Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 1,29 €
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Lena hat es gründlich satt: Die zornigen Worte von Mama, das sture Schweigen von Papa, die schlaflosen Nächte, in denen sie dem Streit ihrer Eltern lauscht.

Produktbeschreibung
Lena hat es gründlich satt: Die zornigen Worte von Mama, das sture Schweigen von Papa, die schlaflosen Nächte, in denen sie dem Streit ihrer Eltern lauscht.
Autorenporträt
Marine Ludin wuchs in Südfrankreich auf und studierte Illustration an der Kunsthochschule von Nancy und an der FH Hamburg. Heute lebt und arbeitet sie in Heidelberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008

Die große Depression bei uns zu Hause
Do van Ranst setzt den Vater vor die Tür / Von Elena Geus

Neuerdings erschrickt Lena vor der Stimme ihres Vaters. Zu lange schon ist er nicht mehr hör- und auch kaum noch sichtbar. Seine berufsbedingte Reglosigkeit als Naturfotograf hat er längst zu Hause kultiviert, ein Leisetreter ist er geworden. Zu hören ist nur noch Mama: Sie brüllt gegen seine Mauer aus Schweigen und Depression an, abends, wenn Lena und ihr kleiner Bruder Stef im Bett sind. Schlafend, wie ihre Eltern glauben. Wie alle Eltern glauben oder hoffen. Aber natürlich träumt kein Kind während elterlicher Streitereien süß, auch dann nicht, wenn diese nachts und hinter verschlossenen Türen in größter Heimlichkeit stattfinden. Es ist die notgedrungen stimmgewaltige Mutter, die den einen, den entscheidenden Satz ausspricht, ihn beim Frühstück geradezu ausspuckt: "Morgen ist er weg." So als säße dieser - jetzt schon namenlose - "Er" längst nicht mehr mit am Tisch.

Von Scheidungen betroffen sind in Deutschland jedes Jahr rund 90 000 minderjährige Kinder, die Zahl der Kinder aus Trennungen nichtehelicher Gemeinschaften, wie es im Amtsdeutsch heißt, nicht eingerechnet - ein gesellschaftliches Alltagsphänomen also, von dem der Jugendliteraturpreisträger Do van Ranst erzählt. Jeder einzelne Fall ist aber eben nicht nur Teil einer Statistik, sondern eine sehr persönliche, tragische Geschichte von Menschen, die einmal eine Familie waren - und die beste Absicht hatten, dies auch zu bleiben.

Was sich in Lenas Zuhause abspielt, ist kein unvorhergesehenes Drama, es ereignet sich auch kein Schicksalsschlag, es ist nichts anderes als traurige Normalität. Die Verschiedenartigkeit der Charaktere und die unterschiedlichen Lebensvorstellungen taugen, auch nach eingehender Prüfung, nicht länger für ein Miteinander, die Liebe hat sich im Alltag verflüchtigt. Ein Vater auf dem Papier sei er nur noch, hört Lena ihre Mama vorwurfsvoll keifen. In den Vorstellungen des Mädchens ist so ein Papierpapa etwas sehr praktisches: Er lässt sich zurechtbasteln, wie man ihn haben mag, durch Aufkleben festhalten und zur besseren Präsenz im Kinderzimmer an die Wand hängen.

Verspielt und tiefsinnig zugleich sind van Ransts Einfälle, das Verschmitzte nimmt dem Thema die bedrückende Schwere, aber nichts von seiner Tiefe. Mit Worten geht van Ranst sparsam um, aber dem kindlichen Chaos an Trauer, an Angst, an Schmerz und auch an Wut, viel zu lange im Ungewissen gelassen worden zu sein, gibt er mit Bedacht eine Stimme: klug, klar und empfindsam.

Perfekt ergänzt und weitergesponnen werden van Ransts Ideen von Marine Ludin, der es gelingt, in ihren Illustrationen den besonderen Details der Geschichte nicht nur Gestalt, sondern auch Gefühl zu geben und sie in vielsagende Symbolik umzusetzen, etwa wenn die rätselhaften Erwachsenenworte dem Mädchen buchstäblich durch den Kopf gehen. Oder Sätze in einen See von Buchstaben zerpflückt sind, die wirr und bindungslos am Boden herumliegen, so durcheinander und verloren, wie jedes Kind sich fühlt, wenn das gewohnte Familiengefüge, wie gut oder wie schlecht es auch gewesen sein mag, auseinanderbröselt.

Am letzten Tag zu viert wird längst Verschüttetes hervorgeholt: Mit Stef kickt Papa im Garten, sogar besser als erwartet; mit Lenas Stofftierrunde trinkt er Tee und muss den Zorn und die Tränen seiner Tochter aushalten. Morgen ist Papa zwar weg, aber von diesem Tag an wollen sie wieder mehr für den anderen da sein, versprechen sie einander. Danach schweigen sie. Und mit dieser Stille, die endlich einmal nicht bedrückend ist, in seliger Übereinkunft also zwischen Vater und Tochter könnte die Erzählung enden, doch in die allzu naheliegende Klischeefalle, es werde schon alles gut, tappt van Ranst nicht. Er bleibt bei seiner mitunter beklemmenden Ehrlichkeit - für ein Buch, das im sonst eher dem Kitsch verpflichteten Coppenrath Verlag erschienen ist, fast ein kleines Wunder. Die Hoffnung, dieses Ende biete die Chance zu einem besseren Neuanfang, nährt van Ranst - eine banale Weisheit und zudem ein oft trügerischer Glaube - denn auch nur zögerlich. Was die Versprechen wert sind, muss sich erst zeigen. "Wir werden sehen", will Lena abwarten. Sie wird bestimmt sehr aufmerksam hinschauen. Zurechtbasteln wird sie sich die Familie sicher nicht mehr.

Do van Ranst: "Morgen ist er weg". Aus dem Niederländischen übersetzt von Andrea Kluitmann. Mit Illustrationen von Marine Ludin. Coppenrath Verlag, Münster 2008. 63 S., geb., 9,95 [Euro]. Ab 7 J.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr