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Eine Epidemie versetzt die Einwohner einer Kleinstadt in Panik: Menschen verbluten innerhalb kürzester Zeit. Gleichzeitig werden Tauben aggressiv, attackieren einander und verbluten ebenfalls. Jede Ordnung scheint außer Kraft gesetzt. Immer mehr Menschen werden vom Strudel vollkommener moralischer Verwahrlosung mitgerissen. Die Polizei gleicht den kriminellen, die sie verfolgen soll, aufs Haar. In dieser Situation wird Molnar beauftragt, den Mann zu finden, der die Epidemie offenbar bewusst ausgelöst hat... In Tars Parabel gibt es keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Jäger und Gejagte…mehr

Produktbeschreibung
Eine Epidemie versetzt die Einwohner einer Kleinstadt in Panik: Menschen verbluten innerhalb kürzester Zeit. Gleichzeitig werden Tauben aggressiv, attackieren einander und verbluten ebenfalls. Jede Ordnung scheint außer Kraft gesetzt. Immer mehr Menschen werden vom Strudel vollkommener moralischer Verwahrlosung mitgerissen. Die Polizei gleicht den kriminellen, die sie verfolgen soll, aufs Haar. In dieser Situation wird Molnar beauftragt, den Mann zu finden, der die Epidemie offenbar bewusst ausgelöst hat... In Tars Parabel gibt es keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Jäger und Gejagte wechseln je nach Situation, es entsteht eine Intensität, die ins schier Unerträgliche wächst. Passagen voll schwarzen Humors und morbider Ironie kontrastieren mit rasanten Verfolgungsszenen. Sandor Tar stellt mit diesem Buch ein überragendes literarisches Können unter Beweis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Ein Pferd sieht schwarz
Chaos in der Unterwelt: Sándor Tar erzählt vom Verbrechen / Von Joachim Kalka

Ich glaube, es kommen schlimme Zeiten auf uns zu . . . Vielleicht habe ich sogar Angst", sagt jemand in Sándor Tars "Roman über das Verbrechen". Der Kriminalroman dient seit jeher dazu, die Angst zu bannen, indem er Instanzen schildert, die sich ihr entgegenzustellen wissen: den allwissenden Detektiv, den schlecht und recht und immerhin funktionierenden Polizeiapparat, in extremis den unbestechlichen und einsamen Rächer. Wird jedoch die Form des Kriminalromans von der "richtigen" Literatur aufgegriffen und umgestülpt, dann zeigt sich in der Regel, dass der zu lösende Fall prinzipiell unlösbar ist und alles im Furor des Details und der Kontingenz verschwindet (klassische Demonstrationen, mit jeweils ganz verschiedenen Mitteln: Gaddas "Grässliche Bescherung in der Via Merulana" von 1957 und Lems "Der Schnupfen" von 1977). Und dann kann die Angst erst richtig beginnen, das Unbegreifliche und Unerlegbare rückt vor. Es ist "etwas passiert", und dieses Mal weiss keiner mehr Rat.

Sándor Tars glänzend geschriebener Roman aus dem Jahre 1996, eine Art ironisch-postkommunistischer Doktor-Mabuse-Mythos, schildert eine ungarische Stadt der Gegenwart, der Zeit nach der Wende - die soziale Situation ist mit wenigen, aber präzisen Stichen fixiert: "An der Wand hinter dem Schreibtisch" (des Leitenden Hauptkommissars) "hing einst in einem vergoldeten Rahmen das colorierte Porträt Felix Dzerdschinskys, gegenwärtig wies nur ein helles Quadrat auf der schmutzigen Wand darauf hin, dass sich die Zeiten geändert hatten". Fern-nahe, unzuverlässige Echos hallen gelegentlich auf: "Erik hatte ihm versichert, dass alle seine Papiere während der grossen Verbrennungsaktion nach der Wende vernichtet worden waren."

