker schwärmen. Die Rückkehr Schuhls auf die Literaturszene, eine Ikone des Kulturbetriebs als Romanfigur und dazu ein Hauch von Deutschtümelei machen "Ingrid Caven, roman" zum Ereignis. "Libération" widmete dem Buch mehrere Seiten, "Le Monde" den Aufmacher seiner Buchbeilage. Mit seiner "geliebten Figur", schreibt Josyane Savigneau, läßt der Schriftsteller eine ungeliebte, eine "verachtete Epoche" auferstehen. Mit der historischen Dimension meint die Kritikerin auch die literarische Bedeutung des Werks. "Es brauchte einen Roman, um das Jahrhundert abzuschließen", lautet Savigneaus erster Satz, "oder genauer gesagt seine zweite Hälfte, diesen verzweifelten Versuch, nach dem Schrecken das Leben neu zu erfinden."

JÜRG ALTWEGG

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