Produktdetails
  • Verlag: Eichborn
  • Seitenzahl: 281
  • Abmessung: 28mm x 147mm x 220mm
  • Gewicht: 482g
  • ISBN-13: 9783821816036
  • ISBN-10: 3821816031
  • Artikelnr.: 24199384
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2002

Eine gewisse Angst vor Straßenbahnen
Israel ist das Ziel: Michael Moshe Checinskis Lebensbericht erweitert die Bibliothek des Holocaust

Welche Worte können das Grauen von Auschwitz vermitteln?" fragt Michael Moshe Checinski in seinem Lebensbericht "Die Uhr meines Vaters" und zögert nicht mit der Antwort: keine. "Jede Beschreibung entehrt das Leiden der Opfer"; es bleiben nur "Schweigen und grenzenloser Schmerz". Längst gibt es eine Vielzahl von Romanen, Erzählungen und Erinnerungen, die den alten Topos der Unsagbarkeit widerlegt haben, und glücklicherweise hat auch Checinski nicht ehrenvoll geschwiegen.

Größeren Respekt erweist er den Opfern, indem er ihre Qual überliefert und der Bibliothek des Holocaust einen beachtlichen Band hinzufügt. Das Besondere dieses Buches ist seine historische Spannweite. Es holt bis ins neunzehnte Jahrhundert aus, um die untergegangene Welt des ostjüdischen "Schtetl" zu schildern, und es endet nicht im Frühjahr des Jahres 1945, sondern erst ein Vierteljahrhundert später mit der Emigration nach Israel. Israel ist das Ziel dieser jüdischen Lebens- und Leidensgeschichte, die letztlich die Struktur eines historischen Bildungsromans hat.

Michael Moshe Checinski wurde 1924 in Lodz geboren, jener Stadt, in der das Zusammenleben von Polen, Deutschen und Juden eine gute Weile zu glücken schien. Aber nicht dort beginnt das Buch, sondern in der engen, lebensprallen Welt des Provinzstädtchens Przedborz, wo Checinskis Vorfahren seit Generationen Rabbiner waren. Hier gibt es Originale und Anekdoten, alte Traditionen bestimmen das Leben, dessen Armut und Elend von den Festtagen überglänzt wird. Noch der Vater und die Mutter kommen zueinander in einer arrangierten Hochzeit, die zugleich die schönste Liebesheirat ist. Der Umzug nach Lodz, damals die zweitgrößte Stadt Polens, verstößt die Mutter aus der Märchenwelt in die Moderne. Vor der Straßenbahn versteckt sie sich lange Zeit in Hauseingängen: Weiß man denn, in welche Richtung "die wilde Maschine" plötzlich losschießt?

Aber nicht die Straßenbahn stellt die eigentliche Bedrohung dar. Mit der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre verschärft sich der Antisemitismus. In regelmäßigen Abständen kommt es zu Übergriffen. Wie andere patriarchale Gestalten des Buches ist der Vater des Erzählers ein fast schon plakativ gütiger, verständiger und frommer Mann; von der Tugend hinnehmender Demut hält er trotzdem wenig. Er freut sich, als seine Söhne ihre Peiniger einmal kräftig verprügeln. Solche Wehrhaftigkeit wird von der herbeigerufenen Polizei allerdings nicht gern gesehen: "Du dummer Judenbankert, weißt du nicht, daß ihr, wenn ein Pole euch Juden angreift, auf die andere Straßenseite laufen und Aj wej, Polizei, aj wej! rufen sollt?"

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wechselt mancher deutsche oder polnische Nachbar sein Gesicht. Aus trinkfesten Gemütsmenschen werden Peiniger und Denunzianten. Anfang 1940 wird das Lodzer Getto eingerichtet. Checinski schildert den Hunger, die sadistischen Ausschreitungen und Morde, aber auch den Widerstand. Er selbst gehörte einer konspirativen Gruppe an, die Sabotageakte organisierte und sich heimlich zur Lektüre sozialistischer Theorien traf. Der Gedanke, daß Hitler das letzte monströse Produkt des absterbenden kapitalistischen Systems sei und eine humane Welt in naher Aussicht stehe, schafft Überlebensmut. Der kommunistische Untergrund in Polen will mit den jüdischen Widerständlern allerdings nichts zu tun haben.

Im Sommer 1944 wird das Getto aufgelöst; es folgt der Transport nach Auschwitz-Birkenau. Die Schilderung des Vernichtungslagers ist ein schwieriges Unterfangen, weil herausragende Darstellungen bereits Maßstäbe gesetzt haben, die kaum zu überbieten oder auch nur zu erreichen sind. Die Rampe, die Selektionen, die prügelnden Wächter, der süßliche, verbrannte Geruch in der Luft, der Feuerschein der Krematorien, die Elendsgestalten der "Muselmänner" - das ist gräßlich, aber es gehört bereits zum konventionellen Fundus der Lagerliteratur. Checinski schildert indes weniger die bekannten Abläufe des Massenmords als in schockierenden Bildern die Erniedrigungen und Todesschicksale einzelner, etwa das des jungen Franzosen Marcel, der vom Kapo in der Latrinengrube ersäuft wird, weil er seinen Durchfall nicht beherrschen kann - er hatte sich nachts, halb verrückt vor Hunger, mit verfaulten, chloroformierten Küchenabfällen den Magen vollgestopft.

Als einziger seiner Familie überlebt Checinski. Er wird ins KZ Gleiwitz verlegt; als man die Gefangenen auf den Todesmarsch schickt, gelingt ihm die Flucht. Bei der Darstellung der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswirren ändert das Buch die Stillage; es entwickelt nun geradezu simplizianische Züge. Noch ist die Rote Armee fern, der sich der Überlebende im Kampf gegen die Deutschen und für den Kommunismus anschließen möchte, als er wieder ein bißchen zu Kräften gekommen ist. Im schlesischen Örtchen Schnellewalde taucht er für eine Weile unter. Er arbeitet für eine polnische Bäuerin, deren deutscher Mann an der Front ist. Sie hat sich über die landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit des neuen "polnischen Knechts" einigermaßen zu wundern.

Als die Befreier endlich eintreffen, ist die Enttäuschung groß. Die geflohenen Deutschen haben viel Wodka zurückgelassen, der die russischen Soldaten zunächst kampflos außer Gefecht setzt. Auch später, als Checinski nach einer militärischen Schnellausbildung die letzten Gefechte in den Reihen der Roten Armee mitmacht und mit ihr in Österreich einzieht, verstört ihn das Saufen und Vergewaltigen. So hat er sich die bessere Welt nicht vorgestellt. Weil er nicht mittun will und auch seine Siegerchancen bei den Frauen nicht ausnutzt, wird er als "Naivling" und "Waschlappen" verspottet.

Auch muß er erkennen, daß zwar Deutschland, nicht aber der Antisemitismus besiegt ist. Beim Exhumieren jüdischer Leichen aus Massengräbern, auf die man unterwegs stößt, werden hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand schon wieder die üblichen Scherze gemacht. Aber noch ist Checinskis Idealismus nicht verbraucht. Er kehrt zurück nach Polen, um an der Zukunftsgesellschaft mitzubauen. Es dauert noch Jahre, bis er seinen Abschied vom Sozialismus nimmt und sich zu den Einsichten seines frommen Vaters bekehrt, der schon auf den ersten Seiten des Buches wußte, daß schöne Ideen gefährlich werden, "sobald die Menschheit sich ihrer bemächtigt". Nach neuen antisemitischen Ausbrüchen emigriert Checinski 1969 nach Israel. Es ist die Heimkehr ins Judentum.

Der Autor ist kein Berufsschriftsteller; er hat bis 1996 als Professor für Militärwirtschaft gelehrt. Man könnte seinem Buch die eine oder andere handwerkliche Schwäche vorwerfen. In den ersten Kapiteln wird die Erzählstimme unbekümmert um konsequente Perspektivik an den ermordeten Vater abgegeben, der als leitende Autorität auch später immer wieder formelhaft angerufen wird. Mittendrin gibt es Briefe an die tote Mutter und die tote Jugendfreundin. Mag sein, daß der Leser, der nicht Gefühlsausbrüche, sondern Schilderung erwartet, hier etwas gelangweilt weiterblättert. Aber es handelt sich gewissermaßen um Inseln der Betroffenheit und Trauer, die den Ton des Lebensberichts von zuviel Pathos freihalten. "Die Uhr meines Vater" ist in einem schlichten, oft lakonischen Ton verfaßt, der von Gefühlen nicht spricht, sondern sie beim Leser erzeugt. Das ist die unauffällige Erzählkunst dieses erfahrungsgesättigten Buches.

Michael Moshe Checinski: "Die Uhr meines Vaters". Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001. 282 S., geb., 21,90 .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Thomas Fitzel zeigt sich durchaus erschüttert von diesem Buch, das die Erlebnisse des polnischen Autors im Ghetto von Lodz und in Auschwitz schildert, doch sieht er sich besonders von den "Leerstellen" im Text berührt, wo die Sprache versagt. Er betont, dass der Autor im ersten Teil, der die Familiengeschichte in Polen erzählt, keinerlei "Schtetl-Romantik" aufkommen lässt und findet es besonders "interessant", was Checinski über den "sehr umstrittenen" Judenrat-Vorsitzenden von Lodz Chaim Rumkowski zu berichten hat. Allerdings bedauert es unser Rezensent, dass das Buch viele Fragen nicht beantwortet, und er hätte sich "mehr Auskunft" besonders über das "Zusammenleben mit den Deutschen" gewünscht.

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