Durch diese Stadt rast mit einem Male ein Sturm des Todes, der Gewalt und der Verwirrung. Ist das, bei aller Detailfreudigkeit des Lokalkolorits, das diesen Albtraum-Halbschlaf färbt, nur eine Diagnose für den Osten Europas? "Diese Stadt ist wahnsinnig geworden" - doch könnte es nicht jeder Stadt geschehen, dass die Tauben (dieses urbane Ungeziefer, das unbegreiflicherweise gerade den Frieden symbolisieren soll) den Tod bringen, dass die Rezepturen eines wahnsinnigen Pharmazeuten die Leute niedermähen, dass das Gefährlichste auf der Welt der Hausmeister ist?

Dieses Zwischenreich, das durch Tars sichere Milieuschilderungen, Wohnküchenvignetten und Behördenalltagsbildchen vor dem Wegrutschen in ein etwas abstrakt Absurdes bewahrt wird, ist gleichzeitig ein böses Märchen und eine beunruhigend realistische Schilderung. Es ist eine Welt, in der vielgeplagte Spießer dem lockenden Sog der Kleinanzeige "Haben Sie genug? Rufen Sie mich an!" nicht widerstehen können. Während sich die Notfallaufnahme mit den blutüberströmten Opfern einer rätselhaften Krankheit füllt, geschehen Morde, deren Urheber die Epidemie als einen willkommenen Rauchvorhang vor den eigenen Abrechnungen gebrauchen. Das Lokalradio ("East-West") wird von Denunziationen überrollt und wirft sich mit Lust in die Gerüchteschlacht. Das Chaos ist allgemein, aber auch von süffisanter Spezifik: Als die Unterwelt, die - à la "M" - durch die Razzien verrückt wird, dem Polizeipräsidenten einen Deal anbietet, trägt der eingereichte Zettel die Unterschrift der Gruppe "Freie Unternehmer".

Früher Felix Dserzinski, heute nichts - das ist die sardonische Diagnose, die Sándor Tar der öffentlichen Ordnung des Postkommunismus stellt. Aber am Ort dieses Nichts brodelt es unaufhörlich, es füllt sich mit geheimnisvollen und drohenden Figuren wie aus einem naiven und doch hochkomplizierten Reißer: "Der Taubenmann, der Vetter, die Hasenscharte . . ." Die polizeiliche Ermittlung vollzieht sich in Form eines brutalen Slapstick-Films, und der Inszenator des Massenmords arbeitet mit Maria Trebens Handbuch "Gesundheit aus Gottes Apotheke". Die vielen Linien, die stocken und ausweichen und rückwärts und wieder voran laufen, ergeben schließlich eine Kippfigur, auf der das Gesicht der Polizei ebenso bedrohlich erscheint wie das Gesicht des Verbrechens.

Doch geht es um mehr als die schlichte Undurchdringlichkeit und Gemeinheit gesellschaftlicher Existenz - ansonsten wäre die Synopsis einer Figur ausreichend: "Das ist doch ein Scheissleben, fasste er die Ereignisse zusammen." Das Scheissleben in dieser Stadt wird aber mit all seinen fantastischen Zügen fast wie ein Laborexperiment vorgeführt. Die bizarren Ereignisse können etwas zu bedeuten haben: "In der Welt des Verbrechens ist alles symbolisch", heisst es einmal knapp. Dem Leser, der systematisch hin- und hergezerrt wird zwischen dem Unglaublichen und dem nur allzu Glaubhaften, geht auf, dass er eine Art Wechsel des gesellschaftlichen Aggregatzustandes vorgeführt bekommt: die endgültige Überlastung der Maschinerie, das Erreichen der kritischen Masse des ansonsten bloß alltäglichen Wahnsinns.

Das ist oft von einer grotesken Komik. Von dem im Jahr 1941 geborenen Autor, der nach technischen Berufen erst seit 1990 als Schriftsteller tätig ist und in Ungarn großen und offensichtlich verdienten Erfolg hat, ist übrigens auf deutsch jetzt gleichzeitig auch der Roman "Ein Bier für mein Pferd" aus dem Jahre 1995 erschienen. Die Übersetzung beider Bücher scheint - so weit ein des Ungarischen unkundiger Rezensent dies vermuten kann - ausgezeichnet.

Das Buch "Ein Bier für mein Pferd" ist die kunstvoll in einer Reihe sich wechselseitig beleuchtender Personenvignetten erzählte Chronik einer in größte Armut versunkenen Dorfstraße der Gegenwart, die nur noch ein paar Meter weit weg liegt von totaler Verzweiflung, auch dies gelegentlich sehr komisch wiedergegeben, mit der lakonischen Komik eines abgehärteten Milieus, in dem es kaum mehr etwas zu verlieren gibt. Der Verlag allerdings schrickt im Klappentext nicht vor dem törichten Klischee vom "unverwüstlichen Humor" zurück - eine der peinlichsten Phrasen der deutschen Sprache und in dieser Dörflichkeit ganz besonders fehl am Platze. Denn hier wird eine Verwüstung des Provinzlebens geschildert, von der man sagen könnte: sie ist so gründlich, dass sie fast schon komisch wirkt. Das Buch "Die graue Taube" führt eine solche Komik in die Stadt und damit tiefer ins Bedrohliche, in die pathologische Abteilung und in den Keller des Polizeipräsidiums und vermählt sie mit der stockenden Rätsellogik des postmodernen Detektivromans.

Die Zeitschrift "Beszélo" hatte offenbar vor einigen Jahren verschiedene Schriftsteller aufgefordert, jeweils das erste Kapitel eines Kriminalromans zu schreiben. Tars erstes Kapitel war so suggestiv, dass man ihn bat, weiter zu machen. Dieser tückische und spannende Roman, der zurückgrüßt zu Mihály Babits' "Kartenhaus" (1923), zeigt uns, wie sich der Untergang einer Stadt anbahnen will. (Er deutet sich an Orten an wie der durch Schnee-matschverschmierten Piste, die man vom Fenster der verschlafenen Kneipe "Die Lachsalve" aus überblicken kann, oder wie dem obersten Hochhausstockwerk mit dem Amateurteleskop.) Und was rettet die Stadt vor der Apokalypse? Das Ingenium, der Spürsinn einiger subalterner oder suspendierter Polizeibeamter. Tars Roman lehrt insofern, was schon Gaddas hier doch irgendwie zuständiger Dottore Ingravallo gefordert hat: "Dass es not täte, in uns den Sinn für die Ursachen zu erneuern."

Aber woher kommt jenes Ingenium? Nun, es ist natürlich das des Autors, der sich erbarmungsvoll über seine Romanödnis beugt und doch noch ein wenig Ordnung schafft, nicht ohne eine gewisse Hoffnung fantasierende Sentimentalität, von der wir uns gerne sagen wollten, dass auch sie realistisch ist. So realistisch wie der Gedanke, dass wir folglich in der Literatur die rettende und ordnende Kraft suchen dürfen? "Manchmal sind die einfachsten Dinge die wirkungsvollsten."

Sándor Tar: "Die graue Taube". Roman über das Verbrechen. Aus dem Ungarischen übersetzt von Krisztina Koenen. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 305 S., geb., 39,80 DM.

Sándor Tar: "Ein Bier für mein Pferd". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Verlag Volk & Welt, Berlin 1999. 129 S., geb., 32,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ilma Rakusa bespricht die beiden neuen Romane von Sandor Tar  - "Ein Bier für mein Pferd" und "Die graue Taube" - zusammen. "Ein Bier für mein Pferd" hält sie für eine meisterliche Erzählung: "Ob atmosphärische Schilderung oder Figurenporträt, lakonisch werden Details zu lebensvollen Bildern schön-schauriger Tristesse addiert." Rakusa ist offensichtlich gefesselt von Tars Griff in die existenziellen Niederungen eines Dorfes im tiefsten Ostungarn und dem "elenden Getue" seiner Bewohner. Im dem Roman "Die graue Taube" vermisst Rakusa allerdings diese "herbe Poesie". Zwar findet sie auch hier Aberwitz und Brutalität, aber Tar für diese Erzählung bei ihr Wohlwollen: "Ihr Apocalypse-Now-Gehabe verschleiert, dass die wirklich wichtigen Dinge eher unspektakulär sind", schreibt die Rezensentin.

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