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Jacques Le Goff, der international berühmteste Mittelalter-Experte, kehrt am Ende seines Lebens zu den grundlegenden Fragen seiner Zunft zurück. Warum teilen wir Geschichte überhaupt in Epochen ein? Ist die Renaissance für uns moderne Menschen tatsächlich die Geburtsstunde für das helle, leuchtende Denken, oder muss man, dank des neuen Wissens über die Errungenschaften des Mittelalters, nicht vielmehr beide Geschichtsabschnitte im Zusammenhang sehen? Le Goff zeigt uns nicht nur die Instrumente der Epocheneinteilung, er überprüft mit ihrer Hilfe auch die verschiedenen geistigen, technischen und…mehr

Produktbeschreibung
Jacques Le Goff, der international berühmteste Mittelalter-Experte, kehrt am Ende seines Lebens zu den grundlegenden Fragen seiner Zunft zurück. Warum teilen wir Geschichte überhaupt in Epochen ein? Ist die Renaissance für uns moderne Menschen tatsächlich die Geburtsstunde für das helle, leuchtende Denken, oder muss man, dank des neuen Wissens über die Errungenschaften des Mittelalters, nicht vielmehr beide Geschichtsabschnitte im Zusammenhang sehen? Le Goff zeigt uns nicht nur die Instrumente der Epocheneinteilung, er überprüft mit ihrer Hilfe auch die verschiedenen geistigen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen bis zur Französischen Revolution. Damit kehren wir aber zugleich zu den Fragen zurück, was unsere eigenen Maßstäbe für historischen Fortschritt und Veränderung sind. Ein grundlegender Beitrag zur Geschichte und zur Geschichtsdarstellung ist ihm damit gelungen.
Autorenporträt
Jacques Le Goff war bis zu seinem Tod 2014 der weltweit bekannteste Mittelalterexperte. In Frankreich leitete er die Pariser Reformuniversität EHESS, war Mitherausgeber der "Annales" und gab zu, eine Schwäche für Krimis und Kreuworträtsel zu besitzen. Er war der erste Historiker, der für sein innovatives Denken mit der "Goldmedaille des CNRS", der größten europäischen Forschungseinrichtung ausgezeichnet wurde,
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2016

Nur nicht die Renaissance überschätzen
Jacques Le Goffs letztes Buch behandelt noch einmal die These vom langen Mittelalter

Der Kirchenvater Augustinus unterschied in seinem Werk "De civitate Dei" eine Reihe von Weltaltern seit dem Fall Adams; das sechste von ihnen datiere von Christi Geburt, dauere bis zum Ende der Zeiten und sei mit dem Greisenalter im menschlichen Lebenszyklus zu parallelisieren. Die Theorie vom Altern der Welt soll nach dem vor zwei Jahren verstorbenen französischen Historiker Jacques Le Goff seit Beginn des Mittelalters bis ins achtzehnte Jahrhundert verhindert haben, dass die Idee des Fortschritts entstehen konnte. Erst Mirabeau habe 1757 das Wort "progrès" verwendet und vom "Voranschreiten der Zivilisation zu einem blühenden Zustand" gesprochen. Nicht Humanismus, Renaissance und Reformation, sondern erst die Überwindung eines pessimistischen Endzeitgefühls, das auch von der Vierreichelehre des alttestamentlichen Buches Daniel gestützt wurde, habe dem Mittelalter seinen Abschluss gebracht.

Le Goff setzt sich für die Begründung seiner Ansicht mit der Tradition der europäischen und zumal der französischen Geistesgeschichte auseinander. Petrarca (1304 bis 1374) habe zum ersten Mal von der Media Ætas gesprochen und die zu seiner Zeit zurückliegenden Jahrhunderte als Epoche der Finsternis gegenüber der schönen Antike und der erhofften Zukunft geistiger, moralischer und ästhetischer Neuerung abgewertet. Der päpstliche Bibliothekar und Humanist Andrea Bussi (1417 bis 1475) verwandte den Ausdruck "Mittelalter" zur chronologischen Periodisierung; Montaigne benutzte 1580 den Kontrastbegriff Antike für das griechische und römische Altertum (nicht für das christianisierte Imperium Romanum); nachdem auch der Schweizer Gelehrte Vadian vom ,Mittelalter' gesprochen hatte (1518) , schlug der deutsche Lutheraner Cellarius in seiner "Historia Universalis" die Periode von Kaiser Konstantin im frühen 4. Jahrhundert bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 dem Mittelalter zu.

Trotz dieser frühen intellektuellen Absetzbewegungen von den "dark ages", wie die Engländer seit dem siebzehnten Jahrhundert sagten, schlug das Mittelalter nach Le Goffs Formulierung erst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in eine andere Epoche um. Die Reformation habe nämlich im westlichen Europa nichts an der christlichen Weltauffassung und Lebensgestaltung geändert. Der "mehr oder weniger religionslose Rationalismus" habe sich erst mit Thomas Hobbes (1588 bis 1679) und John Locke (1632 bis 1704), vor allem aber mit dem "Historischen und kritischen Wörterbuch" (1697) durchgesetzt, dessen Autor Pierre Bayle als Professor in Rotterdam die Gewissens- und Publikationsfreiheit der niederländischen Vereinigten Provinzen genoss (F.A.Z. vom 12. August). Das entscheidende Datum für den Anbruch einer neuen Periode, die das Mittelalter ablöste, sei aber die "Enzyklopädie" als "Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke" gewesen, die seit 1751 erschien und "den Vorrang von Vernunft und Wissenschaft gegenüber dem christliche Dogma erklärte".

Jacques Le Goffs These vom "langen Mittelalter", das von der Spätantike (drittes bis siebentes Jahrhundert) bis etwa 1750 dauerte, ist nicht neu; er hatte sie schon vor mehr als zehn Jahren vorgetragen und stand dabei in der Tradition anderer französischer Historiker. Bestechend wie in allen seinen Werken ist auch hier die Breite der einbezogenen Lebenswirklichkeiten, angefangen von den agrartechnologischen Innovationen und der Entstehung des modernen Staates bis hin zur Musik, für die Mozart eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird.

Teilweise lassen sich lang dauernde Prozesse mit eruptiven Umbrüchen synchronisieren. Die schönsten Beispiele für Kontinuität und Wandel verdankt Le Goff seinem Lehrer Fernand Braudel. Nachdem Branntwein vor allem in mittelalterlichen Männerklöstern hergestellt und als Medikament gebraucht worden war, wurde er erst im sechzehnten Jahrhundert auch zum "Getränk für gesellige Anlässe". Diese Zeit habe also den hochprozentigen Alkohol "sozusagen geschaffen" (F. Braudel), doch erreichte der Konsum nicht vor dem achtzehnten Jahrhundert, dem Anbruch der Moderne, seinen Höhepunkt. Dagegen sprach Braudel für die Zeit von 1750 bis 1850 von einer "Weißbrotrevolution". An die Stelle des gebräuchlichen Getreidebreis und des bäuerlichen Schwarzbrots rückte damals der Weizen, und mit den napoleonischen Armeen trat das Weißbrot seinen Siegeszug in Europa an.

Durch Eliminierung der Renaissance und der Frühen Neuzeit macht Jacques Le Goff das Mittelalter zum unmittelbaren Nachbarn der Moderne. Er akzentuiert damit unausgesprochen die längst erzielte Einsicht, dass die - westliche - Moderne stets das Mittelalter als Kontrastfolie benötigt, um sich historisch ins Recht zu setzen. Als Le Goff seine These mit diesem im Original 2014, im Jahr seines Ablebens, erschienenen Buch erneut zum Gegenstand machte, ließ er sich von keiner Diskussion unter Historikern leiten. Diese wird weniger von der Frage historischer Epochen umgetrieben, die in der säkularisierten Variante jüdisch-christlichen Endzeitdenkens auf die eine westliche Moderne zulaufen, als von der Ordnung mehrerer Modernen, die als eigenständige Erscheinungen auch für Indien, China oder Afrika angesetzt werden. So fragen Indologen etwa, ob statt vom europäischen nicht besser vom eurasischen Mittelalter die Rede sein sollte. Tatsächlich war sich Le Goff bewusst, dass die Globalisierung der Historiographie ganz neue Fragen stellt. Aber er selbst konnte mit ihnen noch nicht umgehen. Welchen Platz das europäische Mittelalter in einer Globalgeschichte vor den Modernen einnehmen wird, bleibt vorerst eine offene Frage.

MICHAEL BORGOLTE

Jacques Le Goff: "Geschichte ohne Epochen?" Ein Essay.

Aus dem Französischen von Klaus Jöken. Philipp von Zabern Verlag/WBG, Darmstadt 2016. 188 S., geb. 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Michael Borgolte folgt Jacques LeGoffs Geschichte in Epochen mit großem Interessen, auch wenn der Platz des europäischen Mittelalters in einer Globalgeschichte, wie ihn der Autor hier anvisiert, laut Borgolte erst noch zu bestimmen wäre. LeGoffs These vom "langen Mittelalter" von der Spätantike bis ca. 1750 scheint dem Rezensenten zwar nicht neu, doch die Breite der hier mit einbezogenen Lebenswirklichkeiten (Musik, Argartechnik, Staatswesen) findet er bestechend. Kontinuität und Wandel zwischen den Epochen wird für Borgolte so sichtbar und das Mittelalter erscheint ihm als Nachbar der Moderne.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Le Goffs Verdienst ist es, die Subjektivität und Wandelbarkeit historischer Epocheneinteilungen herausgestellt zu haben.« Zeitschrift für Historische Forschung »Anregend und außerordentlich lesbar« Times Higher Education »ein lesenswertes, anregendes und erfrischendes Buch [ist] entstanden: ein wissenschaftliches Vermächtnis« HSozKult »hochinformativ und anregend« New York Review of Books »...für jeden historisch interessierten Leser [...] ein[e] spannend[e], erhellend[e] und anregend[e] Lektüre. Ein würdiges Vermächtnis.« schubladenfrei.com